Wie wird man Curiepolitaner? Ein Keks mit der Aufschrift "Iss mich!" befördert Annika in die Traumlande. Vielleicht lässt sich dort ein neues Gehirn erwerben?!
Ein Taschenuniversum an der Spitze
eines Turms aus schwarzem Teichwasser

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In den Traumlanden

 

 

Der Turm aus gebündeltem, gehärtetem, schwarzöligem Teichwasser endet inmitten des Sterngewimmels, einem Feld unzähliger goldener kosmischer Lichter. Gespannt schaut Pierre hinauf, und siehe da: Die Sterne verschmelzen zu Adern, Brücken, strömenden pulsierenden Bächen aus Licht, bilden glänzende Flächen, Giebel, Wände, Bögen, Passagen – eine Stadt im Weltall. „Die feiern wohl gerade Weihnachten“, denkt Pierre, während er die letzten Stufen überschreitet. „Wie schön alles ist, wie es leuchtet, funkelt, lockt.“ Er hat das Gefühl, nachhause zu kommen, obwohl er nie in einer solchen Stadt gewesen ist. Ein wenig fühlt er sich an Deutschland erinnert, aber nicht an das Deutschland, das er von gelegentlichen Wanderschaftsabstechern her kennt, nicht das moderne Deutschland mit seinen mittelständischen Industriebetrieben, Tankstellen, Ortsschildern, Gigant- Supermärkten nach amerikanischem Vorbild, Touristik-Informationsbüros mit übellaunigen Angestellten und Unmengen an Prospekten, Discount-Hotels, Fastfoodrestaurants und endlosen Horden von Windkraftanlagen... sondern ein mystisches Deutschland aus schattenhafter Vorzeit, das wagnerianische Nürnberg, mit Spitzdächern und Fachwerk aus goldenem und silbernem Sternlicht, das so intensiv, so unglaublich intensiv funkelt und glüht, dass es am Wachbewußtsein vorbei direkt in unbekannte Regionen der Seele vordringt, jeden, der es sieht, unglaublich tief anrührt. Gassen mit schimmernden Katzenköpfen, Springbrunnen, die wie Feuerwerkskörper sprühen, geheimnisvolle Balkone und Gärten voller lebendiger Eisblumen aus blauen Sternhaufen. Von der Turmspitze ist es nur ein kleiner Schritt hinüber auf den Zentralplatz der Stadt, der Marktplatz wahrscheinlich, auf dem ein Weihnachtsbaum aufgerichtet ist, eine Tanne aus grünen Polarlichtern, geschmückt mit allen Wundern der Astrophysik, Spiral- und Emissionsnebeln, Offenen und Kugelsternhaufen, weißblau glühenden Quasaren, Weißen Zwergen, Pulsaren, Schwarzen Löchern mit kirschrot flackernder Akkretionsscheibe – Pierre schaut schaut staunt, spürt, wie sein Blick sich immer tiefer in das kosmische Lichterwerk hineinverirrt, auf einen verschlungenden Spaziergang geführt wird, der immer neue Details, immer seltsamere Geheimnisse zutage fördert: In den Wolken der Emissionsnebel geistern hundeartige Monster herum, mit schwarz gezackter Dobermannsilhouette und karmesinflammenden Augen, sternweiß blitzenden Eckzähnen, der Fenriswolf oder Cerberos vielleicht, aber sie sind nicht grimmig, nicht unfreundlich gesinnt (ein klein wenig knurrig, vielleicht), denn es ist ja Weihnachten... Segelschiffe, gewaltige Klipper aus magnesiumhellem Glanz, schaukeln durch Offene Sternhaufen, drohende (aber nicht übelwillige) und totenhaft verdorrte (aber qietschlebendige) Skelette aus Silber fliegen (zahnreich) lachend durch Spiralarme und ihre Augen sind brennende Smaragde. Der Weihnachtsbaum mit seinem galaktischen Schmuck enthält Tausend Tausend Tausend und abermal Tausend Geschichten, die sich vor jedem, der hineinsieht, als stilles kontinuierliches Feuerwerk entfalten, jedes Bild, jede Szene enthält tausend weitere, und von diesen jede wieder tausend, „und immer so weiter, unendlich, hinab bis zu mikroskopischen Universen, die selbst nur ein Behältnis für eine in unauslotbare Tiefen hinabsteigende Hierarchie unendlich vieler noch kleinerer Universen sind“, spürt Pierre sich denken, und seine Gedanken tanzen wie bunte Kristalle um ihn herum, und zwei der Kristalle werden immer runder und hübscher und charmanter, bis zwei nackte Mädchen aus ihnen geworden sind, nette, sehr junge Mädchen, eine Füllige mit polangem Kosmotasmahaar, deren Bauch im Rhythmus ihres Tanzens bezaubernd schwabbelt, und eine Zierliche mit schwarzem Haar und crémezarter Haut und Augen tiefblau leuchtend wie OB-Riesensterne. „Hallo!“, sagt Pierre freundlich, und die Mädchen kichern, strahlen vor Vergnügen, begrüßen auch ihn. „Annika!“ „Madame Kunigunde Bauchnabel nennt man mich; freut mich außerordentlich.“ „Pierre Leclerc, Landstreicher, der stehenden Luft der Pariser Verwaltungsbüros glücklich entkommen.“ (Sie unterhalten sich auf Esperanto, Pierre und Annika sind kaum verblüfft, dass sie die Sprache mit einem Mal beherrschen, denn am Weihnachtsabend in der Himmelsstadt ist Wunderbares zu erwarten.) Ihren Ballon haben die Mädchen an der Spitze des Kathedralturms vertäut, dessen Turmuhr unendliche viele Zeiten anzuzeigen vermag, denn jeder Zeiger gabelt sich in der Mitte in zwei kleinere, die sich wiederum verzweigen – undsoweiter-undsofort: dass am Rande des Ziffernblatts die Zahl der Zeiger ins Unermessliche wächst. „Lasst uns ein Stück spazierengehen, da mag man hübsche Sachen sehen!“ – so Madame Bauchnabel, und alle sind sofort einverstanden, haken sich unter, mit Pierre in der Mitte, und ziehen los! Wobei Madame Bauchnabel das Tänzeln und Schlängeln nicht vergisst.

