INDIEN IST NICHT AMERIKA
UND KALKUTTA LIEGT NICHT AM GANGES

[Kalkutta, 
Howra-Brücke über den Hugli][San 
Francisco, Golden Gate Bridge]

Fortsetzung von Teil IV

Nun bleibt Dikigoros nur noch ein letztes Kapitel über Indien zu schreiben - ein Kapitel über die letzten Fragen, und nicht von ungefähr verbindet er das mit der letzten Weltreligion, die in Indien ihren Ursprung genommen, und mit dem letzten großen Kultur-Monument in Indien, über das er noch nicht berichtet hat.

Nein, er meint nicht den Zwillingsbruder des Tāj Mähäl in Aurangābād - den bildet er nur aus Paritätsgründen ab und weil er der Meinung ist, daß der auch nicht viel schlechter aussieht (dafür aber, weil mit weniger "erlesenen" Materialien erbaut, erheblich billiger in der Herstellung war). Aber das ist nun mal der Ausgangspunkt für einen Besuch der einstigen buddhistischen Heiligtümer von Ajantā und Ellūrā, die vor allem durch ihre Kombination mit der großartigen Landschaft imponieren. Vor einem derselben kommt er mit einem japanischen Touristen ins Gespräch, einem gebildeten Mann in seinem Alter, aber wahrscheinlich ebenso wenig repräsentativ für Japan wie er selber für Deutschland, denn er reist allein, nicht in einer Gruppe, wie das sonst jeder anständige Japaner tut. Aber er ist ein frommer Mann, mit dem man trefflich über Buddhismus, Sãskar, Moksh und Nirwan streiten kann. Dikigoros macht aus seinem Herzen keine Mördergrube - er hat Euch ja schon weiter oben berichtet, was er von jenem Glauben und seinen praktischen Auswirkungen hält. "Aber wie können Sie so etwas behaupten," sagt der Japaner, "auch wir Buddhisten glauben an gute Taten. Sehen Sie, wir glauben an die 'vier Wahrheiten': 1. Leben ist Leiden, 2. Ursache des Leidens ist Gier, Durst, Verlangen oder wie Sie das sonst immer übersetzen wollen, 3. Beseitigung des Leidens ist nur durch Beseitigung der Gier möglich, und 4. der Weg zur Erlösung ist der "achtteilige Pfad", und damit kommen wir Ihrer Vorstellung von Karma doch schon sehr entgegen: Richtiges Sehen, Denken, Reden, Handeln, Leben, Streben, Aufpassen, Konzentrieren. Ist das nicht praktisch gedacht?" - "Mit Verlaub, das ist doch alles hohles Gewäsch," sagt Dikigoros, "denn das gibt mir keine Antwort auf die Frage, was denn nun 'richtig' ist. Und überhaupt liegt in Ihrer 3. Wahrheit ja schon ein Kardinalfehler, psychologisch gesehen: Beseitigung der Gier, des Durstes oder des Verlangens ist eben nicht nur durch Verzicht, möglich, sondern auch durch Erfüllung." - "Welcher Religion gehören Sie an?" - "Formell dem Katholizismus." - "Aha, Hitler war auch Katholik." (Das mußte ja kommen!)

