Nachrichten: August 2017

Inhalt

Interludium - Bad Godesberger Literaturwettbewerb: 29. August 17

Das Schlossmuseum (1): 27. August 17

Apokalyptiker vs. Integrierte: 21. August 17

"In Curiepolis benötigt musume kein Mitleid!": 20. August 17

Irinas Geschichte - Teil 2 - "Ihr Menschen neigt zum Trübsinn": 17. August 17

Irinas Geschichte - Teil 1 - Eine gute Art von Seltsamkeit: 14. August 17

„Was weiß ich, was Männern gefällt!“: 11. August 17

Irina Bolonkina: 7. August 17

Der Programmcode zum Liss-Etymino: 3. August 17

Das Liss-Etymino: 2. August 17

 

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Interludium - Bad Godesberger Literaturwettbewerb: 29. August 17

 

Curiepolis ist in gewisser Weise ein "Bilderbogen". Das Buch baut in hohem Maße auf Bildern auf, um die herum die Handlung kristallisiert; dies spiegelt sich auch in den Etyminos wieder, die Annika et al. auf dem Planeten Tlön erforschen.

Eines dieser Bilder ist Bad Godesberg, ein Stadtteil von Bonn, einige Kilometer südlich vom Stadtzentrum am Rhein gelegen. An dieses Städtchen knüpft sich für mich eine äußerst intensive Erinnerung: Mit ungefähr sechs Jahren habe ich dort auf eigene Faust einen langen Spaziergang unternommen. Ich war ein "Ausreißkind", meine Mutter konnte mich kaum je lange unbaufsichtigt lassen, denn dies verband sich stets mit dem Risiko, dass ich auf Reise ins Blaue ging, der Nase nach, einem Längeren Gedankenspiel nachhängend. In Bad Godesberg lebte Wolfgang Heisenberg, Sohn des bekannten "Unschärfe-Heisenberg", meine Eltern waren mit ihm befreundet. Wir wohnten damals in Köln und besuchten Wolfgang öfters; eines Tages, als meine Mutter und ich bei ihm weilten, entschlossen wir uns in den Marienforst zu gehen.

"Okay! Du kannst die Blaubeeren ernten, der Wolfgang und ich machen solange eine kleine Runde um diese Bäume." In der Stimme meiner Mutter schwang zweifellos Unruhe mit, sie kannte meine flüchtigen Neigungen bereits. Ich hatte Blaubeersträucher entdeckt, pflückte und verspeiste eine Beere nach der anderen. Kaum hatten meine Mutter und Wolfgang sich einige Meter entfernt, sagte erstere nervös: "Gehen wir zurück! Ich hab kein gutes Gefühl dabei." "Aber Kinder verschwinden doch nicht einfach so", wagte Wolfgang einzuwenden. "Der Fabian schon! Ich brauche bloß daran zu denken, was kürzlich auf Gran Canaria... Los, zurück!" Die schlimmsten Befürchtungen meiner Mutter waren bereits eingetreten: Blaubeersträucher, Bäume, Gras, aber kein Fabian weit und breit.

Ich war einen Einschnitt hinuntergelaufen, unter tiefhängenden Ästen hindurch, aus dem Wald heraus. Während ein substantieller Teil der Bonner Polizei auf meiner Spur die Gegend durchkämmte, durchstreifte ich das Tal zwischen Marien- und Kottenforst, bis ich den Bad Godesberger Minigolfclub erreichte, wo mich ein älteres Ehepaar entdeckte. Die beiden kauften mir ein Stieleis, das ich, auf einer Holzbank vor dem Clubhaus sitzend, mit Begeisterung verputzte, bis ein grüner Mann und eine grüne Frau angetrabt kamen. "Seid ihr Polizisten?", fragte ich keck. "Na, woll'n wir mal schauen!" Man bugsierte mich in den Streifenwagen, fuhr mich zum Haus von Wolfgang Heisenberg, wo er und meine Mutter aufgelöst auf mich warteten. Wolfgang sei die ganze Zeit über kreideweiß gewesen, erzählte meine Mutter mir später.

Was für die Erwachsenen ein Höllentrip gewesen war, war für mich eine tiefgreifende, merkwürdige, traumartige Erfahrung. Es gibt neurologische Anzeichen dafür, dass ein Kind die Welt wahrnimmt wie ein Erwachsener auf LSD. Lewis Carroll nannte es (in "Sylvie and Bruno") das Eerie Feeling, wenn die Oberfläche dessen, was man sich "Realität" zu nennen angewöhnt hat, durchlässig wird. Parallele Welten, Hinterfragung von Wirklichkeit und Kausalität sind Kernthemen von Curiepolis: Ist es da verblüffend, dass eine der Studentinnen aus der GROSSSTADT auf Tlön ursprünglich Verena Godesberg hieß, bevor ich sie in Verena Bruckner umbenannte, da Bad Godesberg (einmal namentlich genannt, einmal verkleidet) bereits in zwei Episoden vorkommt?

Die Parkbuchhandlung in Bad Godesberg veranstalte - so erfuhr ich kürzlich aus dem Internet - einen Literaturwettbewerb. Eine der Sub-Sub-Geschichten, die für Curiepolis so charakteristisch sind - Geschichte in Geschichte in Geschichte... - wird sich im Laufe des heutigen Nachmittags auf den Weg dorthin machen: die Erzählung des japanischen Studenten Hideki. Bei einem Bad Godesberger Wettbewerb darf ein Curiepolis-Auszug nicht fehlen.

 

Hier gibt es den Text, den ich einreiche, zum Download:

 

bad-godesberg-silberne-fontaine.pdf

 

 

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Das Schlossmuseum (1): 27. August 17

 

Junges Glück, gnihi. (Naja, Glück: Das war'n – in der Zeit – fast nur arrangierte...) Die guckt so scheläugig-seitlich: Zieht ihn mit'n Augen... er eher unbeteiligt, schaut die Betrachterin an, irgendwie kühl (als ob er aus'm Bild raus...?) Hätt' vielleicht lieber 'ne andere... Ich find dieses Gewehr pompös: Lauf länger als der Kerl selbst. (Ja, sehr pompös: Dir ist schon klar, für was das Gewehr... GnihihiHIHIHI...) Hat sie'n im Lap? Nur so'n Gekleckse: (keine Lust, fertig zu malen?) (Glaub, S ne Taube (ne Dove=Doofe, aber ne weiße, n Fruchtbarkeitssymbol (jajaja: im Schoß!))) Aber der Hut von dem Kerl, der hat was, richtig bonapartesk. Weiß nich, die haben beide dusslige Schnuten, Sie so'n bissel verschlagen – sicher ne üble Zicke, sieht kore doch! – er gelangweilt, dem ist fad in seiner Ehe, wisst ihr was? Wir müssen ihn retten, also da raushauen; wie stellen wir'S an? Keine Ahnung, zu der Zeit wurden nur unfreiwillig-verarrangierte Bräutchen gerettet: Mann sprengte auf stolzem Rappen geradewegs in die Kirche und hüsterte sie vom Altar weg in den Sattel. S doch einfach: Er scheint ja'n großer Jäger vor der Dame zu sein – fliegen wir also mit der Mongolfiere drüber – unzeitgemäße Technik nutzen? wär gemogelt – && lassen ne Strickleiter runter, er klimmt hoch && auf & davon in'n Sundown! (Problem iss nur, dass Mongolfieren unmöglich zu lenken / müssen eben Windrichtung/-geschwindigkeit einkalkulieren / Gibt'S eigentlich Abenteuerromanzen aus der Zeit mit Rettung via Ballon? / Bestimmt.)

 

Annika et al. sind im Schlossmuseum, dem ersten Level des Spiels "Apokalyptiker vs. Integrierte". Diese Episode ist eine direkte Anspielung auf Bild 7 und 8 in ARNO SCHMIDTS unvollendetem Roman "Julia, oder die Gemälde - Scenen aus dem Novecento". Mich fasziniert immer wieder, dass zwischen "Julia" und GIBSONS "Neuromancer" nur fünf Jahre liegen: Welch ein abgrundtiefer Unterschied der Längeren Gedankenspiele - der neonflirrende Sprawl auf der einen, die sommernachmittägliche niedersächsische Ebene nahe des Steinhuder Meeres auf der anderen Seite! - oder? Nino's Computerlein, ein Commodore SR 1540 Tischrechner, war noch kein echtes Computerlein, ein operationsweise zu bedienender Rechner ohne algorithmische Programmiermöglichkeit, doch SCHMIDT (der selbst zwei Exemplare dieses Apparates besaß) schien andeutungsweise wahrgenommen zu haben, dass sich im Bereich der Technik irgendetwas anbahnte. Nino, ein typischer "Gammler" bzw. Hippie (eine Lebensweise, die SCHMIDT keinesfalls schätzte), bekommt vom Gelehrten Jhering den Auftrag, eine alte Logarithmentafel mit dem Commodore auf Fehler zu durchsuchen, was er, im Bewusstsein, der älteren Generation eine mathematische Abreibung zu verpassen, mit Begeisterung in Angriff nimmt. Zugleich tut sich mit dem Bild, dem Julia, die Geisterprinzessin, entsteigt, eine neue Vollzugsebene auf, manche würden sagen: eine virtuelle Welt.

In Curiepolis vereinen die verschiedenen Vollzugsebenen sich zu einem kosmischen Strauß von Längeren Gedankenspielen! Das Julia-Bild wird zum CARROLLschen Spiegel, der den Weg in eine cyberdelische Zukunft freigibt...

 

Markt zu Straßburg, regelrecht wimmliges Wimmelbild (&& groß, laut Erklärschildchen: zwokommafünf-icks-drei), die Groß-Gesellschaft (och, lass das: nic-mit-Gesellschaft, issn völlich schwammig-undefiniertes Begriff der Soziologiekaschpern / nun, dann definier ich'S nun: Menschengruppe, über mehrere Generationen zusammenlebend, && so umfangreich, dass nich jedes-jedes kennt!) – was wollt ich'n jetzt sagen? (Was mit Groß-Gesellschaft!) Jaja, 'nau: die Groß-Gesellschaft gab'S schon dazumals (die gibt’S seit der Sesshaftwerdung vor zehntausend Sommern!), zusamm'gewürfelt-wimmelt zwischen Giebeln&&Fachwerk auf glänzigem Katzengeköpf. Meint ihr, dass'S früher Morgen oder später Nachmittag? (Vom Licht her könnt beides...) Früher Morgen, ganz klar. (Wieso'n ganz klar? Na, Blick geht über'n Rhein auf'n Schwatzwald gen Ost, Sonne messingfingert hervor hinter'm Cumulusknäuel-da... kurz nach Herecomesthesun.) Fein, dann iss die Luft frisch&&r(h)ein... mit Fisch&&Käse&&Hart(/Hans?-)wurst-Aroma. (Vielleicht auch Kaffee? Hatt'n die schon Kaffee? Jaja, hattense, aber'S war'n Luxusgetränk. Ab und an verboten – weil'S uns Gedam, angeblich, aufmüpfich&&lasterhaft macht – wer'ne Kaffee-Spelunke an die Bullen verriet, bekam einen Taler.) Worüber der Bursche mit der Feder im Schlapphut wohl mit der Bäuerin zankt? Werden sich wohl beim Preis nich einig, beim Preis für'n Dutzend Eier. (Oooooodrrr: Sie hatt'n saftigen Marktweiberwitz gemacht, über gnihihihi Männer tihihihi && hihihi && hmpfpfpf – Eier. Wusstet ihr eigentlich – hab mal irrgendwo gelesn – S gab mal so'n Studenten, in Hamburg war'S wohl, der hat die haarzähnigste Aalverkäuferin zum Weinen&Schweigen gebracht, indem er sie genannt hat: Sie Alpha! Sie Beta! Sie Gamma! Sie elegisches Dystichon! ezätterä.) [...]

 

Brigadistinnen! Ihr denkt heute immer nur an-das-1e-scheint'S! Wie wär's mal mit'm Schlachtengemälde, zu charakterlichen Erquickung? Hier, sowas in der Art (Schlacht schon vorbei: großmütiger General, schulterklappst dem Verlierer seine Anerkennung (Brigadistinnen, merkt euch das!)). Ich frag mich. Was'n? Wieso der Pferdehintern so riesig im Vordergrund...? Naja, die Hottehü war'n in der Zeit militärisches Gerät, und eins mit breitem Hinterteil hatte dicke Muskeln – wie, wenn'n moderner Künstler die Motorleistung von'm Panzer... (Dachte, vom Wängtjämm onward waren alle Kriegsgemälde deimosphobich pazifistisch zurabschreckung? – Och, nich nur: Futuristen, Sowjets, Faschisten –) 'ch find diesen Bürgermeister || Stadtkommandanten || wassesIss knuffig – na, eigentlich nur die Kleidung, issdasnich so'ne Art Tweed? (Vorform davon?) Waswie'n Ganzkörperanzug, bissel sackartig um die Glieder. ((Tihihi, Sack-Glied...) (Könnt'S Spektiv von dem General nich auch'n Symbol sein für? – Nee, wohl nur für Scharfsicht-sinnigkeit.)) Jedenfalls ne feine Geste, richtich Herrenmoral: Hast dich gut gehauen, du && deine Leute. Hat ihn vielleicht in sein Zelt eingeladen, hinterher, auf'n Gläschen Fusel && ne Zigarre. Beginn von'ner Freundschaft? Könnt sein, ||? (S sei denn, die standen im Rang zu weit auseinander? Der General wirkt schon ziemlich königlich. So'n Schnauzer gibt'S nur bei Spaniern... bei gemalten Spaniern.)