 

Auf einer schmalen Brücke, auf deren Geländer purpurn glühende Kelche stehen („Blumen“, denkt Annika; „Laternen“, denkt Pierre), überqueren sie einen Bach aus azurblauen und farngrünen Fraktalen und betreten die Gasse der Geometer und Rechenmeister, die die Intelligenz erschaffen. „Ich würde mich mal gerne“, bemerkt Annika, „mit einem der Handwerksmeister unterhalten! Es müssen interessante Leute sein.“ Gesagt, getan, man betritt einen der Läden, Annika staunt: „Es hat nicht unbedingt viel Ähnlichkeit mit... mit... also damit, wie ich mir die Arbeitsstätte eines Geometers vorstellte!“ Pierre: „Wie hast du sie dir denn vorgestellt?“ Annika: „Nun, nicht so! Das hier kommt mir eher wie eine Metzgerei vor. Ich dachte eher so an Rechenblätter, geometrische Konstruktionen, Zirkel, Abakusse, schöne komplizierte Messinggeräte zu mathematischen and astronomischen Zwecken.“ „Kann ich Ihnen helfen?“ – der Geometer, ein junger schlanker Mann mit Spitzbart und properer Schürze. Annika: „Was gibt es bei Ihnen denn zu kaufen?“ „Was Sie sehen!“ „Ah... ich verstehe: Gehirne, richtig, Sie haben allerlei Gehirne in Ihrer Auslage!“ Geometer: „Habe gerade sehr frischen Hypothalamus hereinbekommen. Möchten Sie ein Scheibchen?“ Annika: „Wenn es möglich wäre, würde ich lieber mit dem Hirnstamm anfangen, den grundlegenden Funktionen.“ „Fein! Als Ganzes oder in Scheiben?“ „Scheiben klingt gut.“ Wwwisssss! startet der Geometer seine Schneidemaschine: „Stammhirn, scheibliert, eins zwo drei Scheiben, fünf Milliarden Neuronen, jetzt verfügen Sie über die Intelligenz eines Neunauges.“ „Bräuchte wohl noch etwas mehr.“ „Schwupp, schwupp! Kleinhirn, Brücke. Jetzt reicht es zirka für eine Echse.“ „Schneiden Sie weiter.“ „Gut. Thalamus, Balken, Hypophyse. Schwupp, schwupp, schwupp, feine Scheiben. Intelligenz eines Haifischs. Einpacken oder auf die Hand?“ „Noch mehr, bitte. Schneiden Sie, schneiden Sie!“ „Wie Sie wünschen. Sehrinde, Schläfenlappen. Jetzt sind wir beim kognitiven Vermögen von Katzen. Sprachzentrum, Scheitellappen.“ Die Schneidemaschine saust und sirrt. „Schimpansenintelligenz! Sind Sie sicher, dass ich weiterschneiden soll?“ „Ja, weiter, weiter!“ „Niemand soll sagen, dass bei mir der Kunde nicht König sei! Schwupp, schwupp. Die vordere Hirnrinde. Homo Sapiens. Bitte!“ „Ich hätte gern noch ein wenig mehr.“ „Niemand soll sagen, dass meine Kunden nicht anspruchsvoll seien. Es ist Ihr Recht. Aber dafür bin ich nicht zuständig.“ Er deutet mit dem Daumen auf seinen Meisterbrief, der gerahmt an der Wand hängt. „Meine Ausbildung geht nur bis zum ersten Auftreten der ektropen Intelligenz, d.h. jener, die die externen Lebensbedingungen großräumig zu modifizieren vermag.“ „Aber das taten doch schon die allerersten grünen Pflanzen.“ „Ja, richtig. Meinte: gezielt zu modifizieren! Die selbstverbessernde Intelligenz fällt nicht mehr in mein Metier. Da hat die Gilde ein Wörtchen mitzureden, wissen Sie. Die passen auf, dass jeder Schuster bei seinem Leisten bleibt.“ „Ich habe keinesfalls vor, dabei zu bleiben.“ (Pierre lacht leise und gutmütig kollernd.) Der Geometer: „Das seh' ich! Die Frage, ob Sie mutig genug sind, erübrigt sich, es ist offensichtlich, dass es Ihnen an Mut nicht mangelt... Aber fairerweise möchte ich Sie doch warnen: Dem Glaßt des Großen Mittag vermag nicht jeder standzuhalten.“ „Danke... wo ist denn nun dieser Mittag?“ „Er folgt auf einen langen düsteren Vormittag. Machen Sie sich auf und säumen Sie nicht am Wege.“

 

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