Goethe, nach einem heute verbreiteten Gefühl ein inwendiger "Wossi", also ein "Wessi" aus Frankfurt am Main, und "Ossi" aus Weimar zugleich, war es nicht bang um die deutsche Einheit in einer Zeit, als "Teutschland" in weit mehr Staaten eingeteilt war, als heute in seine 16 Länder. Er hatte in den 30er-Jahren des vorvorigen Jahrhunderts gesagt, dass er sich allein wegen der besseren Verkehrswege nicht sorge. Daran würde ein heutiger thüringischer Staatsminister Goethe sicher erinnern, wenn er zum Tag der Deutschen Einheit spräche: "Was war nicht am 3. Oktober 1990, vor zehn Jahren, trotz des hinweggefegten eisernen Vorhangs noch alles an Wegen und Verbindungen zerstört, als die fünf Länder der DDR der Bundesrepublik beitraten?" Vom Potsdamer Platz in Berlin bis nach Eisenach in Thüringen. Auf ein Telefonat konnte man noch Stunden und Tage warten. Straßen waren holprig, Dächer löchrig und zerfallen, Flüsse vergiftet. Die Eisenbahn kroch zwischen Hannover und Berlin als Bummelzug. Heute fährt sie zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn in fünfeinhalb Stunden.
"Blühende Landschaften"
In den für die Zukunft des vor zehn Jahren staatlich vereinigten Deutschlands so wichtigen Infrastrukturen, die gerade im Osten oft schon die modernsten der Welt sind, gibt es tatsächlich den "Aufschwung Ost" und "blühende Landschaften". Wer das mit offenen Augen sieht, der versteht nicht, warum die abgewählte Koalition von Helmut Kohl dies nicht stärker und selbstbewusster herausgestellt hatte. Aber Dankbarkeit ist keine wahlkampfpolitische Größe. Hinzu kommt Wahrnehmungsunfähigkeit. In den Medien neigen zu viele dazu, abzubilden, was daneben geht, scheinen mehr ins Scheitern als ins Gelingen verliebt zu sein.
Wer aber das Gelingen sieht, im thü-ringischen Dorf Apfelstädt oder im großen Berlin, das sich längst durch-mischt, wo die Mauer in den Köpfen ebenfalls
schwindet, der will und kann nichts wegnehmen von den Schmerzen, die der
Umbruch im Osten vielen gebracht hat. Sie hatten plötzlich das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, nachdem sie vorher stets gelenkt und beschäftigt worden waren. Deshalb sollte man weit öfter daran erinnern, was nach dieser Befreiung und Selbstbefreiung von 1989/90 schon alles gelungen ist und erreicht wurde, von dem die Deutschen zwischen Ostsee und Erzgebirge zuvor nur geträumt und dann selbst erobert hatten. Dennoch ist ein großes Volk kleinmütig angesichts dieses einmaligen geschichtlichen Geschenkes und seiner Leistung dabei: der Wiedererlangung der Einheit in Frieden und Freiheit.
Es gibt keine sowjetischen Besatzungstruppen mehr in Deutschland und Europa. Aber eine Diktatur lebt in den Seelen noch lange, und über diese Hauptsachen wurde von Anfang an falsch oder zu wenig geredet. Man sprach von den "Kosten der Einheit", statt von den Kosten der Spaltung und der Überwindung der Folgen zweier Diktaturen auf deutschem Boden in einem Jahrhundert.
Der Westen vermied den Begriff Opfer, obwohl die meisten in unserem Volk 1989/90 dazu innerlich bereit waren. Man sprach vom Wegräumen der Ruinen des Sozialismus, als ginge dies "aus der Portokasse".