 

Das Nachtgewitter. (S doch mal was!) Glaub manchmal, die kulturelle Hauptfunktion von Künstlern könnt darin bestehen: Dem Volk, dem tümlichen, in die Birnen kloppen, dass Schwarz nich nur keinesfalls keine-Farbe, sondern icks Farben iss. Nachtschwarz Gewitterschwarz Rauchschwarz Rabenschwarz Schwarzvordenaugen (dem Kerlchen da – S wohl so'n wandernder Handwerksbursch – dem wird’s gleich... läuft wie von Teufel gehetzt. Iss er ja auch: Im Gewölk lauert'S dämonisch, da Boscht'S schimärenreich zwischen prasselnden Blitzen, die Eiche streckt knochenfingrige Äste aus –) Teerschwarz Blauschwarz Choleraschwarz Kohlschwarz Brandschwarz Fieberschwarz Alptraumschwarz Kaffeeschwarz Dreiuhreinundzwanzig(äi-ämm)schwarz Samtschwarz Lavaschwarz Rotschwarz Eisschwarz Schattenschwarz Schlammschwarz Schlafschwarz Sonnenfleckenschwarz Schwarzseherschwarz Hellseherschwarz Schwarzschwarz Schwatzschwarz Schwartenschwarz (– will woll dieses Dorf erreichen? Oder sind das – unglücklicher Wandersmann! – eher Irrlichter, die ihn in die Sümpfe locken?) Nacktschneckenschwarz Lederlaufkäferschwarz Moorschwarz Desmaurenletzterseufzerschwarz Humusschwarz Metallschwarz Vakuumschwarz Olbersparadoxon (Könnt auch so einer sein, der vor was weggelaufen? Die Wolkenunholde, die sind sein Gewissen: Hat zuhause was ausgefressen, musste weg, sonst Galgen||Kerker. Meinst? Der sieht doch so unschuldig aus. Jaja, wie alle Übelwichte: gehetzt sieht er aus, zurecht. Jetzt unterstellt dem nicht allerlei; hat sich einfach im Wald verlaufen. Damals waren die Abstände zwischen den Siedlungen noch riesig, da konnt sich so'n Wanderer leicht mal verschätzen bis Sonnenuntergang...) [...]

 

Abwechslungshalber: mal richtig idüllisch. Meinst? Find Eroi eher gruselig, fette Kleinkinder, auch noch geflügelt, denkt euch mal, wenn wirkliche Kleinkinder fliegen könnten – musume hätt' keine Ruhe davon, wie Bremsen, aber mit Qäääkstimmen und der Neigung, aus luftiger Höhe Speichel && Nahrungsbrei && Schlimmeres abzuwerfen... Eroi (d.h. Putten, S bissel was andres!) sind keine Kleinkinder, die sehen nur so aus – ne Art von sinnlichen Engeln mit ordentlich Speck, treten oft, wie hier, in Vizinität opulenter Brunnen auf. Um Damen&&Herren zu animieren, sich ihres Lebens zu erfreuen! Was die ja auch tun. Dieser Lautenspieler reicht an unseren Cosmo Tannhäuser nich' ran. Ja, der Lautist ist schlank, charmant, stilvoll gekleidet (für die Zeit!). DU!! Ach-ei: nun-ja – diese eine Dame (oder iss'S n Knabe?) schmilzt dem ja direkt in die Halskrause. (Vielleicht auch, weil sie'n Flatterfetten im Nacken hat?) Die scheinen überhaupt ziemlich zu-andränglich: Der Ganzlinke – krumpelt am Rock der Schwarzgeröckten, der will auch mal beschmust werden – so à la: Huhu, hier bin ich, mich gibt'S auch, bin auch liebesbedürftig! S fast, als ob nich die Putten für die Menschen, sondern – vize-versa – die Menschen für die Putten da sind(, sein sollen?). [...]

 

Diese hier nehmen'S dann wohl nich ernst genug? Hauen auf'n Putz nach all'n Regeln der Barockkunst. && S Mädel als Ruhepo(l) mittdrin. Die passt da gar nicht rein, Anmut in Person (zumindest, bis ihr einer in'n Ausschnitt reiert), leuchtet direkt – ausstaffiert als Prinzessin (allerdings bissel scheppe Augen). Neenee: die passt da grade rein, gewissermaßen die wichtigste Figur, Gegenstück zu den anderen, erinnert sie daran, S nich zu übertreiben... wie das Spruchband obendrüber auch. Der alte Knacker darf König spielen, dem'S kannibalisch wohl, ganz klar, mit Betonung auf fünfhundert Sues Scrofae. (Der mit der Pfeife? (S das nich ne Sie??) Saugt begeistert, möchte wissen, ob'S nur Tabak, || kannten die schon Gras? ||'n Äquivalent: So'n Gras des armen Siebzehntenjahrhundertlers, Mixtur aus Fliegenpilz, Tollkirsche, Stechapfel, ezetterä? (Wär sinnlos: Die haben beim Rauchen keine Wirkung, außer, dass man wahrscheinlich von kotzen muss! (Da kotzt auch schon einer, aber wohl weil zuviel gefressen.))) Meint ihr, dass das Bauern sind? Nee, Städter-Bürger. Wenn'S Bauern wär'n, wär's noch tausendmal gorillesker... (Dann hätt er's, auf katholisches Dekret hin, gar nicht erst malen... Ja, Bauern hat nie jemand realistisch gemalt, das würd den stärksten Künstler vom Nachttopp hauen.) [...]

 

Lassen'S eher ruhig angehen: Abwechslung. Zu ruhig? – haben alle sowas Valiumeskes. Du, das'S ne Theateraufführung, so ne Salonkomödie. Der Kerl als jung-fescher Jägersmann kostümiert, sie spielt wohl 'ne Schäferin. (|| Gänsehirtin? Wär auch mgl., sieht ja auch irgendwie wie'n Gänschen aus: In Hinterföhren gab's in meiner Klasse eine, die hatte auch so'n leeren Ausdruck inner Schnute – Augenbrauen ständig bis an'n Haaransatz gelangweltschmerzt – las Michael-Ende-Bücher und sonst nix, wollte später mal Sozialarbeiterin werden ('türlich!).) Seid mann'nich immer so lästerkritisch: diese schaut müffelig, jener pennt gleich ein... zum 1en: S doch nur ne Rolle, die sie spielt. Zum 2eren? Will sie gerade den Jäger abwimmeln, hat von seinen Avancen das Näslein schnupfigst voll... Mag sein, außerdem: In diesigen Jahrhunderten sollt' puella so dreinschaun; d.h. gelangweilt sein – galt als damenhaft. Ätherische Wesen, nehmen am Hier&&jetzt&&drumherum keinen Anteil. Kleiner Seufzer, Augenbrauen sanft hochgezappelt. ?Hm-hm-hm! Macht Sinn, aber: Was fand'n die Herren denn da!dran! attraktiv? Ne gelangweilte Person, S doch abstoßend? Für die-Damaligen nich: Damen waren nicht von dieser Welt, gehörten 'nem Spielzeugkosmos voller Unernsthaftigkeit an. (Außer, sie wurden Herrscherin: Dann war'n'se Eiserne Lady pur.) Der Jäger, der sehnt sich nach'm charmanten Singvögelchen, bei dem er seine Sorgen vergessen kann – aber sie schnäufelt nur ganz leicht durch die Nasenlöcher, sagt leise: Hach! (Was nix bedeutet, außer: Irritieren Sie mich nicht stets in meiner Damenhaftigkeit!) [...]

 

Von den Bilder, die Annika et al. im Schlossmuseum sehen, gibt es einige auch auf unserer Vollzugsebene. Erraten die Kunstkundigen unter den Leserinnen, um welche es sich handelt?

 

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Apokalyptiker vs. Integrierte: 21. August 17

 

N Kupferner erster Klasse in'm Kabäuschen oder sowaswie'm Kiosk. (Annika: „Eintritt wieviel?“ ; Hikari: „Tihi!“ ; Annika: „Achja – richtig.“ JJ-1882-41: weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz, rot wie Blut – leichtgesacktes Augenlid (häufiger technischer Fehler, schwer in'n Griff zu bekommen) – schopenlächelt nilegonisch && passt auf, dass alles hummm schwummm ganggängig brummmt und konsolt ggf. Gegameoverte.) Hikari: „Können Sie uns ein Spiel empfehlen?“ [Dya züschflüschelnd: „Die braucht man doch nicht zu siezen!“ Annika: „Warum unnötig triezen?“ Dya: „Hühümpf!“] JJ-1882-41: „Haben ein neues reinbekommen, aus Russland (aber alles übersetzt in Esperanto). Ist sehr beliebt.“ Annika: „Ist'S schwierig?“ JJ: „Bislang hat noch niemand den Endgegner besiegt.“ Dya: „Dann nehmen wir'ΔS!“ Irina: „Wie heißt es?“ JJ: „Apokalyptiker vs. IFR. Wobei IFR steht für –“ Dya: [vorwitzig] „Irische Freunde des Randalierens. Tihi.“ JJ: „Nein, vielmehr für Integrierte Fachrenormisten. Die Kurzform Apokalyptiker vs. Integrierte ist unter Fans gebräuchlich. Es ist ko-opp, ihr müsst verhindern, dass Apokalypter und Integrierte aufeinander losgehen und dadurch ihre gemeinsame Vollzugsebene zerstören – soweit man weiß: Es hat ja noch niemand vollständig durchgespielt! Kommt, ich zeig euch, wie'S geht.“

 

Als UMBERTO ECO seine im Buch "Apokalypter und Integrierte: Zur kritischen Kritik der Massenkultur" gesammelten Essays schrieb (1960er - 70er), konnte noch niemand ahnen, welchen Umschwung der Unterhaltungsindustrielle Komplex im 21. Jahrhundert erreichen würde: Mit 2000 Milliarden US$ Jahresweltumsatz spielt er in der Liga des Militärisch-Industriellen Komplexes, wächst jedoch im Gegensatz zu diesem exponentiell weiter.

Dies mag man als moderne Inkarnation des römischen "Panem et Circenses" deuten - "früher hatte man Brot und Spiele, heute stattdessen RTL-2 und ALG-2", sagte einmal ein Sozialarbeiter zu mir - es ist allerdings auch ein Zeichen dafür, wie effizient unsere Produktionstechnologien geworden sind: Wir können einen beträchtlichen Anteil der geleisteten Mensch-Arbeitsstunden in die Herstellung von Waren investieren, die kein Grundbedürfnis befriedigen, sondern zur Zerstreuung dienen. Der Unterhaltungsindustrielle Komplex schafft Millionen von Arbeitsplätzen. Dass man die gesteigerte Effizienz durch Automatisierung, Rationalisierung, Robotisierung auch zur Verringerung der Arbeitszeit einsetzen könnte, scheint den meisten undenkbar: Wenn Menschen nicht mehr fünf Tage pro Woche je acht Stunden im Büro, an der Werkbank, im Labor etc. zubringen, werden sie doch faul, dekadent, mürrisch - so oder ähnlich wird argumentiert. Doch BERTRAND RUSSELL war anderer Ansicht.

Curiepolis verfügt zwar über eine beachtliche Verteidigungsfähigkeit - immerhin muss die NATO, der der Neostaat ein Dorn im Auge ist, auf Abstand gehalten werden -, und offensichtlich auch über eine Form von Unterhaltungskultur (wie ECO argumentiert, ist das in einer modernen Industriegesellschaft unausweichlich), doch das physisch-wirtschaftliche Rückgrad des Staates bildet der Wissenschaftlich-Industrielle Komplex. Dieser stützt sich auf extreme Automatisierung, mittels der "Kupfernen", deren kognitive Fähigkeiten denen eines Großen Tümmlers entsprechen. Menschliche Arbeit findet, in Abwesenheit von Zahlungsmitteln, auf freiwilliger Basis statt. Dennoch neigen Curiepolitaner nicht dazu, die Füße hochzulegen.