- "Pol Pot war auch Buddhist," kontert Dikigoros, "sogar ein ehemaliger Mönch. Meinen Sie nicht, daß es für Sie als Japaner angemessener wäre, an den Weg Ihrer Götter, Ihrer Kami zu glauben?" - "Für mich ist Buddha ein Kami." - "Und genau das wollte er eben nicht sein." - "Und Christus?" - "Hielt sich immerhin für den Sohn Gottes, wie Ihr Tenno." - "Niemand hält den noch für einen Gott oder für den Sohn eines Gottes, er selber am allerwenigsten; er ist ein naturwissenschaftlich gebildeter Mensch." - "Wenn Sie auch ein naturwissenschaftlich gebildeter Mensch wären, müßten Sie doch an Sãskar glauben." - "Wieso?" - "Nun, Leben ist Aufnahme, Verarbeitung und Weitergabe von Informationen, ursprünglich durch Gene, später durch Sprache, Sagen, dann in Schriften, erst auf Monumenten, dann in Büchern, dann durch Bits und Bytes auf dem Computer. Die Eiweißbausteine aller tierischen Lebewesen auf der Erde folgen dem gleichen Muster. Wer sagt Ihnen, daß nicht irgendwann innerhalb eines sehr langen Zeitraums, in dem die Hindūs denken, mal ein exakt gleiches Individuum wiedergeboren wird? Oder ein ähnliches, mit nur wenig Abweichungen? Und wer sagt Ihnen, daß die Verhaltensweisen des heutigen Individuums, sein Karm, auf diese Rekombination gänzlich ohne Auswirkung bleiben? Darwin hat das übrigens auch noch geglaubt, erst seine Nachfolger haben die These von der Weiterwirkung erworbener Fähigkeiten verworfen." - "Sie sagten doch, daß Sie Religionen nach ihren praktischen Auswirkungen beurteilen. Wo hat denn der Hinduismus überlebt? Doch nur in Indien. Und wie? Ich möchte nicht tauschen. Kennen Sie Japan?" Dikigoros lächelt: "Wer sagt Ihnen, daß nicht das Gute in Japan vom Shintōismus kommt und das Schlechte vom Buddhismus?" - "Der Weg der Götter war der Weg in den Krieg." - "Sie hat man aber ganz schön umerzogen." - "Nehmen Sie doch andere praktische Beispiele. Die Taiwanesen sind Buddhisten, die Rot-Chinesen nicht - wo meinen Sie, lebt man besser? Und geht es Ländern wie Ceylon und Thailand nicht um vieles besser als den meisten nicht-buddhistischen Ländern in Asien?" - "Na ja, wenn die Alternative 'Buddhismus oder Islam' lautet, ist der erstere natürlich das geringere Übel. Aber wie gesagt: Kambodja, Barmā..." - "Der Buddhismus ist der Fels in der kommunistischen Brandung, der den Menschen dort die Kraft gibt, die Diktaturen zu überdauern, so wie in Tibet. Ohne den Buddhismus hätten die Rot-Chinesen die Tibeter längst ausgerottet oder assimiliert, was aufs gleiche hinaus liefe." - "Es war die anti-westliche Hetze buddhistischer Mönche, die den Vietnam-Krieg zugunsten der Kommunisten entschieden hat." - "Das waren eben schlechte Buddhisten."

[Exkurs. Politisch gesehen hatte der gute Mann sicher Recht: Die Rot-Chinesen betrachten nicht so sehr das kleine, an sich harmlose Volk der Tibbäter als seinen Feind, sondern vielmehr die buddhistische Religion, deshalb versuchen sie zunehmend auch auf weitere Länder zuzugreifen, wo er bisher dominierte: In Nepāl ist es den Maoisten - so nennt Dikigoros die Peking-hörigen Kommunisten der Einfachheit halber weiterhin - ihnen zu Beginn des neuen Jahrtausend gelungen, die Monarchie (die eigentlich eine buddhistische Theokratie war) de facto zu entmachten. In Barmā haben sie 2007 die Militär-Diktatur vor dem Sturz bewahrt, indem sie eine Unterstützung der UNO für die aufständischen buddhistischen Mönche verhinderten. (Bei der Gelegenheit haben sie Barmā auch gleich noch reichlich "Berater" - vor allem Militär-"Berater" - zur Verfügung gestellt, und dafür ein paar kleinere Flottenstützpunkte bekommen - ja, die Volksrepublik China steht längst am Indischen Ozean, und kaum jemand hat es bemerkt.) Und 2008 haben sie - von der Weltöffentlichkeit und ihren Medien weitgehend unbeachtet - das buddhistische Königreich Bhutān besetzt, das wohl das gleiche Schicksal erleiden wird wie vor ihm Tibbät und Nepāl. Und vergessen wir nicht die starken Kommunisten - nicht nur die "Naxaliten" - im einstigen buddhistischen Reich von Māgdh - über das Dikigoros an anderer Stelle schreibt -, das sich heute "West-Bengalen" und "Bihār" nennt. Exkurs Ende.]

* * * * *

Nein, mit jenem netten Zeitgenossen kommt Dikigoros auf keinen gemeinsamen Nenner - muß ja auch gar nicht sein; jeder soll mit seiner Wahrheit und auf seinem Weg (oder, wie mal ein preußischer König, der nicht viel Deutsch konnte sagte: nach seiner Façon) selig werden, so gut er kann. Und nun wäre es natürlich schön, wenn Euch Dikigoros etwa von einer persönlichen Begegnung mit dem letzten religiösen und weltlichen Führers des Buddhismus berichten könnte, der ja, wie jeder weiß, im indischen Exil lebt, dem "Dālaī Lāmā [Linsenmönch]" in Dharmshālā, nach einer Eisenbahnfahrt durch das idyllische Kangra-Tal...

