Arno Schmidt hat den Leviathan unterschätzt: Kein finsterer kosmischer Zermalmer – ein träger Gnom, dem alles gleichgültig ist. Was lässt sich dem thermodynamischen Alptraum, dem Tod des Universums durch Langeweile, entgegensetzen?
S → ∞

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Lena und Louisa begegnen dem Leviathan

 

 

L&L schliefen kaum. Warme und kühle Luftzüge glitten lautlos, unsichtbaren Schlangen gleich, durch den Abgrund; manche Steine waren warm wie Findlinge an einem Augusstag, ohne je die Sonne gesehen zu haben. Und schließlich wussten sie – Füßchensolen, normalerweise pink, nun schwarz von Staub und Grus, tappten auf Kiesel, irgendwo in der Nähe gluckerte ein Wasserlauf... wussten sie es: Der Finale Grund; Satz vom Grund der Höhle; sie hatten ihn erreicht: hier hauste der Leviathan. Sie vermuteten Löwen- oder Drachensymbolik. Ein winziges, griesblasses Licht schimmerte in einiger Entfernung: drauf zu. Kein Monstrum: Ein mickriger, gebeugter Mann – ein Gnom – in Strickjacke und Cordhose, der hinter einem Steinquader wie an einem Schreibtisch saß, müßig den Bildschirm eines Laptops betrachtete. Soetwas ist zu unserer Zeit noch gar nicht erfunden (Zeit bedeutungslos). Der Gnom hatte eine Unzahl an Tabs in seinem Browserfenster geöffnet: Nachrichten, Pornografie, Wissenschaft, Bilder von Haustieren, Nachschlageseiten, Nachrichten, Musik, Pornografie, Politik, Wissenschaft, Technologie, Zeichentrickfilme – alle paar Sekunden erklickte der Gnom sich neue Inhalte, ohne dass sich seine Mimik merklich wandelte – es ging ins Unendliche, unendlich viel undurchforstbare Information!

 

„Entschuldigen Sie. Sagen Sie, wissen Sie, wie man zum Leviathan kommt?“ – Louisa.

 

Es dauerte eine halbe Minute, bis der Gnom reagierte – Louisa hob schon an, ihre Frage zu wiederholen, als er, ohne vom Laptop aufzusehen, langsam – wird er einschlafen, bevor er das Ende des Satzes erreicht? – antwortete: „Natürlich. Weiß. Ich. Das. Ich. Bin. Der. Leviathan.“

 

Lena. Wirklich? Hab' ich mir schauriger vorgestellt.Gnom. Noch. Schauriger?

 

Lena. Löwe oder Drache oder Riesentintenfisch mit Haifischzähnen und Spinnenbeinen...

 

Gnom. Das. Wäre. Aufregend. Und. Nicht. Schaurig. [So monoton und langsam, dass es körperliche Anstrengung kostete, ihm zuzuhören.]

 

Louisa. Na, egal wie Sie aussehen. Wissen Sie, wie man aus der Höhle herauskommt?

 

Gnom. Ja. Aber. Es. Ist. Irrelevant.

 

Lena. Für Sie vielleicht, aber wir würden gerne heim. Unsere Eltern – unser Großvater – warten mit Kaffee und Kuchen.

 

Gnom. Warten. Warten. Wartet. Man. Hinreichend. Lang. Wird. Alles. Einerlei.

 

Louisa. Wir wollen aber nicht hinreichend lang warten! Raus mit der Sprache, wo ist hier der Ausgang?

 

Doch der Gnom schien sie nicht mehr zu hören. Er klickte sich wieder von einem Browsertab zum nächsten, starrte unbeteiligt auf den Schirm.

 

Lena. Nehmen wir ihm diese dusslige Maschine weg, wozu auch immer sie gut ist. Dann wird er schon das Maul aufbekommen.

 

Sie packte den Laptop, betrachtete verdutzt den Bildschirm – darauf stand in riesigen Schriftzeichen: S = ∞. Verbunden war der Rechner mit einem langen Netzwerkkabel; ein höchst sonderbares Kabel: einer extrem feinen Faser ähnlich aus orangerotem Licht, die sich in eigentümlichem Schüttelkurs über den Boden zog. An großen Ausbuchtungen saßen kleinere, an diesen wieder kleinere: undsoweiterundsofort. Betrachtete man die glimmende Linie, konnte man glauben, diese schwinge mit dem eigenen Gehirn im Gleichtakt, bringe längst verschüttete neuronale Schaltkreise zum Aufleben, Erzittern. Der Gnom war derweil aufgestanden, ohne Eile. Gebückt und unscheinbar stand er da.