Mit dem Spiel "Apokalypter vs. Integrierte" beginnt der Finalteil des ersten Bandes: Annika und ihre Freundinnen gelangen nach Tlön, in die Höhentäler des Mount Echo, auf dessen Gipfel sie das Etymino-Rätsel erwartet. Doch zuvor begegnen sie einigen alten Bekannten...

 

Willkommen bei Apokalyptiker vs. IFR.

>> Ihr findet euch – S könnt später Nachmittag sein, im Hochsommer: Blaugoldnes Licht in schrägen Balken durch hohe Fenster, draußen wohl drückend heiß, doch hierdrinnen ist'S angenehmst cul – in einem –

Hikari. Museum! Parkett, auf dem man lautlos zu sliden vermag, && Gemälde – hunderte. Siebzehntes Jahrhundert, Barock, oder?

Dya. || Schloss! Schaut mal raus: Wundervolle Parkanlage mit Baumveteranen, Fontainen...

Irina. ...nackten weiblichen Statuen, gnihi.

>> – Schlossmuseum im küstennahen Flachland: Weiden, Marschen, saftsumpfiges Grün bis an den Horizont – größere Ameisenhaufen gelten bereits als Hügel –, Ortsnamen mit -loh und -stedt. Eure erste Aufgabe: Erkundet die Umgebung.

Dya. Wo sind unsere Waffen?

>> Hinter euren Stirnen. Weiteres Rüstzeug findet sich bei Bedarf später im Spiel.

Annika. Museumsbesuch! Muss ich gleich an Dr. Korff denken. Wir haben alle Ausstellungen im Landkreis Nebbichingen abgeklappert, u.a. Glockenmuseum, Schokoladenmuseum && die Drehorgelsammlung zu Quickenbrunn. Ich mag Museen, außer, wenn sie zeitgenössische Landschaftsaquarelle zeigen, die'n unterbeschäftigter Gymnasiallehrer hingepinselt hat.

Dya. Richtig. Die Bilder hängen hier wohl nicht nur zur Zierde, könnten sich Hinweise drin finden. Auf zur Kunstschau.

 

Ob ARNO SCHMIDT im Himmel der Atheisten bereits die Nachricht erhalten hat, dass eine Art kybernetischer Gammler mit langen Haaren - Selbstbezeichnung: Dichter-Technologe - ein Buch schreibt, das teilweise auf seiner Arbeit aufbaut und in dem Teenagermädchen mit langen Strümpfen und sehr kurzen Röcken die aktive Hauptrolle spielen? Vermutlich wurde Demokrit, der SCHMIDT die Notiz überreichte, nur mit mürrischem "Soso!" bedacht. "Aber ARNO", fügte Demokrit eilig hinzu, "besagtes Buch macht soeben Anstalten, zu einer Forsetzung deiner Julia zu werden." "Ich habe dir doch tausendmal gesagt, dass ich nichts von aktueller Literatur auf der Erde hören will! Jetzt schieb ab, ich muss noch den Westflügel der Bibliothek von Alexandria durchlesen." "Freust du dich denn gar nicht, dass du auf der Erde immer noch gelesen wirst? Meine Schriften sind dort nur noch in Fragmenten erhalten. Übrigens hat sich der Autor eine Weiterentwicklung deiner Etyms einfallen lassen, er nennt sie Etyminos. Soweit ich weiß, sind es mathematische Gebilde, die mit elektronischen Rechenmaschinen erzeugt werden." SCHMIDT kratzte sich den Nasenrücken. "Ich muss zugeben, dass das leidlich interessant klingt. Darf man erfahren, was es mit diesen - wie war das Wort? - Etyminos auf sich hat?"

Diese nicht unberechtigte Frage soll nun umfassend beantwortet werden!

 

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"In Curiepolis benötigt musume kein Mitleid!": 20. August 17

 

The skeyes of the girls of Curiepolis were the colors of Archilektolosse chimärsillyhuanettend hermilwärts ((blusn-)ärmelwärts?), Geometrergmassive aus umkathedrallichtrenn(rennrenn:to the sit-heres of the happy few chai!) Polyamorgonet→∞ EROImissionslinjenburstend, umas(ch)mollt von Nachtazurmounts && brunstschüchtern Pastellgeschweb um Vorgrenelle; S hauchtarte planetare Biosphärenhäutchen lilienrosa-frühlingsgrün – beim ersten Tereschkawhile arkologt'ΔS wehktrop, ismuss: Wegtropantsupause! Wissenschafftlicht-grauhauch thunders upwards.

[...]

Annika: „Happy Few = wir, die Curiepolitaner! Wenn kore hier querstadtein spalierzierlicht: The Beautiful People, all-über-All. Wenn ich'S vergleich (mit Hinterföhren, Hannover, ezetterä!) – Graupelbiss der Hässlichkeit fehlt.“ Dya: „Stört'S dich? S doch klar: N Australopithecus s schöner als ne Amöbe, n Homo Sapiens schöner als'n -pithecus, und n Curiepolitaner viel schöner als'n Sapiens, vor allem, da by-Design && nich durch blindes Darwingebastel.“ Annika: „Sicher, versteh' ich, && nee, stört mich nich – m Gegenteil –, S nur so: Gehirn gewöhnt sich dran. An Hässlichkeit, mein ich! In Deutschland: Hier'n neunzichjährger Flaschensammler; dort'n kranker Mensch im Rollstuhl; hier ne bucklige Oma; da n Dementer mit Sabber ausm Mundwinkl. Nervensystem wappnet sich, bildet so ne Art Pufferzone gegen's Elend. Hierzulande braucht'S keine Pufferung mehr, jeckliche Wahrnehmungen dürfen ran ans Innerst-Seelische... ei, glaub, ch mach mich nich klar...“ (Hikari: „Doch-doch, schon!“) Annika: „SO!: In Curiepolis benötigt musume kein Mitleid! Das'ΔS hier so überflüssich wie Steinkohle im Aktiniden-Zeitalter.“ Dya stolz(ierend): „Weil der Wissenschaftlich-Industrielle Komplex ihm'n zureichenden Grund entzogen hat; meint: menschliches Leid, das Mitleid macht, ist, loko Keimbahn, weggemolekülschnippt.“ Annika: „Ja, && S fühlt sich – ungewohnt an.“ Dya: „Hoff ich! Niedeernd schmeißt hier ihre Träumungen hinter die Welt, merx dir.“

 

Die Ursache für Leid (und damit auch: Mit-Leid) auf wissenschaftlichem Wege zu neutralisieren, scheint vielen Menschen ein monströses Unterfangen. Besonders in Deutschland werden solche Vorschläge - aus offensichtlichen historischen Gründen - rasch mit den mörderischen Programmen der Nationalsozialisten in Zusammenhang gebracht, Begriffe wie "Euthanasie" oder "Rassenhygiene" werden laut. Auch wenn man dann darauf hinweist, dass man keinesfalls das Abschlachten von Menschen mit unglücklichen organischen Voraussetzungen meint, sondern, wie in obigem Zitat angedeutet, die Verbesserung ab Keimbahn, durch präzise molekulare Manipulation, sind meist gerunzelte Stirne, befremdete Blicke die Folge. "Leid gehört zum Leben dazu." "Ohne die Kranken, Dummen, Hässlichen wüssten wir nicht, was Gesundheit, Schönheit, Intelligenz ist." HUXLEY lässt in "Brave New World" sein Sprachrohr John the Savage sogar das "Recht auf Unglück" einfordern.

Dya Rienzi - die zwar nicht unbedingt mein Sprachrohr, aber doch zuweilen meine argumentative Sturmkanone ist - würde angesichts solcher Behauptungen nur ihr keckes Näschen in den Wind halten, und eventuell verkünden, dass jemand, der Krankheit, Unglück und Dummheit für notwendig hält, ja getrost so lange Giftstoffe essen und amerikanische TV-Serien anschauen kann, bis er selbst diese Notwendigkeit erfüllt.

Menschen brauchen die Fähigkeit, mit Unglück umzugehen. Wichtiger auf lange Sicht ist jedoch meines Erachtens nach die Intelligenz, die uns ermöglicht, das Unglück zu überwinden. Die Lebenserwartung hat sich seit der Bronzezeit verdreifacht; Krankheiten, die noch im 18. Jahrhundert einen Menschen binnen Tagen gefällt hätten, können heutzutage mit billigen Medikamenten zuverlässig geheilt werden. Das Wirken der Intelligenz hat uns langlebiger, robuster, gesünder gemacht. In Curiepolis geht man einen Schritt weiter: Hier gehören Schönheit und übermenschliche Intelligenz zur medizinischen Grundversorgung, die der Staat allen Bürgern zur Verfügung stellt.

 

Durch'n Rondell voll Blumengekübel – seltsamst ruhIch hier: als wär keine Großstadt direkt-nebendran, sonder'n Heidedorf oderso, sogar'n Eulchen kiauzt in'n Bäumen –, unterm Magleviadukt durch && in was Semi-Nebenstraßiges – Dya stets klippklapp vornweg – anner Kolonne von Palmen (hochwipfelbüschlige Sorte) entlang, im Hintergrund neonumflort nachthimmelkratzende Gargantigkeiten. Großrechtecksche Glasscheiben von Bars, drin süffelt Curiepolitanergeknäuel primär-&&sekundärfarbene Cocktails allersorten, n Grüppchen flaniert kore's entgegen, teilt sich wie weiland'S Rotemeer, um sie durchzulassen, jmd. sagt: „Von außen würd man ja doch nur Rohre sehen, mit Spulen drum, da'S was andres vonnöten, so gotisch-aufwärtsschwebend an Feldlinienhauch.“ && Annika schaut, verblüfft, pulsschläglich überschulter &&: „Wisst ihr. S auch so ne Sach in Curiepolis-Stadt: Nur dreißig Sekunden weit gehalbschuht, && bist ganz-woanders, völlig verändertes Milieu&Gefühl. Als ob puella n langes Axon runterrutscht, in'n unbekanntes neuronales Netz.“ Irina: „Ja, S, weil wir, inselbedingt, alles sehr dicht an dicht bauen müssen.“ Dya: „True, et hic sin'wa.“ Einladender Armmeridian! Aus der pantsupink-pixelblau blitzstrahlenden Arkade phontsalalt'ΔS zuckerwattichst: also hinsein.

 

„Von außen würd man ja doch nur Rohre sehen, mit Spulen drum, da'S was andres vonnöten, so gotisch-aufwärtsschwebend an Feldlinienhauch.“

Die Ausarbeitung der "Besichtigungstour" zwischen Computertempel und Trocadero habe ich bewusst noch ein wenig zurückgestellt: Dazu muss ich noch einiges recherchieren. Ich werde mich zunächst an die Abschnitte machen, die insbesondere für meine Vorträge in der Lettrétage und Celle wichtig sind, d.h.: Annika et al.s Abenteuer auf Tlön. In der Game-Arcade sind sie nun, es kann losgehen!

 

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Irinas Geschichte - Teil 2 - "Ihr Menschen neigt zum Trübsinn": 17. August 17

 

Das Wohnzimmer: komplette Landschaft auf kaum drei mal vier Metern Fläche. Bewaldete Hügel, an deren Hänge sich Dörfer schmiegten, Häuser streichholzschachtelgroß, aus den Fenstern glomm goldenes Licht. Teiche, auf denen sehr lustige rosa Hunde in Ruderbooten umherfuhren. Auf dem Altan eines Schlösschens sagte der König zur Prinzessin: „Wenn du nochmal mit einem Menschen anbandelst, nehme ich dir deine Videospiele weg!“ Und die Prinzessin – eine dralle rothaarige Person – sah an ihrer Nase hinab und machte ein spitzes Geräusch, das wohl besagten sollte: „Das ist mir Jacke wie Hose!“ Dazwischen schlängelte sich die Dampfeisenbahn, leise keuchend und vor jedem Tunnel pfeifend – die Fee hatte sich den Beförderungsbestimmungen gebeugt und ihr Einhorn im Gepäckwagen untergestellt, und der Techniker betätigte mit kritisch gerunzelter Stirn den Hauptschalter seiner Maschine: Geräusch wie von einer defekten Ziehharmonika, dann flog Hafebrei aus einem silbernen Trichter, der ebenso Raketentriebwerk wie Lautsprecher sein konnte – einem der mausförmigen Stofftiere in die Teetasse. Der Konstrukteur versprühte vor Zorn violettgrüne Funken: „Wer war das?!“ (Die Prinzessin kicherte.)

Zwischen Ilja Muromezens Festung und einer aufgeschraubten Box mit vielen Kippschaltern, in der unzählige Elektronenröhren schimmerten, war ein kleiner Freiraum, ich setzte mich auf einen umgedrehten Blumentopf. Herr Mystifizinski kam mit dem Samowar, zwei Tassen. „Magst Zucker?“ „Mhm.“ „Nenn mich Bold, das ist die Kurzform von Deutobold. Kleines Mädchen – ei, vergib, so klein bist ja nimmer: musst verstehen, im Vergleich mit mir und Polygraf ist alles auf der Welt klein, deshalb wollte ich stets über sie hinaus.“

[...]