Aber Dikigoros muß Euch enttäuschen: Er war zwar mal unterwegs dorthin, aber dann entschied er sich doch, die östliche Abzweigung von Mandī ins Kullū-Tal zu nehmen, um nach Leh weiter zu fahren - daß er dann doch nicht über Manalī hinaus gekommen ist, steht auf einem anderen Blatt, das er an dieser Stelle nicht zu beschreiben gedenkt. Aber der tibetische Lamaismus ist ja in aller Welt aktiv; und eine seiner Propaganda-Hochburgen in Europa ist, wie es der Zufall will, Sankt Augustin bei Bonn, ausgerechnet der Ort, der nach einem Kloster benannt ist, das die christliche Mission in Indien auf seine Fahnen geschrieben hat.
die Steyler Mission (...)
die konkurrierenden Exil-Tibeter (...)

* * * * *

Dikigoros' treue Leser ahnen wahrscheinlich längst, daß er mit der Fortsetzung eigentlich so lange warten wollte, bis der Linsenmönch das Zeitliche gesegnet hat und man dann vielleicht etwas Aktuelleres an dieser Stelle ausbreiten könnte. Aber inzwischen hat er so viele Mails bekommen, die ihn nach seiner eigenen "Konvertierung zum Hinduïsmus" fragen, daß er sie nicht länger hinhalten will - zumal da doch einige ziemlich krause Vorstellungen durch die Köpfe zu geistern scheinen - und das vorweg nimmt.

Also, zunächst einmal ist "der Hinduïsmus" keine Religion wie etwa das Christentum, der Islam oder das Judentum, denn er hängt weder von einem Bekenntnis noch von einem Glauben ab, geschweige denn von einem Glaubensbekenntnis. Er beruht vielmehr auf dem Wissen um den Sanatan Dharm, den ewigen Weg des Schicksals, dessen Regeln alles Leben auf Erden unterworfen ist, auch das der Menschen, egal ob sie es wissen bzw. daran "glauben" oder nicht. Deshalb braucht man auch niemanden zu bekehren oder zu überzeugen; wenn jemand den Weg findet, ist es gut, wenn nicht, dann vielleicht in einem späteren Leben. Jawohl, auch das Wissen um Sanskar, den Kreislauf des Lebens, gehört dazu, wenngleich er nicht so primitiv ist, wie Lieschen Müller im Westen (und leider auch manche unwissende Menschen in Indien) sich das vorstellen: Es gibt keine "Wiederauferstehung", wie die Christen glauben, sondern eine "Wiedergeburt", d.h. die Gene bleiben erhalten, und irgendwann in Millionen Generationen wird vielleicht wieder ein Lebewesen mit exakt identischen Genen geboren, und bis es soweit ist, leben die Gene in anderer Zusammensetzung weiter - und sei es als Bestandteil der Nahrungskette in anderen Lebewesen. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen - schließlich gibt es nur eine bestimmte Zahl von Kombinationsmöglichkeiten -, und wissenschaftlich sicher besser fundiert als der Glaube anderer Religionen. Daraus folgt zugleich, daß man Hindu sein kann, ohne einer bestimmten "Kirche", "Konfession" oder "Schule" anzugehören, einfach nur, indem man wissentlich seinem Dharm folgt. Aber irgendwie will man ja doch seine Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen; und da es in Deutschland keine wirklich ernst zu nehmenden Hindu-Gemeinden gibt, drängt sich halt das Heimatland auf, zumal für jemanden, der ohnehin öfters nach Indien reist. Da stellt sich nun ganz konkret die Frage, welchem Tempel man "beitreten" soll. Bei den Christen kann man sich das nicht aussuchen: Dort wo man wohnt, da gehört man einfach "dazu", und wenn man umzieht, wechselt man automatisch auch die Gemeinde. Nicht so in Indien, dort kann man wählen, und deshalb sollte man das auch mit Verstand tun. (Ja ja, liebe Kritiker, viele Inder haben in der Praxis keine große Wahl, weil sie nie aus ihrem Dorf heraus kommen; aber Ihr würdet Euch wundern, wie viele es doch tun, um ihr Karm zu verbessern :-) Die Frage "Wishnu- oder Shiw-Tempel?" ist schnell beantwortet: Shiw ist der ältere, "echtere" Gott; Wishnu ist im Laufe der Jahrtausende immer mehr verwässert worden, schon durch seine vielen Avtare, und paßt auch sonst nicht wirklich zum Sanatan Dharm: Zum Kreislauf des Lebens gehören nun mal Schöpfung und Zerstörung, Geburt und Sterben, eines kann ohne das andere nicht sein, und deshalb ist Shiw auch genau das: Der Gott der Zerstörung und der Schöpfung. (Und, nebenbei bemerkt, ist er ein Zwitter, auch wenn man seine weibliche Seite heute für gewöhnlich seiner später hinzu erfundenen Gattin zuweist; aber Dikigoros will hier keine Lehrstunde in theoretischem Hinduïsmus abhalten.) Also muß man nur einen passenden Shiw-Tempel als sein "geistiges Zuhause" auswählen. Eigentlich ist auch das ganz einfach, d.h. es könnte ganz einfach sein: Man nehme ein paar Geldscheine in die Hand, fahre in die nächste Kleinstadt (nein, nicht ins nächste Dorf, dort würde sich vielleicht doch der eine oder andere Unwissende an einem "Ausländer" stören), wo es die Tempel nicht so dicke haben, und trage sich ein. Urkunde, Stempel, fertig - viele Tempel halten die Vordrucke für Ausländer gleich zweisprachig bereit, zum Mitnehmen und in-aller-Ruhe-selber-ausfüllen, no further questions asked, außer nach der Spende, versteht sich.

