Wie man 10 Jahre deutsche Einheit würdigen sollte

Am 3. Oktober sollten wir das Gelingen, nicht das Scheitern feiern!

von Helmut Herles (Das Parlament, 8./15. September 2000)

Goethe, nach einem heute verbreiteten Gefühl ein inwendiger "Wossi", also ein "Wessi" aus Frankfurt am Main, und "Ossi" aus Weimar zugleich, war es nicht bang um die deutsche Einheit in einer Zeit, als "Teutschland" in weit mehr Staaten eingeteilt war, als heute in seine 16 Länder. Er hatte in den 30er-Jahren des vorvorigen Jahrhunderts gesagt, dass er sich allein wegen der besseren Verkehrswege nicht sorge. Daran würde ein heutiger thüringischer Staatsminister Goethe sicher erinnern, wenn er zum Tag der Deutschen Einheit spräche: "Was war nicht am 3. Oktober 1990, vor zehn Jahren, trotz des hinweggefegten eisernen Vorhangs noch alles an Wegen und Verbindungen zerstört, als die fünf Länder der DDR der Bundesrepublik beitraten?" Vom Potsdamer Platz in Berlin bis nach Eisenach in Thüringen. Auf ein Telefonat konnte man noch Stunden und Tage warten. Straßen waren holprig, Dächer löchrig und zerfallen, Flüsse vergiftet. Die Eisenbahn kroch zwischen Hannover und Berlin als Bummelzug. Heute fährt sie zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn in fünfeinhalb Stunden.

"Blühende Landschaften"

In den für die Zukunft des vor zehn Jahren staatlich vereinigten Deutschlands so wichtigen Infrastrukturen, die gerade im Osten oft schon die modernsten der Welt sind, gibt es tatsächlich den "Aufschwung Ost" und "blühende Landschaften". Wer das mit offenen Augen sieht, der versteht nicht, warum die abgewählte Koalition von Helmut Kohl dies nicht stärker und selbstbewusster herausgestellt hatte. Aber Dankbarkeit ist keine wahlkampfpolitische Größe. Hinzu kommt Wahrnehmungsunfähigkeit. In den Medien neigen zu viele dazu, abzubilden, was daneben geht, scheinen mehr ins Scheitern als ins Gelingen verliebt zu sein.

Wer aber das Gelingen sieht, im thü-ringischen Dorf Apfelstädt oder im großen Berlin, das sich längst durch-mischt, wo die Mauer in den Köpfen ebenfalls schwindet, der will und kann nichts wegnehmen von den Schmerzen, die der Umbruch im Osten vielen gebracht hat. Sie hatten plötzlich das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, nachdem sie vorher stets gelenkt und beschäftigt worden waren. Deshalb sollte man weit öfter daran erinnern, was nach dieser Befreiung und Selbstbefreiung von 1989/90 schon alles gelungen ist und erreicht wurde, von dem die Deutschen zwischen Ostsee und Erzgebirge zuvor nur geträumt und dann selbst erobert hatten. Dennoch ist ein großes Volk kleinmütig angesichts dieses einmaligen geschichtlichen Geschenkes und seiner Leistung dabei: der Wiedererlangung der Einheit in Frieden und Freiheit.

Es gibt keine sowjetischen Besatzungstruppen mehr in Deutschland und Europa. Aber eine Diktatur lebt in den Seelen noch lange, und über diese Hauptsachen wurde von Anfang an falsch oder zu wenig geredet. Man sprach von den "Kosten der Einheit", statt von den Kosten der Spaltung und der Überwindung der Folgen zweier Diktaturen auf deutschem Boden in einem Jahrhundert.

Der Westen vermied den Begriff Opfer, obwohl die meisten in unserem Volk 1989/90 dazu innerlich bereit waren. Man sprach vom Wegräumen der Ruinen des Sozialismus, als ginge dies "aus der Portokasse".

Die Zuständigen in der Bundesrepublik wussten zwar, wie bankrott im weitesten Sinne des Wortes die DDR in den 1980er Jahren tatsächlich schon war, es drang ihnen aber nicht ins Bewusstsein. Als die Wiedervereinigung kam - und sie musste in diesem einmaligen geschichtlichen Augenblick schnell verwirklicht werden -, war die Bundesregierung nicht darauf vorbereitet, was sie und alle ihre Vorgängerinnen seit 1949 unentwegt gefordert hatten. Im Gegenteil. Es wurden sogar die wenigen Instrumente wie das Bonner Gesamtdeutsche Institut aus der Hand gegeben, die man gerade in diesen ersten Jahren gebraucht hätte, gerade auch zur geistig-politischen Auseinandersetzung mit den Erben der SED.

An dieser Auseinandersetzung fehlt es bis heute in allen Generationen. Das Vakuum, das die FDJ gerade der jungen Generation hinterlassen hat, ist von den unpolitischen, politischen und kirchlichen Jugendverbänden erst zum Teil aufgefüllt worden. Aber auch hierbei werden die positiven Gegenbeispiele zu wenig wahrgenommen und veröffentlicht. Wer in diesem Sommer in der ehemaligen DDR reiste, konnte zufällig positive Beispiele einer neuen Jugendarbeit erleben: so die Leistungen von Jugendlichen und Kindern im Bach-Dorf Dornheim bei Arnstadt, wo die Hochzeitskirche des großen Komponisten ohne sie nicht so schön wiederhergestellt worden wäre, oder in Bernau bei Berlin am Tag der Diakonie in dieser Stadt. Viele dieser Jugendlichen sind weder getauft noch konfirmiert, aber sie haben wieder Halt, Orientierung und Zielsetzung. Und dies sind nur Beispiele.

