1. Kapitel

Die Raumzeitmannigfaltigkeit war aus ihrer stürmischen Kindheit heraus: Die Feuerfluten der primordialen Nukleosynthese, das kristallinische Gleißen der Quasare, das Blitzen und Brodeln kollidierender, schmelzender, zerberstender und sich wieder zu neuen, grotesken Gebilden aus krustigem Fels, Adern von teerigem Eis und metallglänzenden Massen zusammenlagernder treibender Berge und Splitter, aus dem die erste Planetengeneration hervorging, lag nun hinter ihr. Der lange Frühling der kosmischen Jugend begann, und mit diesem das Leben. Bald spiegelten sich weiße und violette Blitzranken, in giftigen Atmosphären von Wolkenmassiv zu Wolkenmassiv ästend, in den glatten schwarzen Oberflächen mineralhaltiger Teiche und Tümpel: Wie Tierhäute zitterten diese dunklen Spiegel, und in ihnen, dort, wo salziges Wasser feinstes Sediment berührte, zuckten, grausam und glücklich, liebevoll und zerstörerisch, sanft und primitiv, träge, heiter, ekstatisch, die ersten Regungen langer Molekülketten, denen das Meisterstück geglückt war, identische Kopien ihrer selbst aus dem atomaren und ionischen Material der Umgebung zu verfertigen. Man überlebte die erste große Krise – die daraus resultierte dass man den rostroten Gifthimmel noch tödlicher gemacht hatte, indem man ihm eisblauen, ätzenden Sauerstoff, eine der destruktivsten Substanzen überhaupt, in großer Menge zusetzte – und schlug aus ihr, im Rahmen eines bezaubernden Geniestreichs, Kapital: Ein neues Geschlecht von selbstreproduzierenden Strukturen trat auf den Plan, das es vermochte, sich von tötendem Sauerstoff zu ernähren und ihn in den nützlichen Zuckervorstoff Kohlendioxid wandelte. Die Sauerstoffatmer wuchsen heran. Sie wurden flink, groß, intelligent, und unternahmen einen Schritt von unglaublicher Waghalsigkeit: Sie drangen auf die trockenen, windgepeitschten Kontinentalflächen vor, krochen zwischen rissigen Felsrücken, die dicht mit gelbgrünen Flechten bepelzt waren, landeinwärts, den Ebenen zu, über die Staubteufel und Regenschleier wanderten, wobei sie weiter wuchsen, schöne und seltsame Formen annahmen. Eines der sauerstoffatmenden Geschlechter umgab sich mit rüstungsgleichen Panzern, kroch behende auf weitausgreifenden Schreitbeinen vorwärts – die Gliederfüßer waren es, denen bald darauf als erste die Eroberung des Himmels glückte, mit transparenten Flügeln, die so rasch schwirrten und sirrten, dass sie mit der warmen Luft und den Sonnenstrahlen eins zu werden schienen. Eine andere Abzweigung brachte behende Riesen hervor, mächtige und kluge Saurier, deren ledrige Häute und struppige Federkleider bunt gesprenkelt waren wie der Waldboden an einem Augustnachmittag. Eine dritte Familie musste lange auf ihre Zeit warten: In stickigen Bauten, unter Gehölzen und in Gräben huschte man, in weichen graubraunen Pelz gehüllt, eilig und kurzsichtig umher solange die Saurier die Welt stampfend erschütterten. Doch die Saurier vergingen im Gleißen eines verspäteten Planetesimals, eines kilometerlangen Erzsplitters aus den schweigenden Hallen des Sonnensystems, der sich in den Meeresgrund bohrte und die Kontinente mit siedendem Wasser, Lava und brennenden Gasen überschüttete. Noch knisterten die Brände in Gesträuch und Hecken, noch suppte kaustischer Dampf aus der gemarterten Erdkruste, als sich in den Eingängen zahlloser Bauten kleine glänzende Augenpaare und schwarze feuchte Schnauzen zeigten: Man kroch hervor, eilte etwas konfus aber voller Vorfreude durch die aschige, qualmende Landschaft, knabberte an an den Schirmen seltsam gefärbter Pilze die überall wucherten. Man wurde größer, vielfältiger: Wie einst die Saurier fächerte die Familie der Felligen sich in Tausende von Gestalten auf. Man rannte, schwamm, kletterte, flog, und manche stolzierten auf dem hinteren Extremitätenpaar und legten den Kopf in den Nacken: Da sahen sie die Sterne, und sie dachten: „Was? Warum?“ Und weil es trübsinnig macht, das Was? und das Warum? nur im eigenen Kopf zu wälzen, erlernte man das Sprechen. „Was?“ sagte der eine, „Warum?“ sagte die andere. „Wie lange schon?“ tönte es hier, „Wofür?“ erscholl es dort. „Woraus?“ „Wohin?“, „Ist es essbar?“, „Von wem?“, „Welche Farbe hat es?“, „Ist es warm?“, „Weiß jemand genaueres?“ war allüberall zu hören. Und weil es anstrengend ist, über große Entfernungen hinweg schreien zu müssen, rückte man enger zusammen und erbaute Städte, die man durch Straßen, Kanäle, Eisenbahngleise, Flugkorridore, Funkwellen, Satelliten, Strom- und Glasfaserkabel verband. „Was?“, „Warum?“ fragte eins das andere über zehntausend Kilometer hinweg. Der Planet umhuschte die Sonne wie ein eiliger Brummkreisel, es wurde Morgen, Mittag, Mitternacht.