„Wie meinten Sie das mit 'über die Welt hinaus'?“ Deutobold griff sich den Apparat des Konstrukteurs, der sich inzwischen ein wenig beruhigt hatte (– Radio, Roboter, Rakete? Ganz sicher Rakete, es hatte etwas ungemein Raketiges an sich.) „Du gestattest, Trurl? Nur kurz.“ Er wiegte die Maschine – kleiner als ich gedacht hatte: aus der Entfernung hatte ich sie für kommodengroß gehalten; doch nee: kaum größer als der Samowar – nachdenklich in den Händen. „Ich war Raumfahrtingenieur.“

 

ARNO SCHMIDT wies gerne oft hin, dass Schriftsteller gerne die Ideen ihrer Vorgänger aufgreifen - seine eigene "Gelehrtenrepublik" mag als Beispiel dienen: der Titel geht auf KLOPSTOCK zurück (die Idee einer Republik der Genies ist zweifellos älter, schon PLATONS "Politeia" hat etwas davon), das Konzept eines beweglichen Riesenschiffs in Inselform auf VERNES "Propellerinsel", und - um den Zeitstrahl in entgegengesetzter Richtung entlangzuwandern - HERRMANN pflegt unverblümt auf die Verwandtschaft zwischen seinem "Curiepolis" und SCHMIDTS Republik hinzuweisen - das Ganze sei eher als Inspiration denn als Diebstahl aufzufassen. Für Irinas Geschichte habe ich mir in diesem Sinne den großen Konstrukteur Trurl aus STANISLAW LEMS "Kyberiade" ausgeliehen.

Herr Mystifizinski erzählt aus seinem Leben:

 

„Ich bin exakt auf der Grenze zwischen Europa und Asien geboren, in einem Hochtal im Ural. Eine breite Schotterpiste führte durch das Dorf, daneben rauschte ein Wildbach, man hatte einen Zaun errichtet – eigentlich nur eine Reihe von Pfählen, drüber ein Draht – damit niemand in den Bach fiel. Als Kind dachte ich, der Zaun sei die Grenzlinie; erst später – ich mochte in etwa so alt sein wie du jetzt – erfuhr ich, dass die Europa-Asien-Grenze ganz anders verlief, in Nord-Süd-Richtung, ungefähr senkrecht zu Zaun, Bach, Piste. Doch wie dem auch sei... ich liebte es, auf Bäume zu klettern – es gab dort Bäume, zwerghafte, verdrehte Gebirgsbäume, doch Bäume waren es, keine Sträucher, keine Büsche. Im Geäst, zwei bis drei Meter über Grund, verbrachte ich manchmal Stunden, sah mir die fernen Schneegipfel an, den Himmel, die Vögel. Das ist der gleiche Himmel – dieser Gedanke kam mir eines Sommernachmittags – den Amerikaner, Japaner, Deutsche über sich haben. Ich hatte das Gefühl, etwas Entscheidendes entdeckt zu haben und rutschte vom Baum herunter. An diesem Abend fragte ich meine Eltern, ob ich Kosmonaut werden könne. Mein Vater lachte: „Junge, das gelingt nur einigen Wenigen. Nur die besten Luftwaffenpiloten werden zugelassen. Steck dir lieber ein naheliegenderes Ziel.“ „Aber der Himmel ist doch ganz nah“, wandte ich ein. „Heute konnte ich ihn fast mit den Händen berühren.“ Meine Mutter schüttelte beunruhigt den Kopf: „Jewgenij, mir scheint manchmal, der Junge ist wirr im Kopf. Er treibt sich zu viel herum.“ Mit achtzehn meldete ich mich freiwillig zur Luftwaffe. Der Musterungsarzt klopfte mich ab, maß, wog mich: „Sie sind leider zu schwer und zu groß für einen Piloten. Sie können aber Techniker werden, wenn Sie wollen.“ Ich wollte – immerhin schien das die beste Methode, dem Himmel immerhin in Gedanken nahe zu kommen – und verbrachte die nächsten Jahre damit, Hydraulik und Elektronik von MiGs zu reparieren.“

 

Er wird Triebwerkstechniker in Baikonur, unter dem Kommando eines Obert Gluchow...

 

„[...] Du weißt sicher: Raketen können versagen – geraten sie während des Aufstiegs außer Kontrolle, sprengt man sie über Funk, bevor sie wie eine Bombe auf der Erde einschlagen. Eine Proton – sollte irgendeinen Spionagesatelliten in die Umlaufbahn tragen – zwanzig Sekunden nach Liftoff streikt eine der Turbopumpen, Flugkörper taumelt, glühende Spiralbahn am morgendlichen Steppenhimmel. Gluchow betätigt die Notsprengung: Gewirr von Flammenfäden, sich weitend, verlöschend. Qualmspuren brechen die ersten Sonnenstrahlen, ein winziger Regenbogen bildet sich. Nutzlast irgendwo in der Steppe. In Astana starten Helikopter voller Parteifunktionäre. Oberst Gluchow scheint nicht besonders erregt – obwohl, bei dem wusste man nie – trinkt aus seinem Kaffeebecher, blickt mich über seine Brille – eckige, dicke Gläser; auf dem linken Auge ist er blind, seit er einen Spritzer UDMH abbekommen hat – hinweg an: „Mystifizinski. Ihnen ist bestimmt nach einem morgendlichen Schluck frische Luft.“ Ich sehe fragend drein. Er klopft mit einem Bleistift auf den Rand des Kaffeebechers. „Nehmen Sie das Motorrad, das in Geräteschuppen C steht. Wahrscheinlich fünfzehn Kilometer nordöstlich von hier. Nette Spazierfahrt, denke ich. Sobald Sie Sichtkontakt zur Nutzlastkapsel haben, melden Sie sich über Funk.“ Ich knattere los, ohne Helm – komme mir vor wie in einem amerikanischen Film (die haben wir zuweilen, in durchzechten Nächten, heimlich auf dem flackernden Projektor im Klubraum angesehen) – Wind, kühl, mit Hauch von Feuchtigkeit, peitscht mir um die Ohren, ich lache, juble fast, fühle mich völlig frei. Nach einer Viertelstunde komme ich an ein Wäldchen – ach, Wäldchen: falsches Wort. Knotige Steppenbäume, fast blattlos, Skeletten ähnlich. Die Gebirgsbäume meiner Heimat sind Urwaldriesen dagegen. Aus dem Gehölz eine Rauchfahne, senkrecht ins dunstige Stahlblau. Da muss es sein. Greife nach dem Funkgerät – ? – nee, lieber noch nicht. Erst mal nachsehen. Lasse das Motorrad stehen, gehe zu Fuß in die Bäume. Beinahe unheimlich. Starres, blasses Licht, weder Tag noch Nacht. Völlige Stille. Da und dort ein abgebrochener Ast aus weißem, morschem Holz. Boden fast pulverförmig, Gemisch aus bröckligem Erdreich und Sand von undefinierbarer, schattenhafter Farbe. Große Weberknechte und Ameisen stolzieren herum. Langgezogener, blecherner Vogelruf. Ich ziehe die Schultern hoch. Zurück? Nee, noch ein wenig schauen. Gehe – so scheint mir immerhin – direkt auf das Zentrum des Wäldchens zu. Vor mir türkise Tageshelligkeit, Geruch von schwelendem Kunststoff. Ah! Kreisrunde Lichtung, umfasst von orangefarbenen Pilzen, fast kniehoch. Sporenstaub fällt heraus, als ich mit dem Bein dagegenstreife. Mittendrin: was wie ne Hütte – auf einem Pfeiler – oder eher ein Bein, ein Vogelbein? Rotiert, lautlos und rasch wie'n Gyroskop. (Oder rotiere ich, rotiert das Universum starr außenherum, und die Hütte steht derweil still?) Nutzlast durchs Dach, gezähntes Loch wie mit'm Hammer geschlagen, Rauch knäuelt hervor. Hat hoffentlich niemanden – gibt dann wohl Entschädigung von der Partei, verbunden mit nachdrücklich ausgesprochenem Wunsch nach Stillschweigen. Näher ran – wer da wohl wohnt? Bekommt man da keinen Drehwurm? Hütte wird etwas langsamer, Strickleiter baumelt runter: Eine Einladung, auch eine implizite, schlägt ein Deutobold Mystifizinski nicht aus. Hand über Hand hinauf (ohne groß nachzudenken).“

[...]

„Ein Spionagesatellit, Geheimhaltungsstufe A, um den Yankees in die Whiskygläser zu spähen. Als Triebwerkstechniker war ich nicht befugt, das Ding näher in Augenschein zu nehmen; wahrscheinlich war noch nicht einmal Oberst Gluchow befugt. Wer sich offensichtlich für befugt hielt, war er – Konstrukteur Trurl –, der an der Kapsel herumwerkelte und schweißte und daran war, eine Öffnung in die Hülle zu schneiden. Ich kauerte mich hin – pflichtbewußt etwas sagen? Ei, er wird schon wissen, was er tut. Bemerkt mich kaum – kann er mich überhaupt sehen? Nimmt in aller Ruhe die Nutzlastkapsel auseinander, mit einem Werkzeug ähnlich einem winzigen Schneidbrenner, vorn stecknadelkopfgroßes Gleißen ultraheißen Plasmas. Über kurz oder lang war die Hülle offen, er drehte sich zu mir (aha – bemerkt mich also doch!), macht eine einladende Geste mit den Armen (oder etwas, was an Arme erinnerte): „Bitte!“ Schaue näher hin: Ein Hund, ein Hündchen – Welpe noch fast –; Hunde sind ja irgendwie von altersher mit der Raumfahrt verbunden. Wie kommt der da rein? Vom Spionagesatelliten weit und breit nix. Ziehe ihn heraus, nehme ihn auf den Arm: Jetzt wird alles gut.“ „Das war dann wohl – ?“ Ich kraulte Polygrafs Schnauze, der brummelte und zuckte im Schlaf: Träumte wohl von Wald und Jagd. „Richtig. So kam Polygraf zu mir. Er sog an meinen Fingern. Trurl erklärte: „Vom Kurs abgekommen. Sollte den Verbleib der Mission von 1908 klären, was er sicher auch geschafft hätte, wenn euer Raketenstart ihm nicht vor den Bug geklatscht wäre.“

 

Trurl macht sich daran, aus Teilen der Raumkapsel und den Gerätschaften in der Hexenhütte die Spielzeuglandschaft zu errichten. Indessen wird Herr Mystifizinski von der KPdSU zum Dateneintaster im Statistischen Institut Kirensk degradiert, wo man ihn - samt Hütte, Trurl und Polygraf - per Schwerlasthelikopter hinverfrachtet. Doch schon knabbert die Entropie an der Sowjetunion:

 