Dennoch verhalten sich "im Osten", der allerdings in sich viel unterschiedlicher ist als dieser pauschale Begriff nahe legt, noch immer zu viele so , als ob sie auf jemanden warten, der ihnen mehr von der angeblich in der DDR herrschenden Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit zuteilt.

Meinungsforscher haben herausgefunden, dass "im Osten" der Wert von Gerechtigkeit oder Gleichheit höher rangiert als jener der Freiheit; "im Westen" sei es umgekehrt. Darüber sollte noch viel gesprochen und notfalls gestritten werden. Auch hierbei müssten die Medien viel mehr von den ehrenamtlichen Initiativen und Vereinen vermitteln, die zwar noch in der Minderheit sein mögen, die aber zupacken, etwas in die Hand nehmen. Solche Hilfe zur Selbsthilfe müsste finanziell und medial viel stärker gefördert werden. Es sind beispielhafte Geschichten vom Gelingen, nicht vom Scheitern. Und es werden immer mehr.

Es trifft eben nicht zu, dass die Mauer aus Stein zwar gefallen, dafür aber die in den Herzen und Hirnen höher geworden ist. Das widerlegen die alltäglichen Erfahrungen von Millionen Menschen in Deutschland. Zwar hat sich für die Deutschen im Osten viel mehr geändert als für die im Westen, dennoch will kaum einer die Mauer wiederhaben. Und es sind auch im Westen nur ganz wenige, die mit einer neuen Mauer Witze machen.

Bezeichnend für unsere inneren Wi-dersprüche ist auch, dass im Osten bei Befragungen die meisten sagen, dass es ihnen persönlich besser geht als vor der Wende, dies aber nicht für die allgemeine Lage gelten lassen wollen.

Einheit in Vielfalt

Wirtschaftlich wird wahrscheinlich eher zusammenwachsen, was zusammengehört. Kulturell und emotional wird es noch eine Weile dauern. Aber dabei ist keine Vereinheitlichung, schon gar keine Gleichschaltung erwünscht. Deutschland, das war schon immer Einheit in Vielfalt. Die Saarländer, die vor 45 Jahren, am 23. Oktober 1955, der Bundesrepublik beigetreten waren, sind bis heute "anders", wollen und sollen es bleiben. So könnte es auch mit den so genannten "neuen Ländern" geschehen.

Also wollen wir weiterhin nach Dol-metschern in der eigenen Sache und Sprache suchen, mehr voneinander er-fahren, wechselseitig. Wir sollten dabei nicht übersehen, dass auch manche Westdeutsche "nicht mitgekommen" sind, bis hin zum Vorurteil, als müssten nur sie den Solidaritätszuschlag zahlen.

Für die junge Generation müsste vielmehr getan werden, zum Beispiel mit der Gründung eines großen Jugendaufbauwerkes, in dem sich Jugendliche aus Ost und West kennen lernen könnten, wie es eine Minderheit in der Bundeswehr bereits tut. Vielleicht könnte dabei auch eine allgemeine Dienstpflicht für Jungen und Mädchen helfen. Der Bundespräsident wäre dafür die geeignete Leitfigur, die Länder und die Landesjugendringe müssten es organisieren. Der gefährliche Leerraum für zu viele der jungen Generation darf nicht hingenommen werden. Im Leerraum wird Extremismus ausgebrütet.

"Die nächste Wiedervereinigung machen wir besser", hatte der thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel einmal gesagt, halb ernst, halb ironisch. Natürlich ist es notwendig, Fehler zu analysieren, vor allem dann, wenn sie noch zu reparieren sind. Beispielsweise die Übernahme des im Westen überbordenden Bürokratismus. An dem leiden alle Deutschen gleichermaßen. Gerade die neuen Ländern könnten dagegen mit gutem Beispiel vorangehen, indem sie Papierberge abbauen, Genehmigungswege verkürzen. Was zum Teil geschieht. Dies ist ein weites Feld, auf dem noch viel zu tun ist.

Dies gilt vor allem für die Arbeitslosigkeit. Sie ist unterdessen für die gesamte industrielle Welt eine Herausforderung. Keiner kennt wirklich ein rasch wirkendes Mittel. Aber die Antwort darf nicht die Aufkündigung des Weges der sozialen Marktwirtschaft sein, wie ihn die Bundesrepublik mit Erfolg vor der Vereinigung beschritten hatte. Dieser Weg hatte zum 3. Oktober 1990 geführt - nicht der des "Kapitalismus", der über den "real vegetierenden Sozialismus" siegt.

Schwierig und schön

Trotz aller Schwierigkeiten: Deutsch-land ist gerade im 10. Jahr seiner staatlichen Einheit nicht nur ein schwieriges Vaterland. Es ist schön. Wer mit offenen Augen die gesamte Bundesrepublik kennen lernt, der kann überall - auch - blühende Landschaften kennen lernen. Solche Reisen müssten zum Pensum jeder Schule gehören.

Als sich zum Beispiel der Bonner Potsdam-Club mit der Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann und dem Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe traf. Oder sich in einem Dorf in Thüringen zum ersten Mal der Einschulungsjahrgang 1946 - heute aus "Ost" und "West" - wiedersah.

Was schon alles gelungen ist, das hat es schwerer, das Licht der Medien zu erblicken. Auch deshalb ist es gut, dass die Scheinwerfer beim Tag der Deutschen Einheit nicht nur auf Berlin gerichtet werden, sondern von Jahr zu Jahr auf das Land, das gerade den Vorsitz im Bundesrat hat. Diesmal ist Sachsen an der Reihe. Besser konnte es nicht kommen, denn ohne den Mut der damals gar nicht mehr gemütlichen Sachsen wäre die Wende nicht denkbar gewesen.


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