[It is hereby certified...]

Pardon, liebe Leser, aber so etwas macht Dikigoros nicht - so gut müßtet Ihr ihn doch inzwischen kennen, oder? Selbstverständlich will er sich den besten aller möglichen Tempel aussuchen, und eigentlich ist auch das ganz einfach, wenngleich Ihr das keinem Inder erzählen dürft. Shiwas Anhänger streiten nämlich erbittert, welcher seiner Tempel der größte, schönste und wichtigste sei, und ernsthaft in Frage kommen dafür nur die 12 übrig gebliebenen (früher waren es angeblich mal 64) Jyotirling-Tempel, d.h. Tempel, die für sich in Anspruch nehmen, den einzig wahren Shiwlingam zu beherbergen.

Simple Gemüter - vor allem Frauen, die zu ihm um Kinderreichtum beten - halten ihn für einen versteinerten Riesenpenis, aber das zeigt nur, daß sie die heiligen Schriften nicht gelesen haben; denn ursprünglich bedeutet Lingam nicht Shiwas Penis, sondern die [Licht-]Säule (Stambh), mit der er Himmel und Erde verband; der Lingam symbolisiert also einen Sonnenstrahl. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, daß der Sonnenstrahlen ja viele sind, so daß es auch viele gleichberechtigte Jyotirling-Tempel geben könnte; aber das ist eine Irrtum, der auf unserer Sprache beruht, liebe Leser, denn es gibt ja gar keine Sonnenstrahlen, sondern nur eine Sonnenstrahlung, die von der Sonne auf die Erde trifft (auch wenn sie aus vielen einzelnen Protuberanzen entstanden sein mag, liebe Filologen - wir wollen hier doch keine Haare spalten); folglich kann es auch nur einen echten Jyotirlingam geben, halt den, den Shiw einst schuf. Wie bekommen wir nun heraus, welcher das ist?