„ [...] im Statistischen Institut fielen immer weniger Aufgaben an, da kaum noch Daten hereinkamen. Da habe ich ein wenig zum Spaß programmiert und Spiele entwickelt: Puzzles, Logik, Labyrinthe. Ich weiß, dass in den Vereinigten Staaten und Japan viele Kriegsspiele produziert werden, aber das ist nichts für mich. Nichts für uns Russen, finde ich! Wir sind Friedenskinder – erzogen im vökerverständigenden Geist Marxens und Lenins – weswegen wir schon in der Grundschule mit Holzmaschinengewehren auf dem Schulhof umherrennen mussten, um stets bereit zu sein für eventuelle Angriffe des Klassenfeindes. Da verliert das Herumrennen mit Gewehren irgendwie seinen Reiz – vermutlich Gewöhnung. Ich habe jedenfalls Spiele programmiert, bei denen es aufs Nachdenken ankam. Zeigte sie den Kollegen, die waren angetan: Irgendwie musste man ja die Zeit bis zum endgültigen Zerbröseln des Sozialismus herumbringen. Auf Floppys nahm ich sie mit nachhause, da ich auch Trurls Meinung darüber wissen wollte.“ Hier hob der Konstrukteur, der eingedöst zu sein schien, den Kopf. „Was mich an euch Menschen stets etwas stutzig gemacht hat, ist euer leichtfertiger Umgang mit dem Wort Realität. Ihr gebraucht es so selbstverständlich, als handle es sich um einen Regenschirm. Fragt man nach, was das denn sein solle – man erhält entweder Herumgedruckse, oder wird ausgelacht: jeder Esel wisse doch, was das sei, Realität. Das trifft insbesondere auf eure sogenannten Sciencefictionautoren zu; obwohl die lieber mit dem Wort Universum anrücken; die gebildeteren darunter reden von der Raumzeitmannigfaltigkeit, wenn man nachbohrt, was es aber wirklich sei – 'mein Zug geht in zehn Minuten, ich muss rasch weg!' – so oder ähnlich lautet die Antwort. Entschuldigt, ich weiß, dass das nicht auf alle Menschen zutrifft. (Aber auf die meisten, hehe.) Was mich angeht – es gibt keine Maschine, die ich mir nicht zu bauen zutrauen würde. Wenn die Realität also eine Maschine ist – was ja plausibel klingt – dann könnte ich eine, zehn, beliebig viele konstruieren. Ihr Menschen neigt zum Trübsinn, nichts fällt euch leichter, als traurig zu sein. Vielleicht hat das mit eurer Realitätsbesessenheit zu tun? Eine Tätigkeit gibt es allerdings, bei der ihr eure Traurigkeit und die sogenannte Realität links liegenlasst: wenn ihr spielt. Als Herr Mystifizinski mit seinen elektronischen Spielen ankam, horchte ich auf. Es waren keine besonders komplizierten Spiele, aber man sah, dass sie Potential hatten, Gigavolt an Potential, bildlich gesprochen.“ „Nach dem Zusammenbruch der UdSSR musste das Statistische Institut schließen, ich bekam eine Abfindung. Seitdem beschäftige ich mich nur noch mit Programmierung: Ich möchte das größte, beste, schwierigste, spannendste Spiel entwickeln, das es je gab! Eines für mehrere Spieler: Alleine die Traurigkeit überwinden, ist ganz nett, aber gemeinsam – die Ars Magna!“ „Sie schreiben also ein Computerspiel, das den Menschen hilft, glücklich, fröhlich zu sein?“ Dieser Gedanke ließ mich strahlen – es schien so ein vernünftiger, freundlicher, intelligenter Gedanke. Herr Mystifizinski ließ seinen Kopf hin- und herwackeln, als versuche er, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln: „Nicht hilft – es soll ihnen eher die Möglichkeit und den Weg dorthin zeigen. Beschreiten müssen sie ihn selbst. Und zwar gemeinsam.“

 

Trurl und Herrn Mystifizinski sieht Irina nie wieder, doch der Hund Polygraf begleitet sie von da an:

 

Irina. Das nicht – nur den Hund. Der Polygraf begleitete mich jahrelang – auch als ich auf die Oberschule wechselte, etwas außerhalb von Kirensk – ich fuhr mit einem Schienenbus dorthin: Der Hund wartete vor dem Bahnhof auf mich, ging mit mir nachhause. Wenn ich unterwegs einkaufte, blieb er brav vor dem Laden sitzen. Und dann – vergangenes Jahr: Frühling, Schneeschmelze. Tintenblauer Himmel, überall riesige Pfützen, über die ich hinweghüpfte. Polygraf platschte mitten hindurch, schlammiges Wasser troff aus seinem Zottelpelz. Ich spürte, dass irgendetwas in der Luft lag. Ganz selbstverständlich folgte ich dem Hund, als er Anstalten machte, nicht zur Wohnung meiner Eltern zu gehen – schaute nur einmal kurz über die Schulter, wie um sich zu vergewissern, dass ich verstand, worum es ging – eine Allee hinunter, links und rechts mit Kastanien bepflanzt, die waren natürlich noch kahl. Ein Stadtviertel, in dem ich nie gewesen war, alte Backsteingebäude, dran verwitterte Film- und Zirkusplakate. Kein Mensch, kein Fahrzeug in Sicht. Als sei es ein aufgegebener Teil von Kirensk. Schnurgerade verlief die Allee, aus dem Häusergedränge hinaus, ins Umland, in die Wälder. Dort war ich in meinen Geschichten oft gewesen (und in Amerika, Südamerika – Australien – im All!), ich glaubte fast, mich zu erinnern, wie alles aussah: Die schlanken Birkenstämme, die sich nebelhaft bis in die Unendlichkeit verloren. Lichtungen voller Heidekraut, mit Pilztrupps, riesige Ameisenhaufen. Schwarze, stille Teiche, aus denen Röhricht ragte. Unglaublich hoch am Himmel, kaum sichtbar verloren im Blau: kreiste der Adler. Polygraf schnürte unermüdlich voraus, ich tappte hinterdrein, und wunderte mich, dass mir alles völlig normal vorkam. In meiner Umhängetasche noch Bücher, Schreibblöcke von der Schule – wozu brauchte ich die hier eigentlich? Als Hausaufgabe sollten wir einen Aufsatz über Peter den Großen schreiben, aber hier im Wald gab es starke, neuartige Gerüche, moosige Feuchte, dann und wann glitt ein vergilbtes Blatt vom Vorjahr auf den Altschnee, aus dem die ersten Frühblüher vorsichtig die Köpfe streckten – weit und breit kein Peter der Große. Ich folgte Polygraf bis zu einer Lichtung.

Dya. ...und mittendrin die einbeinige Hütte, rotierend wie ein Gyroskop, Pilzkreis rundum? Hm-hm?

Irina. ...oder die Mannigfaltigkeit drehte sich starr, wer kann'S wissen. Diesmal war jemand zuhause, zwei sogar. Die eine groß und schlank, mit ewig offenen Schnürsenkeln – die andere etwas molliger, mit bitzelndem Sinn für Humor.

Annika. Carmen und Alexa. Haben auch mich abgeholt.

Irina. Wir haben auf dem chemischen Ofen – oder was immer es sein mag: Mit all den verschlungenen Röhren, Schläuchen, Kesseln, Zylindern? – haben drauf Eierkuchen gebraten – Alexa hat ihre Freundin in Sachen offene Schuhe geneckt, wir haben uns gekabbelt, gequiekt, alles riesig gemütlich. Weiter hinten im Wald war ein Eisenbahngleis, da hat uns abends der Zug geholt – schon ging's ab zur Energiebasis Krasnojarsk; von da per Schattenspringer nach Curiepolis. Und hier bin ich!

 

Bei der Beschreibung Trurls stieß ich auf ein kleines literarisches Problem: In den Geschichten LEMS wird das Aussehen des Konstrukteurs und seines Kollegen Klapaucius nie beschrieben - es wird lediglich angedeutet, dass es sich um humanoide Roboter handelt. Der Illustrator Daniel Mróz verlieh ihnen zwar eine Art "offizielles Aussehen"...

 

 

...doch die Geschichten ziehen ihren Reiz unter anderem daraus, dass Trurl und Klapaucius in der Phantasie der Leserin entstehen, ohne einschränkende Vorgaben des Autors. So haben auch verschiedene Zeichner Fanart von Trurl und Klapaucius kreiert: shatterstripes, Adoradora, Monkey-sama, Rono22, Anita Andrzejewska. Oft wird dabei Klapaucius größer und massiger als Trurl dargestellt (was auch im Klang der Namen liegt); die charaketristischen Kopfformen (Trurl: rund, Klapaucius: länglich-prismatisch) sowie die "Antennenhaare" aus den Zeichnungen von Daniel Mróz werden gerne übernommen. Am besten gefallen mir übrigens die Konstrukteure im Stil von Adoradora: die haben wirklich Klasse!

Beim Schreiben von Irinas Geschichte musste ich Trurl allerdings von außen schildern, es fragte sich daher, ob ich ein persönliches Konzept seines Aussehens entwickeln sollte. Ich entschloss mich jedoch, die "visuelle Offenheit" von LEMS Geschichten beizubehalten, und beschrieb Trurl daher bewusst nebulös: [...] waren das die Beine oder Ohren? [...] ob er durch die Hände atmete? Nein, das mussten Teile der Schultern sein. [...] ganz sicher war dies dort der Kopf [...] erinnerte fast an eine Kaffeekanne, oder eher an den Durchlauferhitzer im Bad meiner Eltern...

 

Annika. Hör mal, der Konstrukteur – Trurl, richtig? Ich kann mir immer noch nicht recht vorstellen, wie der aussah?

Irina. Ja, das ist so 'ne Sache: ich auch nicht – soll heißen: Jedesmal, wenn ich hinsah, wirkte er irgendwie anders. Größe, Form, Farbe – im Fließen...

Annika. [subvokal hauchend; zu sich selbst] Wie bei Alex.

Irina. ...nur die Haare, die blieben relativ konstant: Antennenartige Drahtdinger mit kugelförmigen Verdickungen an den Enden. Und die Kopfform: abgerundet, etwas breiter als hoch, fast wie ein Kessel.

Annika. Eine Sache: was Trurl gesagt hat – mit der Realität – oder sogar Realitätsbesessenheit? Ist das denn etwas Übles? Ich finde mich selbst realitätsbesessen – wenn musume'S so nennen will –; das ist doch, worum es in der Wissenschaft überhaupt geht: die Realität erforschen. Eines meiner Lieblingsbücher heißt sogar „Der Weg zur Realität“.

Dya. Ich denke mal, ihn hat gestört, dass Menschen so oft und gerne das Wort benutzen, ohne sich zu überlegen, was es bedeutet. Oder, Irina?

Irina. Möglich. Was mir gefallen hat, war seine Bemerkung zur irdisch verbreiteten Trübetimplichkeit, denn das stimmt ja irgendwie: Der Normalzustand der meisten Menschen ist kopfhängerisch –

Annika. Stimmt, das ist mir bei meinen Ausgucksitzungen in Bäumen aufgefallen: Den meisten Spaziergängern schleiften die Mundwinkel hinterher. (Oder waren es die Fingerknöchel? Ich weiß es nicht mehr.)

Dya. Genau dagegen sind wir Curiepolitaner angetreten! Schluss mit dem Gemurkse und Gedruckse und Geschmolle! Die Welt und das Leben machen Spaß, das ist unser Hauptgedanke.

 

Das von Dya geschilderte Weltbild (das u.a. von NIETZSCHE inspiriert ist) unterscheidet sich äußerst stark von dem STANISLAW LEMS: in dessen Geschichten wurden Versuche, Menschen oder Robotern zu einem besseren Dasein zu verhelfen, meist von geradezu KAFKAesken Fehlschlägen verfolgt. Was mein "Curiepolis" von den allermeisten großen Romanen der Moderne unterscheidet, ist die konsequent positive Grundstimmung.

Allerdings bezieht Dya sich auch nicht so sehr auf Steigerung der Glückseligkeit durch Eingriffe von außen, sondern vor allem darauf, dass jeder Mensch sich bewusst entscheiden sollte: Schluss mit dem Geschmolle! Glück entsteht primär in jedem selbst - in dieser Hinsicht hat das Weltbild auch etwas Buddhistisches.

Übrigens stammt auch der Name des Hundes Polygraf aus der Literatur Osteuropas. Weiß jemand, aus welchem Werk?

 

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Irinas Geschichte - Teil 1 - Eine gute Art von Seltsamkeit: 14. August 17

 

Kirensk, Winter; ich zwölf (oder so). Mit meinen Eltern – Papa Mathematikprofessor; Mama? war Polizistin, mit ner schicken Mütze – lebte ich in einem Hochhaus, einem Plattenbau, von dem niemand zu sagen vermochte, ob er sieben oder acht Etagen aufwies (es gab diesbezüglich Fraktionen unter den Mietern). Kantiges Kolosshaus, grau wie Altschnee! Auf der Treppe war stets zu riechen, was in den Wohnungen gekocht wurde. Von der Bushaltestelle – wochentags fuhr ich, dreißig Minuten weit, in die Sacharow-Spezialschule für naturwissenschaftlich begabte Jugendliche – hatte ich einen Heimweg von zirka zweitausend Metern, gib oder nimm – quer durch ein Gebiet, das wir „Wildnis“ nannten, obwohl es gar nicht so besonders wild war: ein mit Datschenkolonien, Gebüsch und industriellen Müllkippen bedeckter Landstreifen zwischen der endlosen, qualmenden, flackernden, rumorenden Kolonne der Nickelkombinate und der Lena, über der die Möwen kreisten. Im Sommer saßen Metallarbeiterfamilien in ihren Kleingärten, grillten, becherten, riefen mir „Hallo!“ und „Huhu!“ zu, da sie mich zumindest vom Sehen her kannten. Doch wovon ich euch erzählen möchte – das ereignete sich im Spätwinter, Februar wird'S gewesen sein: Temperatur kaum über minus fünfzehn – die Lena diffuse Unwägbarkeit von Eisnebel, die Datschenkolonie gesichtslos weißes Hügelland. Aus Richtung der Fabriken gedämpft Getöse, rötliches Wabern, Sprühen blauer Funken, Klirren, Dröhnen. Ich pflegte meine Kapuze hochzuklappen und langsam voranzustapfen, ohne Eile: meine Eltern kamen sowieso erst abends von der Arbeit. Manchmal dachte ich an ein mathematisches Problem oder eine Geschichte. Ich hätte gerne ein Haustier gehabt – so ein riesiges, wollig-wollig-warmes, an das man sich ankuscheln konnte – aber unsere Zweizimmerwohnung reichte ja kaum für uns und Mamas kränklichen Wellensittich... ein mächtig-gutmütiger tierischer Freund war eine bezaubernde Vorstellung. Ich pflegte mir auszudenken, was ich mit ihm – Spezies und Aussehen legte ich nie näher fest – alles erleben würde: Herrliche Abenteuer draußen in der unberührten, schneestillen Taiga. Vielleicht ließ es sich reiten wie der Wolf im Märchen vom Feuervogel? Unter solchen Längeren Gedankenspielen pflegte ich mich heimwärts zu trollen – bis eines Tages: Heißer, rauher Atem, Tappen von mehr als zwei Füßen im Schnee – von hinten zu mir dringendes Geräusch! Ich stutzte, drehte mich vorsichtig um: Ein Teil meines LGs war Wirklichkeit geworden. Der größte Hund, den ich je gesehen hatte. Zottig, grau wie Schneematsch oder Beton, mit den Ohren mir fast bis ans Kinn reichend. Schnürte heran, schien mich aufmerksam zu betrachten, obwohl seine Augen unter überhängendem Fell kaum sichtbar waren. Ich spürte, dass er keine bösen Absichten hegte, hielt ihm meine Hand hin – er schnüffelte dran, schlappte mir einmal kurz mit seiner enormroten Zunge über den Handrücken. Als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, setzten wir unseren Weg gemeinsam fort, er einen halben Hundeschritt vor mir, mich in eine bestimmte Richtung führend.