 

„Es gibt und gab viele Fehlauffassungen über mich“, bemerkte er, nun plötzlich in normalem Sprechtempo (aber immer noch monoton und geistesabwesend). „Die einen sehen mich als finsteres, gravitationsstrotzendes Monstrum, das eines Tages die Welt verschlingen wird. Andere glauben in mir eine bösartige, mysteriöse Sprengkraft, stark genug, um selbst die Kerne zu zerreißen. Nur wenige kennen meine wahre Natur: die heißt Langeweile. Weile, so lang, dass die Unterschiede zwischen lang und kurz, gestern, heute, überübermorgen verblassen. Tag und Nacht verwischen sich, Land und Wasser, das Leben stirbt – nicht mit Donnerhall, sondern mit verdämmerndem Gähnen.“

 

Lena. Wenn'ΔS nur das ist! Gegen Langweile lässt sich allerlei unternehmen. Das beste Gegenmittel sind Menschen, Freunde, Verwandte – diejenigen, die man liebt.

 

Sie drückte ihre ältere Schwester an sich.

 

In das kleine, graue Gesicht des Gnoms stahl sich eine Spur von Respekt – und Trotz: „Ihr habt nicht gewonnen. Könnt nicht gewinnen! Die reine Mathematik, a priori eingängig, ist auf meiner Seite. Aber für heute habt ihr mich (muss ich zugeben!) beeindruckt. Wisst: Ich erlag meinem Vorgänger – der vor einem unendlichen Haufen von Zeitungen, Magazinen, Katalogen, sonstigenbedruckten Seiten saß –, nahm seinen Platz ein; es mag daran gelegen haben, dass ich alleine kam. Für heute ein Patt!“ Er streckte ihnen seine schwielige, winzige Hand hin, klauenförmige Fingerstummel dran; L&L schüttelten sie nacheinander, lächelten – gut verlieren können ist doch ein lobenswerter Zug! Der Gnom: „Ihr seht das Kabel, wie gezackt, unendlich verzahnt es läuft. Auf der einen Seite – das ist die, auf der wir stehen – ist das Hier, das zeitlose. Auf der anderen das Dort, wo die Zeit verstreicht. Wählt eine von beiden.“

 

Die Schwestern nickten sich zu, schritten über das Kabel ins Dort. Lena sagte zu dem Gnom: „Sollen wir dich nicht mitnehmen? Du verkommst doch hier unten.“ Der schüttelte den Kopf: „Nee- nee... nix mit verkommen, ich hab doch meinen Rechner. Kann noch unendliche viele weitere Tabs öffnen, zu meiner ewigen Unterhaltung.“ „Nichts da!“ rief die jüngere L mit plötzlicher Härte. Sie hatte den Computer immer noch in den Händen, schleuderte ihn mit Schwung in eine Pfütze von kalkigem Höhlenwasser. Der Bildschirm flackerte und erlosch; der Gnom sah gelassen drein: „Merke, ihr versteht etwas davon, einen temporären Sieg auszukosten.“ „Wir möchten dich retten!“ „Unnötig. Ich bin a priori zementiert. Kann beliebige Form annehmen.“ Er deutete auf einen Seitenstollen: „Ihr habt das Dort gewählt. Am Ende des Gangs kommt ihr ans Tageslicht. Ich werde derweil Minigolf spielen.“ Schwupp! Ein tropischer Zierfisch mit menschlichem Gesicht und einem Minigolfschläger zwischen den Kiemenflossen. Zappelte über den Höhlenboden, bis er einen natürlichen Gulli fand, in dem er mit beunruhigendem Glucksen verschwand.

 

Die Schwestern L&L folgten dem bezeichneten Seitengang, fanden aus dem monströsen Höhlensystem heraus, zurück ins Helle, Warme, zu den Menschen: Auf schnellstem Weg in die nächste Stadt, wo es heißen Kaffee gab und vielleicht eine Möglichkeit zum Duschen – und, achja: Neue Kleidung, zwei nette Sommerkleider in fröhlichem Grün und Orange. Kurz, bevor sie die Stadt erreichten, ging die Sonne wiedereinmal unter: Hoppla, die goldenen Strahlenbüschel um ihre Köpfe waren verschwunden. Als sie sich für das Dort entschieden, hatten sie der Inversion ein Ende bereitet.

 

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