Ihr dürft versichert sein, liebe Leser, daß Dikigoros alle 12 Jyotirling-Tempel einem Darshan unterworfen hat, auch wenn er das nicht jedes Mal eigens erwähnt hat, denn er tat es nicht gezielt, sondern eher zufällig - wenn man vor Ort ist, nimmt man so eine Sehenswürdigkeit halt mit, und sei es nur im Vorübergehen. Aber viele scheiden aus, weil sie strategisch ungünstig liegen, weit vom Schuß, in irgendwelchen Randzonen, wo die Verehrung Shiwas ganz gewiß nicht ihren Ausgang genommen hat. Nein, solche religiösen Stätten müssen im Zentrum ihres Verbreitungsgebiets liegen; und Ihr habt ja schon weiter oben gelesen, wo Dikigoros das geografische Herz Indiens sieht - zu dem mehr gehört als bloß der heutige Staat Bharat -, nämlich in der Gegend um Indaur. Dennoch meint er entgegen der dort herrschenden Meinung nicht den Māhākaleshwar-Tempel im nahe gelegenen Ujjain. Warum nicht? Nun, originäre Heiligtümer liegen immer an heiligen Flüssen - und das kommt von "fließen"; ein bloßer "Tank", wie die Inder ihre künstlichen Seen nennen, mit stehendem Wasser genügt also nicht, und sei er auch noch so schön und groß. Das ist ein uraltes Gesetz; und Ihr wißt ja, welchen Dikigoros für den heiligen Fluß Indiens hält: weder den Indus, noch den Ganges noch den Brahmaputra (die mögen zwar auch irgendwie heilig sein - wie noch viele andere Flüsse -, aber halt nur in der zweiten Reihe), sondern - den Narmadā. Halt, wir sollten noch etwas weiter ausholen: Religionen fallen ja - entgegen dem, was z.B. Christen glauben - nicht vom Himmel, wie der "Heilige Geist", sondern sie werden von Menschen ersonnen; und diese Menschen suchen naturgemäß nach Orten, wo sich diese Religion am besten praktizieren läßt. Erst wenn sie die gefunden haben, können sie anfangen, dort Tempel o.ä. zu bauen. Seht Ihr, es macht doch keinen Sinn, nach dem vermeintlich schönsten, größten oder wichtigsten Gotteshaus zu suchen, das ist doch nur Holz (oder Stein) und Glas - neuerdings auch Stahl und Beton, denn ständig werden neue Gebäude errichtet, wenngleich nur noch selten im Christentum; aber der Islam z.B. schreitet von Rekord- zu Rekord-Moschee, und auch die indische Bevölkerung nimmt ja - noch - zu. Wir suchen also nicht das richtige Gebäude oder den richtigen Lingam (beide sind austauschbar, mußten es in Indien auch sein, wegen der wiederholten Zerstörungen durch die verfluchten muslimischen Invasoren), sondern den richtigen Ort. Und da dort ja auch größere Menschenmengen zusammen kommen sollen, ist schon aus sanitären Gründen ein Fluß unabdingbar. (Nein, nicht zum Transport - Inder pilgern für gewöhnlich zu Fuß, jedenfalls taten sie es bis vor wenigen Generationen, d.h. bevor Eisenbahnen, Autos und Flugzeuge gebaut wurden, und es geht uns ja um die alten heiligen Stätten :-) Aber zentrale Lage und ein Fluß reichen noch nicht aus - da gäbe es (viel zu) viele Lokalitäten. Nein, es muß noch etwas hinzu kommen, etwas, bei dessen Anblick jeder Reisende sofort sagt: "Natürlich...!" Der Inder nennt das "swayambhu [selbstgeboren]", d.h. etwas, das von der Natur, nicht von Menschenhand geschaffen ist. Das nimmt insbesondere der Māhākaleshwar-Tempel in Ujjain für sich in Anspruch; aber offen gestanden fand Dikigoros gerade den am un-natürlichsten: eine große, kalte, "herzlose" Anlage, und ganz unzweifelhaft von Menschenhand erschaffen - nein danke!