 

Der gewaltige Hund führt Irina zur Datsche des Sonderlings Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinski. Was findet Irina dort?

 

Ich zog die schneeklumpigen Stiefel aus, blickte mich um: Da verschwand das Schlusslicht eines Eisenbahnzuges, geschleppt von einer fauchenden Dampflok – höchstens schuhkartongroß –, hinter einer Ritterburg, auf deren Zinnen Ilja Muromez Wache hielt. Stofftiere – eine Art von Mäusen? konische graubraune Körper, ausladende Ohren und merkwürdig stummelige Füße, die eher denen von Vögeln, Hühnern oder Enten, glichen, als denen eines Säugetiers – diese Wesen hatten es sich rund um einen dezimeterhohen Tisch bequem gemacht, tranken Tee, unterhielten sich halblaut, eines nähte sich und summte dabei einen altmodischen Schlager. Ein Nussknacker, signalrot mit vergoldeter Mütze, kontrollierte das Einlaufen der Dampfeisenbahn in eine Station. „Es muss im Gepäckwagen mitfahren!“, sagte er zu einer Fee, die ein blaues Einhorn am Halfter führte. „Sie verstehen, Beförderungsbestimmungen.“ Etwas weiter weg, im zimtfarbenen Lichtkegel einer Tischlampe, arbeitete jemand – waren das die Beine oder Ohren? – arbeitete, schraubte – ob er durch die Hände atmete? Nein, das mussten Teile der Schultern sein – schraubte, werkelte, lötete – ganz sicher war dies dort der Kopf – lötete, polierte, schweißte – erinnerte fast an eine Kaffeekanne, oder eher an den Durchlauferhitzer im Bad meiner Eltern – schweißte und hämmerte mit großer Ausdauer an einer Rakete herum – nein, Rakete wohl nicht: Es war ein Radioapparat (aber die haben keine Beine! Vielleicht eher ein Roboter (aber die bestehen nicht aus silbernem Rauch!)).

Sogar in der Küche, dem winzigen Badezimmer, vor dem die Tür fehlte, drängte sich Spielzeug an Spielzeug. In der Dusche dümpelte ein Dampfschiff, stieß Wölkchen aus. Dazwischen technische Apparate – elektronische Schaltungen, Messgeräte, Platinen, Röhren, Spulen – Konstruktionen, deren Zweck ich kaum zu erraten vermochte – Modelle: Raketen, Flugzeuge, Raumschiffe, manche davon realistisch – vielleicht hatte man sie wirklich gebaut – andere phantastisch und abstrakt, eher Produkt der Phantasie eines Künstlers als sachliche Ingenieursarbeit. Einen Erwachsenen, der sich mit Spielzeugen umgab, hätte normalerweise für recht seltsam gehalten. Herr Mystifizinski – oh, seltsam war er, unvorstellbar seltsam: Doch in seinem Fall war es eine gute Art von Seltsamkeit, das spürte ich – ebenso, wie ich das freundliche Wesen des kolossalen Hundes Polygraf gespürt hatte, als er mich in der verschneiten Wildnis einholte. Deutobold Allegoriowitsch stapfte in die Küche: „Magst Tee?“ fragte er über die Schulter, ich nickte, obwohl er das – hatte sich wieder umgedreht – nicht sehen konnte. „Geh schon mal ins Wohnzimmer! Und – äh – schaff dir irgendwo, irgendwie Platz.“

 

Ich habe hier teilweise die Spielzeuge beschrieben, die ich früher als Kind selbst hatte. Der Konstrukteur, dessen Aussehen Irina ins Grübeln bringt, beruht dagegen auf einer Figur aus der Literatur. Welcher? In Teil 2 werde ich es verraten. (Oder hat jemand schon eine Vermutung?)

 

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„Was weiß ich, was Männern gefällt!“: 11. August 17

 

Hikari. Willkommen, Irina! Juu!

Irina. Nun-nun. Bin doch schon seit fünfzehn Monaten im Land.

Hikari. Dennoch, willkommen! Das muss man ab und an wiederholen. Lasst uns zur Feier Karussell fahren gehen.

Dya. Ausgezeichnet. Es spielt gerade „Siegfrieds Rheinfahrt“.

Annika. Eh! Auf den Dingern krieg ich immer'n Drehwurm...

Dya. Denk dran: Wir stehen still, die Mannigfaltigkeit rotiert starr außenherum.

Annika. Macht das einen Unterschied? Ist doch bijektiv.

Dya. Ja, eben! Wir nehmen das Schwanenboot, das hat Stil.

Annika. Vor uns: Ein Schwein, welches größer als das Boot – hinter uns: ein Helikopter in Bodenhöhe. Links von uns: ein Feuerwehrauto! Schwierig, aus dieser Situation zu entkommen.

Dya. Wohlauf, Brigadistinnen, ins Boot – ins Boot! Es geht los!

Annika. Uguu. Jetzt dreht sich alles – !

Irina. Schaut mal, wer vor uns.

Dya. Gloob ick nischt: Unser geschätzter Künstler-Poeten-Koloss Cosmo Tannhäuser. Was macht der hier.

Annika. Reitet auf einem Schwein, allein.

Hikari. Ooch. Ich find den süß.

Irina. Mousse au Chocolat oder eher ähnlich Schlagsahne?

Dya. Wenn er nur nicht so schmalzige Haare hätt: Als ob er ins Butterfass gefallen wär!

Annika. Gnihihihi...!

Hikari. Das macht nur die Karussellbeleuchtung. Der hat dickes, starkes Haar, sicher herrlich weich.

Dya. Ja, dickes Haar – das passt. Er ist überhaupt ziemlich dick!

Hikari. Oder stark...

Irina. An seiner Haltung muss er jedenfalls arbeiten. Wie der sprichwörtliche nasse Sack! Oder Orangutan auf dem Schleifschwein.

 

Annika et al. sind die intelligentesten Mädchen aller Vollzugsebenen - was der Tatsache keinen Abbruch tut, dass sie eben Teenagermädchen sind! Cosmo Tannhäuser - ARNO-SCHMIDT-Leser werden jetzt "Ah!" rufen und an Tellingstedt, William Kolderup, Adam Eden Tucker und einige andere denken - taucht bereits in einer vorangehenden Szene auf, in der die Brigade Lise Meitner sich am Hauptkanal von Curiepolis Stadt zum Mittagspicknick versammelt (&& beim neuerlichen Durchlesen besagter Szene fiel mir auf, dass sie in hohem Maße überarbeitungsbedürfig ist!), die Mädchen kennen ihn daher bereits vom Sehen her und finden ihn in gewissem Maße interessant, was sich nun in intensiver Lästerei äußert...

 

Dya. Wir sind nicht gemein, wir stellen fest.

Irina. Sein Reittier hätte er wirklich besser wählen können.

Dya. Wie'n Dryopithecus auf der Turbinenwelle oder vielmehr auf'm Spanferkel.

Annika. Schaut mal, das Einhorn dort hinten! Das wäre doch elegant.

Dya. Ja, ein Einhorn würde ganz sicher passen. [Gekicher rund hundert Sekunden lang – Annika, à la: „achsooo!“ etwas versetzt einstimmend –, in an- && ab- && an- && abklingendem Silberregen (ungefähr sinusförmig).]

Annika. Agh! So hab ich das nicht gemeint!

Dya. S ölfleckblaue Jackett mit Goldborte hat er wohl'm Zirkusdirektor stibitzt.

Hikari. Zirkusdirektor! Wildromantisch: heimlich ausbüxen, um mit dem Wanderzirkus den Sternen zu folgen. Heute hier, morgen dort – nachts durch Heide und Wälder – schwarzsilhouettiert gegen den untergehenden Mond sieht nur der Blick der Eule den reisenden Artisten. Den mächtigen Eisenbahnmagistralen und Flüssen folgen bis hinab an den Ozean.

Dya. Ich meinte: Zirkusclown.

Irina. Wie wär'S mit: Messerschlucker.

Dya. Wir hätten ihm welche zum Schlucken mitbringen sollen.

Annika. Jetzt hat er'S wirklich gemerkt: Ihm wird kalt und immer heißer. Zieht sein Jackett aus – && Siegfried hat Speyer erreicht. Rundfahrt zuende. (Endlich-final! (Agh! Würg!)

Puella kniestrümpfelt aus dem Schwanenboot (Annika auf korkenziehernder Ionenbahn). Cosmo hat sein manegiges Jackett zwischen den Ohren des Schweins liegengelassen, tapert nervös aus dem Karussel gen Waterfront (braucht wohl Ruhe&&Frische). Irina: „DU! Cosmo! Cosmo Tannhäuser. Gnihi. Warte doch.“ && grabbt die Jacke vom riesenrosa Schweinchen, schnuffelt 1 Mikroaugenblick dran && drückt nen Kuss drauf. (Dya. Au-hey! Hikari. Tihi! Annika. Soso!) Cosmo ist zwischen Zuckerwattestand und Wahrsagerzelt („Mme. Julia liest Ihre Zukunft aus dem Ljapunov-Attraktor“) erstocksteift – nächtlicher Meerwind zauselt ihm'S Hemd: „hat wohl gemerkt, dass ihm kalt ist“ (Dya) – dreht sich wuchtig wie unbeholfen („Find ich niedlich!“ – Hikari) && bemerkt sein Jackett fünfzig Zentimer vor seiner Nasenspitze (hintendran Irina).

Irina. Hast dein Sakko verloren, Cosmo. Hier isses.

Cosmo. – – ? Hämm – Dankeschön. – ? Du kennst meinen Namen? Haben wir uns – ?

Irina. Na, weißt nimmer? Am Kanal vor paar Tagen. Warst mit deiner kompletten Ausrüstung da && hast Künstlerisches getrieben.

Cosmo. Achja. Entsinne mich. Diese Brigadistinnen! Du warst da dabei –

Irina. Ja, und hätt mich gern mit dir unterhalten – sah faszinierend aus, was du da – aber hatte mich an einer Wurststulle verschluckt und konnte deshalb nix sagen.

Cosmo. Achje. Aber hast'S überlebt? Dann ist ja alles in Butter.

Irina. Sobald du dein Jackett wieder anhast, es wird doch kalt. Holst dir sonst'n Schnupfen. S n todschickes Jackett, hab so eins noch nie gesehen. Da!

Schwupp: Cosmo hat sein Jackett überkopp, brubbelt irgendwas, Irina flüchtet kreischquiekend zu ihren Mitbrigadistinnen.

Dya. Na. Nun hast ihn glücklich gemacht.

Irina. Tihi! Das hoff ich. (Guckt doch, wie der sich freiwurschtelt: N überdimensionaler konfuser Künstlerkranich.)