x²+y²=1 (genauer: n Tick ovallänglich, schattigtief, ein Talschüsselchen, draus blumt's hervor; verborgen unter Bluse Pullover Mantel) – warmströmwarm; wie ruhig es ist: Nachmittag in den Abend spätwinternd; Hand stromert grüblich bäuchleinwärts, Näschen gekeckt in den Himmel – tagelang fastfarblos steinern: so dass man kaum daran denkt, dass es ihn gibt, mit Cirren, Düsenflugzeugen, Sternen – plötzlich reingefegt trotzigtintenblau, Siebzehnuhrsonnengold schrägwärmt Schimmertrost in opalblaues Zweigeäug – da bekommt Alleinsein einen Artikel: das! Alleinsein – so dass es endlich, überblickbar, erträglich, vom Zeitlauf besiegbar wird – denn Hinterföhren ist nicht das Universum, nur ein Städtchen unterm Himmel vom lehmbraunen Landwirtschaftshorizont dort-hinten (winzigscharfes Doppelrechteck einer Traktorsilhouette lärmt schläfrig an der Hörschwelle: Jaja, die sprühen – wohl aus einem agronomischen Grund, den sie erklären könnten, wenn man sie fragte – bereits im Februar: stechend braunschwarze Jauche)... bis zum Birkenwipfelhorizont hier-drüben (eigentlich zu nah für einen richtigen Horizont: Sagen wir... Birkenwipfellinie); polarmeeririsblau vom pyramidenpapplig-zerwindkraftanlagten Horizont dieserhand bis zum bedächerten Horizont jenerhand. Hinterföhren liegt am Halbmondsee, in Hinterföhren will niemand etwas von Halbmetallen wissen, sie sagen ständig: „Was es alles gibt!“ und gehen dann ihres Wegs, stolz darauf, keine unnötigen Gedanken zu denken; im Halbmondsee leben angeblich bis zu drei Meter lange Welse. (Ist das Wort „Waller“ nicht treffender? – nicht aus sprachlokalgeografischen Gründen, sondern weil es so recht breitmäulern-schlammsuppig-schwebstoffig-schilfwaldkaltdüster klingt und daher zu diesen Fischen passt; als Fisch ist man innen und außen kalt, als Mensch ist man innen warm, aber außen kann es eisig sein, und dann dringt die Kälte schweigend und zähflüssig durch die feinsten Poren, greift nach der Seele.) Der Winter ist alt geworden, wankend unter sondierendem Sonnenlicht, das Landschaft und crémehelle Haut wärmt, Kristallfunken auf Plejadenirisse, Sichelschimmer auf Mitternachtshaar malt: Ahnhoffnung – Nähe? (Es schwer-(unmöglich?), den Anderen ins Innerste zu schauen, das verschanzt sich hinter einförmiger Mimik... wenn sie nicht ständig sagen würden: „Was es alles gibt!“ und wüssten, dass Bor ein Halbmetall ist, dann wär's wohl leichter.) Hochobendroben fastsenkrecht im Zenit, dort, wo der Himmel unbegreiflich wird, der zitternde Donner der sauerstoffstrotzenden Steinkohlenzeit in ihm nachzuhallen scheint, dort, inmitten von Arktischaugenbläue, zieht winzinsekten ein Düsenflugzeug, pinselt vierstrahlig seinen Kondensstreifen an die Wintertropopause. (Ein Artikel – naja: eher so'ne Kürzestkurznotiz: Russischer Ingenieur schlägt vor, Flugzeuge aus aufgeschäumtem – und somit herkömmlichem gegenüber um ein Vielfaches weniger dichtem – Stahl herzustellen, ganz interessant, aber: Graphen! (oder innige Kombination von Graphenen und raffinierten Metallen, nanometerskalisch zu schönen Atomgerüsten gerüstet), wäre Graphen nicht ein phantastischerer Flugzeugbaustoff?) Man könnte: wenn denn! Wenn – jemand: ein Mensch (ach! egal, ob Männlein oder Dame!), hier – neben Annika stünde, und dieser Mensch sagte niemals: „Was es alles gibt!“ (oder, immerhin – nur ganz gelegentlich-selten) und wüsste Bor Silizium Germanium Arsen Antimon Bismut Selen Tellur Polonium – wunderschöne Namen, der schönste ist? Antimon(d? als Gegenstück zum Selen) – oder wüsst's nicht, aber fragte danach, oder wüsste etwas anderes, was geheimnisvoll ist: dann bräche der Frühling mit schmelzender Macht an.

 

Annika Palmstroem – tapfere Erfinderin aus Hinterföhren (irgendwo in Deutschland; eventuell Hessen?) – führt einen zähen Kleinkrieg mit ihrer Provinzstädtchenumwelt. Weder ihre Mutter Wilma noch die meisten ihrer Lehrer und Schulkameraden finden viel Geschmack an Annikas Techno-Phantasmagorien. Nur Vater Paul und Dr. Korff aus der Universitätsstadt Nebbichingen unterstützen die Einfälle der Sechzehnjährigen.

Bei einem Besuch bei Dr. Korff stellt Annika eines Tages fest, dass zwei Mädchen mit sonderbaren Frisuren ihr zu folgen scheinen... auch ein kantiger Mann im Sakko treibt sich in der Nähe herum und ein seltsames Eichhörnchen ist nicht weit. Bald stellt sich heraus, dass die beiden Verfolgerinnen für den Neo-Staat Curiepolis arbeiten: eine Kolonie auf einer künstlichen Insel im Pazifik. Dort ist man ständig auf der Suche nach Genies, die Interesse haben könnten, sich Curiepolis anzuschließen.

In einer Republik der Genies sind außerordentliche Entdeckungen möglich. Annika und ihre neuen Freunde dringen in sonderbare Gebiete vor: Universum, Computer, Sprache und Neuropsychologie scheinen auf eine Weise verwoben zu sein, die die Grenzen des Vorstellungsmögens sprengt.

 

 


 

Fabian Herrmann, 2016 ‒ 17

 

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