Wo dann? Wenn Ihr Euch die Abbildungen der 12 Jyotirling-Tempel oben aufmerksam angeschaut habt, dann habt Ihr sicher festgestellt, daß jeweils das zentrale Bild vertauscht ist: links zeigt es eine Innenansicht inmitten von Außenansichten, rechts ist es umgekehrt. Warum? Nun, die linke Abbildung ist "neutral"; die rechte ist es nicht: sie zeigt vielmehr ein Inselchen - Shiwpuri genannt -, dessen Bergrücken rein zufällig (na klar ist das bloßer Zufall, liebe Leser, aber für solche Zufälle muß man einen Blick haben, auch als Religionsstifter!) die Form der heiligen Silbe "aum" aufweisen. (Na ja, mit etwas Fantasie :-) Das ist "swayambhu" im besten Sinne des Wortes; also muß der Aumkāreshwar-, oder wie man es heute meist transkribiert, Omkāreshwar-Tempel derjenige sein, den wir suchen - oder? Ganz anderer Meinung die meisten Inder, denn wie nicht anders zu erwarten, gibt es an einer so günstig gelegenen Stelle mehr als nur einen Tempel. Der zweite ist der Amreshwar-(oder [M]Amleshwar)-Tempel, und nur der gilt offiziell als Jyotirling-Tempel. Der sei älter - eine seiner Außenmauern soll aus dem 11. Jahrhundert stammen -, und es gebe eine Jahrhunderte alte Tradition, Miniatur-Lingen aus Ton dort aufzustellen und sie, wenn es ihrer zu viele werden, in den Narmadā zu entsorgen. Der Witz ist nur, daß der gar nicht auf der Insel Shiwpuri liegt, sondern gegenüber dem Omkāreshwar-Tempel auf dem Festland; aber dafür weiß man eine Erklärung: Ursprünglich sei nicht die Insel heilig gewesen - wer konnte vor Erfindung des Fliegens schon aus der Vogelschau deren Form sehen? -; vielmehr sei der Narmadā früher an dieser Stelle so geflossen, daß sein Verlauf die heilige Silbe "aum" gebildet habe. Hm... wer soll das glauben? So verläuft kein Fluß, so kann kein Fluß verlaufen; dagegen kann man vom gegenüber liegenden Berg sehr wohl in der Vogelschau auf die Insel sehen; auf Gebäude und deren Alter kommt es wie gesagt nicht an; und was jene famose Tradition anbelangt: Was sind schon Jahrhunderte im Hinduïsmus?

Dikigoros hat versucht, die Frage nach dem "richtigen" Ort mit einem der Priester des Amreshwar-Tempels zu diskutieren - aber keiner des knappen halben Dutzends, das es noch gibt (Priestermangel auch hier?!? :-) war dazu bereit: so etwas diskutiert man nicht, wenn man sich im "Recht" weiß. Ein Priester des Omkāreshwar-Tempels ist da viel souveräner: "Wissen Sie, früher gab es hier noch viel mehr Tempel; aber die wurden alle von den Muslimen zerstört, und Sie sehen davon höchstens noch ein paar zertrümmerte Überreste; nur unsere beiden Tempel hatten das Glück, wieder aufgebaut zu werden. Aber am wichtigsten ist doch die heilige Insel an sich; und die ist bedroht." - "Wieso?" - "Ja, von wo sind Sie denn angereist?" - "Von Indaur." - "Ach so; wenn Sie von Osten gekommen wären, hätten Sie dort den riesigen Damm gesehen, mit dem diese Narren den Narmadā stauen wollen - es soll das größte Kraftwerk Indiens werden." (Dieses Gespräch war übrigens der Anlaß für Dikigoros, eine neue Seite seiner "Reisen durch die Vergangenheit" aufzulegen, "Wenn die Dämme brechen", die leider noch nicht allzuweit fortgeschritten ist; aber kommt Zeit, kommt Rat :-) Die Auswirkungen sehen Sie schon jetzt; früher floß hier nämlich mal der Kāwerī in den Narmadā; jetzt ist die Mündung viel weiter unten; was den Pilgern heute als "Sangam" verkauft wird, ist eigentlich nur noch ein Flußarm des Narmadā..." - "Moment mal, der Kāwerī liegt doch in Südindien?!" Der Priester lächelt: Das ist ein anderer Kāwerī, diese Namensgleichheit hat schon zu interessanten Verwechslungen Anlaß gegeben; wenn Sie nicht schon überzeugt wären, daß dies die Stelle des richtigen Jyotirling ist, würde ich Ihnen jetzt die Geschichte erzählen, wie es dazu kam, daß einige Leute den Rāmeshwar-Tempel am anderen Kāwerī für einen Jyotirling-Tempel halten - obwohl das doch ausweislich seines Namens ursprünglich ein Wishnu-Tempel war. [Rām ist ein Avtar Wishnus, Anm. Dikigoros] Man könnte ja wirklich meinen, daß da eine Duplizität der Ereignisse vorliegt, bis in die Gegenwart. Sie haben vielleicht schon gehört, daß man dort unten zur Förderung der Schiffahrt die See ausbaggern und dabei die alte, unter dem Wasserspiegel gelegene Adams-Brücke nach Ceylon [über die Dikigoros an anderer Stelle schreibt] zerstören will; alle juristischen Mittel dagegen sind ausgeschöpft - ohne Erfolg; die Gutachter haben einfach behauptet, es gebe gar keine Adams-Brücke. Auch wir haben alles versucht, den Dammbau zu verhindern, ebenfalls vergeblich; die Gutachter haben behauptet, es gebe keine heiligen Flüsse, und wenn, dann würde ihnen ein Staudamm nichts schaden." - "Alles?" - "Wir können doch keine Bombe werfen, wir sind schließlich keine Muslime." - "Shiw ist der Gott der Zerstörung." - "Ja, aber..." er zögert einen Augenblick, denn was er jetzt als Argument aufs Tapet bringt, ist eigentlich nicht sehr nett - und vor allem nicht sehr hinduïstisch - gedacht: "Wenn wirklich mal ein Dammbruch kommen sollte, dann saufen die da drüben zuerst ab, denn unser Tempel ist höher gelegen; und wenn es hart auf hart kommt, dann verlegen wir ihn halt nach oben, notfalls bis an die Spitze, wo jetzt das Gasthaus steht. Und meinetwegen kann auch die Brücke absaufen; ich finde das Übersetzen mit dem Boot sowieso viel schöner; wer kein gutes Karm hat oder mit schlechten Gedanken anreist, dessen Boot kentert, und den fressen die Krokodile." Nach allgemeiner Auffassung ist der Narmadā (oder war es zumindest bis vor kurzem) an dieser Stelle voller Krokodile - ein weiterer Grund, den "richtigen" Ort hier zu suchen, denn Shiw ist auch der Gott der Krokodile, und die gibt es an keinem anderen der 12 Jyotirling-Tempel.