(Annika: „Sag mal, Hikari – gefällt Männern denn sowas?“ ; Hikari: „Was weiß ich, was Männern gefällt! Auf jeden Fall wird er's so bald nicht vergessen.“)

&& nun-darauf? Lässt musume sich von Mme. Julia die Zukunft lyapunovisieren? Dya: „Nix da. Weiß was besseres. Game-Arcade. Wir müssen n Tick runterkommen, was eignet sich da besser als ein Spielchen.“

 

Den Finalteil des ersten Bandes begann ich vor ziemlich genau einem Jahr zu schreiben, während ich in Köln weilte. Ich grübelte und butterte recht lang über der Frage herum, wie ich das Ganze in Angriff nehmen sollte - mein ursprünglicher Plan war recht anämisch: Die Brigade sollte sich ein Konzert anhören und Dya eine Rede halten. Als ich mich eines Abends in einem Café nahe der Zülpicher Straße aufhielt (die mithin ein Vorbild für die Chauchatstraße in der GROSSSTADT auf Tlön ist; so wie die GROSSSTADT insgesamt einige Ähnlichkeiten mit Köln aufweist), entschloss ich mich, Konzert und Rede in den literarischen Papierkorb wandern zu lassen, und stattdessen meine Puellae auf ein regelrechtes Abenteuer zu schicken: mithilfe eines Videospiels. Aus dem geplanten zehnseitigen (oder so) Schluss wurde eine komplette Episode mit eigenem Handlungsbogen - die darüberhinaus die Tlön-Ebene und die Pazifik-Ebene verknüpft. Zu dieser Episode habe ich nun einen respektablen Vorspann konstruiert. Dieser benötigt jedoch noch ein wenig Arbeit: Irinas Geschichte und der Weg vom Tempel zum Trocadero sind noch offen. Der Lötkolben des Dichter-Technologen wird nicht kalt.

 

Siegfrieds Rheinfahrt (aus "Götterdämmerung"): Wohl keine typische Karussellmusik - doch was ist in Curiepolis schon "typisch"...

 

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Irina Bolonkina: 7. August 17

 

Irina Bolonika war bislang lediglich Stichwortgeberin, schattenhafte, kaum umrissene Nebenfigur, für die Handlung nicht essentiell - die Abenteuer von Annika et al. auf Tlön wären ohne sie kaum anders verlaufen. Das soll sich nun ändern, ich möchte Irina zu einer substantiellen Figur mit Charakter, Gedanken, Eigenheiten ausbauen.

Noch wurde nicht offenbart, welchen Ort die Damen aufsuchen, nachdem sie Annika am Tempel abgeholt haben - die Szene ist noch nicht geschrieben: Manchmal ist es nützlich, sich zuerst klarzumachen, wo man hin möchte, bevor man losmarschiert. Wo sie hin wollen: das ist der curiepolitanische Trocadero, mit Blick auf die Marina (um von dort dann den Weg zur Spielarkade zu finden). In folgendem Auszug ist schon ein kleiner Hinweis darauf verborgen, wo sie sich in der Zwischenzeit aufgehalten haben:

 

„Ah!“ Türflügel aufgedeernt: Weithall && Meerwind – Trocadero Curipolitaine. Stufen Rampen Terrassen aus marmorstem Synstein, fleischbunt Tropengeblum, Palmensträuße auf Rasen in hängenden Gärten – && Agaven parabéllen ihre Nasenblüten in die Dämmerung – stetig rauschelnde Stimmlippenbrise mehrtausendfach, Meerwind bauscht unzählige Röckchen Hosen Blusen in Schwarzblau, Purpur, Lindgrün, Gold, Flammorange, Weiß, Grau, Samtrot && Schöpfe Ponys Zöpfe polang aristflutendes Gelock flattern luftgezupft. „Himmel schwarz aber Sonne noch am Himmel?“ – annikastäunlich. „Mhm“ – Dya – „S'n tropischer Sonnenuntergang, scheinbarer Sonnenpfad fast-orthogonal auf'm Horizont – Versinken geht quick, Terminatorlinie huscht mit zwölfhundert Kaämmha ran&&rüber ohne Vorwarnung.“ Emberroter Sonnenklecks – breitgeluftquallt – zwo Streifen von Wolkenruß davor, taucht, probehalber (zu kalt?), Kohlenfüße in den Okeanos, träg zitternder Glutstreif bis hin zur Marina. Pazifik glatt&&schwarz wie'n japanisches Lacktablett – nur'n Sportekranoplan gischtet düsenröhrig in 1iger Entfernung seine weitgekrümmte Bahn && aus 1000 Wolkenkratzerabgründigkeiten sprudelt'S schwatzend meerwärts, drängelt quasselt in Paaren Grüppchen Trüppchen auf Stufen && Gras && Fontainenumfassung und strömt und ruht um'S orgelnd rotternde Zeltdach 1S Karussels. Annika äugt aus pazifisch unersättlichen Irissen. Aus des Energeion' erwürd'ger Nacht. „Ich brauch'n Eis!“ – so Dya – „und ihr auch!“ Kniestrümpft munter zu sowaswie'm Kiosk (unweit Eingang Ozeanografisches Museum, n Funktionsmodell Maßstab einszudreißig vom Forschungsschiff Trilobit davor). Annika täschelt nach ihrem Portjuchhé – OH, RICHTICK – – !! – S immer noch komisch, den Puritanern n Näschen zu drehen: There are free lunches (&& icecream); näml. wenn man die Zahlungsmittel durch ihren tatsächlichen industriellen Gegenwert ersetzt: der ist = 0. Ein Roboter mit ziemlich vielen Schöpfkellen Löffeln Düsen Schneebesen und wassonstnochallem scoopt Dyas Waffel überrandvoll – s leicht himmel-hoffarende Näschen (Stüpfel Rosa spitzdrauf) walzt für&&wider zwischen Crémetrögen, über denen'S kälteraucht: „Limone – nee! Lieber Kirsch-Minze... Zimt und Walnuss mit Meersalz, Kirschtomate und Schafskäse, gib mir Bitterschokolade mit gebratenem Speck dazu und obenauf kandierte Mangowürfel nich zu knapp!“ Annika lieberklassisch – Dänemark-Variation mit Joghurtcréme und Krokant; Hikari elegant (Limone-Krebsfleisch, dazu Seetang und gebratene Pilze); Irina? verzichtet auf die Waffeltüte – „da triele ich immer daneben, gibt Flecken auf Uniform“ – kugelgeformtes Eistörtchen mit Marzipan&&türkischem Honig im Pappbecher. Die Sonne zerfließt zum schwarzroten Brandklecks, der schrumpft herzschlagschnell zusammen – schwupp! die Nacht! empfängt man mit Feuerwerk: über der Marina schillern knattern selbstgebaute Raketen, man juhuut und das Karussell spielt die Achtzehnzwölfer-Overture von Tschaikowski (Version mit echten Kanonenschüssen). Annika et al. pflanzen sich aufs Mäuerchen um die größte Fontaine, angestrahlt von magnesiumweißen && goldgelben Lichtwürfen – Curiepolis Sit-here.

 

Annika erzählt ihnen von Hinterföhren, die drei anderen lauschen, kommentieren - vor allem Irina:

 

Annika. Wenn ich Glück hatte, hieß es: „Was es nicht alles gibt!“ – manchmal hatte ich Pech, dann sind sie durchgedreht. Wie bei dem Fusorprojekt. Für einen Schulwettbewerb, hab'S in der Aula präsentiert – prompt ging alles drunter und drüber. Wie'S genau abgelaufen ist, weiß ich nicht mehr – bin ab in den Wald, Rotz und Wasser geheult – äh. Passiert manchmal. Hm-mh. Damals – hihi: Damals! Vor einer Woche. Sechshundertviertausendachthundert Sekunden – wär mir – all dies! [mit den Händen umgreifend: Curiepolis. In allem Spektralgschimmer tönende Wolkenkratzer Arkologien. Brausende trippelnde orgelnde quasseldrängelnde – Eis && Zuckerwatte schlotzende – kichernde zervende zeckende karusellfahrende schlendernde beisammenhockende schwatzende – zankende [ein wenig] – knutschende [recht reichlich!] Curiepolitaner bis hinab an die Marina – fernerab: spiegelschwarze Pazifikglätte, drauf da-dort grünes rotes Zyklopengeäug wandernder Schiffe.] – all dies!! Wie'n... Märchen vorgekommen.

Dya. [leise] Vielleicht is'S n Märchen.

Irina. [Annikas Schulter vorsichtig drückelnd] Ja, weißt – ich glaub: Jedes sucht sich sein Nest. N Ort, wo die Eismauer kaum vorhanden, mindestens durchlässig ist. So'n Ort gilt'S zu finden; ihn herstellen? – also n Dorf, ne Stadt, wo man zufällig grad ist, in sein Nest umbauen? Klappt kaum, denn: S ja schon das Nest der Anderen, die verteidigen es, kann man verstehen. Jedes sucht den Platz – [Dya. [murmlig] ...Vollzugsebene...] – wo'S mit anderen zusammen fröhlich sein kann. (Zusammen heulen? S keine Kunst! Kann jederjedejedes immer-überall. – Hat mal wer zu mir gesagt! (Find das klug.))

Annika. Wer denn?

 

Darauf erzählt Irina eine Geschichte. Man bleibe auf Frequenz!

 

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Der Programmcode zum Liss-Etymino: 3. August 17

 

 

Schildkröten, handtellergroße mit schwarzem, gelbegränderten Panzer und winzigen schaufelförmigen Köpfen, ruderten geschäftig, unaufhörlich mit ihren vier Stummelbeinen arbeitend, durch die Tiefe, kurvten und tauchten und tummelten sich umeinander, Dutzende, vielleicht Hunderte mussten es sein, die in dem kleinen Gewässer lebten, in einer begrenzten Welt voller Schlamm und Wärme und nahrhafter Schwebstoffe, Würmer, Insektenlarven, Frösche, Schnecken, kieselzarter Süßwassermuscheln. Gelegentlich kam eine von ihnen an die Oberfläche, die sie mit ihrer winzigen grauen Nase durchstieß um zu atmen, dabei entstand kaum eine Welle, kaum wurde das Wasser aufgewühlt, die Oberfläche war glatt und schwarz wie die eines Ölteichs. Das Gekraule und Gewirbel der Schildkröten, ihr unermüdliches Rudern Tauchen Gleiten, war lustig zu sehen; Annika fühlte sich zufrieden und froh, und sie lauschte: Stimmen, eine Art dunkle, pulsierende, erdige Musik klang herauf – die Schildkröten sangen. Sie sangen ein glückliches Lied vom Leben im düsterwarmen Wasser, ein sorgloses Schildkrötenlied von ihrem Dasein in der Tiefe des Teiches, den sie als ganze Welt ansahen, jenseits des Wassers gab es den erfrischenden Luftozean, in den sie von Zeit zu Zeit ihre Nasen stießen, den hielten sie für die äußerste Grenze des Universums. Ein geschäftiges, fröhliches, aber begrenztes Leben, das sie mit ihrem ewigen Gesang feierten. Doch sie hatten Annika bemerkt, ein außerordentliches, schönes, göttergleiches Wesen aus einem anderen Universum.

 

Und hier, wie versprochen, das Processing- Sourcecodepaket zum Liss-Etymino:

 

LissEtymino.zip

 

Das Programmlisting ist ausführlich kommentiert. Viel Spaß damit!

 

 

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Das Liss-Etymino: 2. August 17

 

 

Ich nenne es "Habichtkorrektur": Obwohl man gerade an einem anderen Teil des Buches intensiv zugange ist, schaut man sich einen entfernten Abschnitt an, liest ihn - ggf. seit längerer Zeit zum ersten Mal wieder - und überarbeitet ihn gründlich, unter Einsatz aller Dinge, die man in der Zwischenzeit gelernt hat. Das ist eine interessante Methode, nicht zuletzt, weil der Abschnitt dadurch für sich steht - man betrachtet ihn ja aus dem Zusammenhang gelöst - und man dadurch unbefangen an ihn herangeht. So war es kürzlich mit dem Spaziergang-Kapitel, das ich im Rahmen meines Leseproben-Paketes für Arenshoop in Angriff nahm, sowie mit dem "Bahnsteig-Abschnitt", in dem Annika am Bahnhof Hinterföhren auf den Zug wartet: Der zweite Textbaustein im Buch, am Anfang direkt nach der Mannigfaltigkeits-Overture.

 

Version 1

x²+y²=1 (genauer: n Tick ovallänglich, schattigtief, ein Talschüsselchen, draus blumt's hervor; verborgen unter Bluse Pullover Mantel) – warmströmwarm; wie ruhig es ist: Nachmittag in den Abend spätwinternd; Hand stromert grüblich bäuchleinwärts, Näschen gekeckt in den Himmel – tagelang fastfarblos steinern: so dass man kaum daran denkt, dass es ihn gibt, mit Cirren, Düsenflugzeugen, Sternen – plötzlich reingefegt trotzigtintenblau, Siebzehnuhrsonnengold schrägwärmt Schimmertrost in opalblaues Zweigeäug...