"Wie viele Mitglieder hat Ihr Tempel eigentlich?" fragt Dikigoros vorsichtig. Der Priester versteht die Frage gleich richtig und lächelt: "Sie wären der erste Ausländer." - "Wäre das ein Problem?" - "Bei denen da drüben schon; bei uns nicht. Und wir machen auch kein Geschäft daraus, wie andere Tempel; das haben wir nicht nötig. Bei uns gibt jeder so viel, wie er kann und mag. Gewiß gibt es größere und berühmtere Shiw-Tempel als den unsrigen, und außer Ihnen und mir wird wohl auch kaum jemand glauben, daß dies ein Jyotirling-Tempel ist, geschweige denn der einzig wahre; aber darauf kommt es nicht an. Jeder von uns hat sein Dharm, und wenn Ihres Sie hierher geführt hat, dann ist das sicher ein Zeichen, daß Shiw Sie als Mitglied dieses Tempels wissen will."

So einfach war das, liebe Leser, und nun dürft Ihr weiter warten, bis es mit dem Linsenmönch zuende geht - wenn Dikigoros ihn denn überlebt.

* * * * *

Der guten Ordnung halber muß Dikigoros noch nachtragen, daß sich die Wishnuïten sehr um ihn bemüht haben, genauer gesagt die Leitung eines ganz bestimmten, berühmten Wishnu-Tempels, der in etwa den Rang hat, den bei den Shiwaïten ein Jyotirling-Tempel hat, und bei dem Mitglied zu sein viele Inder als hohe Ehre ansehen würden. (Und Dikigoros räumt ein, daß auch er sich irgendwie gebauchpinselt fühlt :-) Regelmäßig bekommt er E-mails mit Einladungen und Gigabytes von Propaganda-Material (mit z.T. ganz tollen Bildern), und es würde dort auch niemanden stören, wenn er gleichzeitig bei der Konkurrenz wäre und bliebe. Dennoch sind die Motive jener Tempelhüter nicht ganz uneigennützig: Sie haben mitbekommen, daß Dikigoros - wohl als einziger Nicht-Inder neben Brychta - die These vertritt, daß "Atlantis" dort zu suchen ist, wo heute u.a. ihr Tempel steht. Aber das interessiert sie eigentlich gar nicht; sie nehmen seine Ausführungen vielmehr als Beweis, genauer gesagt als einen von mehreren Grundpfeilern für ihre These, daß dort der historische Krishn (ebenfalls ein Avtar Wishnus) wirkte, und so weit würde Dikigoros denn doch nicht gehen; er will sich nicht mißbrauchen lassen, um leichtgläubigen indischen Schäfchen vorzugaukeln, daß "ein großer ausländischer Gelehrter" - der er ja gar nicht ist - sich jener These angeschlossen habe und als sichtbares Zeichen dieser Überzeugung sogar ihrem Tempel beigetreten sei. (Aber das Propaganda-Material liest er trotzdem gerne weiter :-)


Anhang: Brief an einen christlichen Pfarrer


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