 

Dies ist die ältere Version - hier: Version 1 -, übereinstimmend mit der, die ich im Rahmen meines GASL-Paketes an Prof. Armin Eidherr und die Arno-Schmidt-Leser schickte. Sie zu verändern schwebte mir schon länger vor, einfach, weil die implizite Form des Kreises (x²+y²=1) keine sehr interessante Gleichung ist und die Gestalt von Annikas Bauchnabel sicherlich auch nur sehr ungefähr wiedergibt.

Die Eleganz und Schönheit weiblicher Bauchnabel wird in Curiepolis öfters mit Lissajouskurven in Zusammenhang gebracht - z. B. in der Tlön-Kontinuität:

 

„Der Kontrollbus: in voller Größe noch beeindruckender anzusehen, mit Pleuelstangen, messingnem Rohrwerk, sausenden Schwungrädern, knisternden glosenden Glutherden hinter schwarzem Gußeisen, dunstigen Dämpfen und flüssigen Flüssigkeiten in Rund- und Erlenmeyerkolben und Kühlschlangen, in allen Farben des Regenbogens blinkenden Kristallscherben, couchartigem Sitz für zwei Personen; auch ein Porzellankübel mit Krokussen fehlte nicht. Ich nahm den Sir Henry auf den Schoß; Selene – die übrigens nichts trug außer einem wunderschönen langen Rock, der Sonne, Mond und Sterne zeigte (die Sonne machte ein zorniges, der Mond ein gütiges Gesicht und die Sterne gruppierten sich zu allerlei Konstellationen, die am Nachthimmel Tlöns leider fehlen, da sie zu einer Hubblekugel gehören, die dämonischer ist als unsere und verträumter) – Selene also, deren Bauch aufs Wildeste lissajoute, verband die Krokusse mit der Blühleitung und der Bus fuhr – d.h. eigentlich: flog (ein Luftikusbus, gewissermaßen!) – ab.“

 

~~~

 

[...] eine stolzierwuchtige Kastanienhaarige beherrscht den Entengang perfekt, lissajuhut aufgeräumt ihren Bauchnabel.

 

Demzufolge war klar, wie eine verbesserte Form des Bahnsteig-Abschnitts auszusehen hatte:

 

Version 2

double Ax = 17.5, Ay = 20.0, delta = 0.0, r1, r2; for(double theta = 0; Ax < 1000; Ax *= 1.00001, Ay *= 1.00001, theta += 0.002) {r1 = Ax * sin((float)(theta)); r2 = Ay * cos((float)(fy*theta + delta)); fy += 3.0e-8; delta += 3.0e-6;} (d.h.: n Tick ovallänglich, Talschüsselchen schattigtief, draus blumt'ΔS hervor; verborgen unter Bluse Pullover Mantel) – arouseIsothermerosIsobareroiIsotherariseRumalberLonga.; wie ruhig es ist: Nachmittag in den Abend spätwinternd; Hand stromert grüblich bäuchleinwärts, Näschen gekeckt in den Himmel – tagelang fastfarblos steinern: so dass man kaum daran denkt, dass es ihn gibt, mit Cirren, Düsenflugzeugen, Sternen – plötzlich reingefegt trotzigtintenblau, Siebzehnuhrsonnengold schrägwärmt Schimmertrost in opalblaues Zweigeäug...

 

Der Programmcode - über den Annika wohl gerade nachdenkt - variiert die Kurven, indem er den Frequenz- und Phasenunterschied dauernd vergrößert. Das Wort "warmströmwarm" wurde - da "warm" zum einen ein eher schwaches Adjektiv ist und zum anderen im vorangehenden Mannigfaltigkeits-Abschnitt (der Eröffnung des Buches) bereits gegen Ende vorkommt - gegen das "Etymonster" arouseIsothermerosIsobareroiIsotherariseRumalberLonga getauscht. Bevor ihr weiterlest, versucht doch mal, es zu enträtseln!

Ausgangspunkt ist das STEINsche "rose is a rose is a rose is a rose" - die zarte Blume mag sowohl für Annika insgesamt, wie insbesondere für Duft und Haptik ihres Bauches stehen. Aus "rose" wird nach SCHMIDTscher Etymistik "eros", nach HERRMANNscher Techno-Etymistik "Eroi/EROI". "Arise" liegt in der Nähe (auch es im Sinne von SCHMIDT/FREUD deutbar), natürlich "Aroma" - "a Roma", welches der Sage nach aus "Alba Longa" hervorging, was gut zum curiepolitanischen Thema der Gründung einer neuen Stadt auf dem Hügel passt. Nun sind die Hauptakteure der irdisch-pazifischen Handlungsebene Teenagermädchen, von denen ja bekannt ist, dass sie nicht zu knapp zum Herumalbern neigen: "RumalberLonga". Das "is a" zwischen den etymisierten Rosen habe ich kurzerhand zu den Iso-Linien aus dem MUSILschen Wetterbericht ausgebaut; immerhin ist Meteorologie bzw. Wetter oder Atmosphärenkunde ein häufiges Motiv in Curiepolis.

Bachpirat stufte das Etymonster als Overkill ein, was ich nachvollziehen konnte, nichtsdestotrotz speicherte ich es in einer Datei namens "worte-etyms-etyminos", vermutlich werde ich es irgendwo verwenden - doch vielleicht eher nicht gleich am Anfang des Buches. Zwar orientiere ich mich beim Schreiben an dem Grundsatz "Ist es zu stark, bist du zu schwach", aber mich plagte die Vision einer äußerst charmanten Germanistikstudentin, die im Jahr 2075 ihre Abschlussarbeit über Curiepolis schreiben möchte, jedoch durch das Monster auf der ersten Seite verschreckt wird. Ich nahm also den Abschnitt erneut in Angriff...

Außerdem ist Annika die titelgebende Hauptfigur des ersten Bandes, die Leserin sollte sich in sie hineinversetzen, mit ihr lachen und weinen: Daher beschloss ich, einige Sätze vor den Code zu stellen, in denen man Annika sehr persönlich und emotional kennenlernt - ihr häufiges Gefühl des Alleinseins in Hinterföhren soll das Erste sein, was die Leserin von ihr erfährt. So entstand die "Ahrenshooper Version" des Abschnittes:

 

Version 3

Woanders-sein – kaum vorstellbar – Worte einer unbekannten Sprache, ungedachte Gedanken bezeichnend, und doch: das vertrauteste der Längeren Gedankenspiele. Woanders? gibt es keine Kälte, braucht man sich nicht fest in den Mantel zu wickeln, stets gefasst auf sturspöttisches Augengeflatter. double Ax = 17.5, Ay = 20.0, delta = 0.0, r1, r2; for(double theta = 0; Ax < 1000; Ax *= 1.00001, Ay *= 1.00001, theta += 0.002) {r1 = Ax * sin(theta); r2 = Ay * cos(fy*theta + delta); fy += 3.0e-8; delta += 3.0e-6;} (D.h.: n Tick ovallänglich, Talschüsselchen schattigtief, draus blumt'ΔS hervor; verborgen unter Bluse Pullover Mantel – Junirosenström.)

 

"Woanders-sein – kaum vorstellbar – Worte einer unbekannten Sprache..." - dies habe ich früher zuweilen selbst so empfunden: Ich wünschte mir nichts mehr, als meinen momentanen Aufenthaltsort zu verlassen, woanders zu sein, aber wie dies gehen sollte, war mir schleierhaft, ich fühlte mich geradezu festgefroren, unfähig, durch eigene Handlung den Status Quo zu ändern, so dass mir nur Längere Gedankenspiele blieben. Version 3 war in meinem Ahrenshoop-Paket enthalten, allerdings kamen mir beim neuerlichen Durchlesen Zweifel. Annika ist zwar eine höchst verträumte Längeregedankenspielerin, aber sie hat auch etwas recht Zupackendes - wie sonst könnte sie mit sechzehn bereits einen kompletten Computer gelötet (aus alten ICs und Komponenten, auf eine Motorola 68000 CPU zurückgreifend - ohne irgendwelche Raspberry-Bausätze!) und einen Compiler plus Betriebssystem für ihn entwickelt haben! Das Gefühl des "Festgefrorenseins" dürfte bei ihr in dieser Form nicht entstehen - vielmehr sollte sie bereits mehr oder minder realistische Pläne zur Flucht aus Hinterföhren hegen. Diese Überlegungen führten mich auf:

 

Version 4

Vertrautestes der Längeren Gedankenspiele: Woanders-sein. Himmelsblick der All-1en. (Mantelärmel in Mantelärmel? Niemand hat zwei rechte Hände.) Woanders: Blick-in-Blick – Energieflussdichte der Seele – vielleicht erzählt man sich was && kichert universono... double Ax = 17.5, Ay = 20.0, delta = 0.0, r1, r2; for(double theta = 0; Ax < 1000; Ax *= 1.00001, Ay *= 1.00001, theta += 0.002) {r1 = Ax * sin(theta); r2 = Ay * cos(fy*theta + delta); fy += 3.0e-8; delta += 3.0e-6;} (D.h.: n Tick ovallänglich, Talschüsselchen schattigtief, draus blumt'ΔS hervor; verborgen unter Bluse Pullover Mantel – Zeit und Ort und Wind bedeutungslos.)

 

Die aktuelleste Variante. (Ich sollte eventuell eine Versionverwaltung wie für Software-Pakete einführen!) Das Gefühl des Alleinseins wird nun angedeutet durch den Versuch, sich durch Ineinanderschieben der Mantelärmel vor Kälte zu schützen - aber man kann eben nicht seine eigene Hand schütteln. "Zeit und Ort und Wind bedeutungslos" - diese Schilderung der Empfindung, die Annika beim Betasten ihres Bauches befällt, stammt aus der Hochstand-Szene, es ist ein Vorgriff auf sie, eine Art langes literarisches Axon.

 

Hier kann eine Komplettzusammenstellung der vier Versionen, mit etwas Wortmaterial und der Hochstand-Szene als Bonus, heruntergeladen werden:

 

annika-bahnsteigszene-versionen.pdf

 

Übrigens wird nicht nur die Hochstand-Szene an dieser Stelle vorgreifend referenziert: Auch die Etymino-Theorie, die im Finale des ersten Bandes zum zentralen Thema wird, deutet sich bereits an, so dass sie gewissermaßen das Buch umrahmt. Der Lissajous-Sourcecode ist ein solches Etymino - das Liss-Etymino! Anders als die SCHMIDTschen Etyms, die die FREUDschen Instanzen verbinden, wirken die Etyminos zwischen Vollzugsebenen, d.h. zwischen Geschichten bzw. "Realitäten". Da Sprache jedoch nur innerhalb von Geschichten mächtig ist - und wir keine Lust haben, uns WITTGENSTEINschen Schweigegeboten zu unterwerfen - müssen die Etyminos anderer Natur sein: Sie erscheinen z. B. als Computergrafiken. Das Bild ganz oben ist eine solche Etyminografik, es beruht auf dem Sourcecode, an den Annika denkt.

Die Mathematikstudentinnen unter euch werden sich jetzt am Kopfe kratzen: Die Kurven sehen zwar irgendwie nach Lissajous aus, scheinen aber doch wesentlich wilder geformt. Die Radien werden laufend vergrößert, so dass eine Spiralisierung entsteht, Frequenzen und Phasen ändern sich - aber auch dies vermag den traumartig taumelnden, schlingernden Kurvenverlauf noch nicht hinreichend zu erklären. Es sind nämlich keine Lissajous-Kurven im üblichen Sinne, sondern verallgemeinerte Lissajouskurven nach HERRMANN, die man eventuell auch Palmstroemkurven nennen könnte! Diese Kurven entstehen wie folgt.

Klassische Lissajouskurven werden, wie ihr wohl wisst, durch zwei senkrecht aufeinanderstehende harmonische Oszillatoren erzeugt - man kann sie sich als schwingende, aneinander befestigte Schraubenfedern denken -, mit unterschiedlichen Frequenzen und einer Phasenverschiebung.

 

 

Zu den verallgemeinerten Lissajouskurven gelangt man, indem man sowohl die Vorgabe eines Neunziggradwinkels zwischen den Oszillatoren, wie auch die Beschränkung derer Anzahl auf zwei fallen lässt:

 

 

Zur Erzeugung des Bildes werden zwei verallgemeinerte Lissajouskurven übereinandergelegt und mittels eines Pixelbearbeitungsalgorithmus' verknüpft, der die Bildpunkte vervierfacht, und dort, wo die Kurven sich schneiden, die Farben verändert.

Im Sinne des Curiepolis-PCs wurden nur 16 Farbwerte verwendet - mit Ausnahme von Annika, die, als gescanntes Aquarellbild, natürlich eine größere Palette in Anspruch nimmt.

Ein weiteres Liss-Etymino-Bild:

 

 

Den Sourcecode zu den Bildern gibt es heute abend - spätestens in der Nacht auf Donnerstag - zum Download!

 

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Fabian Herrmann, 2016 ‒ 17

 

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