Die Zuständigen in der Bundesrepublik wussten zwar, wie bankrott im weitesten Sinne des Wortes die DDR in den 1980er Jahren tatsächlich schon war, es drang ihnen aber nicht ins Bewusstsein. Als die Wiedervereinigung kam - und sie musste in diesem einmaligen geschichtlichen Augenblick schnell verwirklicht werden -, war die Bundesregierung nicht darauf vorbereitet, was sie und alle ihre Vorgängerinnen seit 1949 unentwegt gefordert hatten. Im Gegenteil. Es
wurden sogar die wenigen Instrumente wie das Bonner Gesamtdeutsche
Institut aus der Hand gegeben, die man gerade in diesen ersten Jahren
gebraucht hätte, gerade auch zur geistig-politischen Auseinandersetzung
mit den Erben der SED.
An dieser Auseinandersetzung fehlt es bis
heute in allen Generationen. Das Vakuum, das die FDJ gerade der jungen
Generation hinterlassen hat, ist von den unpolitischen, politischen und
kirchlichen Jugendverbänden erst zum Teil aufgefüllt worden. Aber auch
hierbei werden die positiven Gegenbeispiele zu wenig wahrgenommen und
veröffentlicht. Wer in diesem Sommer in der ehemaligen DDR reiste, konnte
zufällig positive Beispiele einer neuen Jugendarbeit erleben: so die
Leistungen von Jugendlichen und Kindern im Bach-Dorf Dornheim bei
Arnstadt, wo die Hochzeitskirche des großen Komponisten ohne sie nicht so
schön wiederhergestellt worden wäre, oder in Bernau bei Berlin am Tag der
Diakonie in dieser Stadt. Viele dieser Jugendlichen sind weder getauft
noch konfirmiert, aber sie haben wieder Halt, Orientierung und
Zielsetzung. Und dies sind nur Beispiele.
Dennoch verhalten sich
"im Osten", der allerdings in sich viel unterschiedlicher ist als dieser
pauschale Begriff nahe legt, noch immer zu viele so , als ob sie auf
jemanden warten, der ihnen mehr von der angeblich in der DDR herrschenden
Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit zuteilt.
Meinungsforscher
haben herausgefunden, dass "im Osten" der Wert von Gerechtigkeit oder
Gleichheit höher rangiert als jener der Freiheit; "im Westen" sei es
umgekehrt. Darüber sollte noch viel gesprochen und notfalls gestritten
werden. Auch hierbei müssten die Medien viel mehr von den ehrenamtlichen
Initiativen und Vereinen vermitteln, die zwar noch in der Minderheit sein
mögen, die aber zupacken, etwas in die Hand nehmen. Solche Hilfe zur
Selbsthilfe müsste finanziell und medial viel stärker gefördert werden. Es
sind beispielhafte Geschichten vom Gelingen, nicht vom Scheitern. Und es
werden immer mehr.
Es trifft eben nicht zu, dass die Mauer aus
Stein zwar gefallen, dafür aber die in den Herzen und Hirnen höher
geworden ist. Das widerlegen die alltäglichen Erfahrungen von Millionen
Menschen in Deutschland. Zwar hat sich für die Deutschen im Osten viel
mehr geändert als für die im Westen, dennoch will kaum einer die Mauer
wiederhaben. Und es sind auch im Westen nur ganz wenige, die mit einer
neuen Mauer Witze machen.
Bezeichnend für unsere inneren
Wi-dersprüche ist auch, dass im Osten bei Befragungen die meisten sagen,
dass es ihnen persönlich besser geht als vor der Wende, dies aber nicht
für die allgemeine Lage gelten lassen wollen.
Einheit in Vielfalt
Wirtschaftlich wird wahrscheinlich eher
zusammenwachsen, was zusammengehört. Kulturell und emotional wird es noch
eine Weile dauern. Aber dabei ist keine Vereinheitlichung, schon gar keine
Gleichschaltung erwünscht. Deutschland, das war schon immer Einheit in
Vielfalt. Die Saarländer, die vor 45 Jahren, am 23. Oktober 1955, der
Bundesrepublik beigetreten waren, sind bis heute "anders", wollen und
sollen es bleiben. So könnte es auch mit den so genannten "neuen Ländern"
geschehen.
Also wollen wir weiterhin nach Dol-metschern in der
eigenen Sache und Sprache suchen, mehr voneinander er-fahren,
wechselseitig. Wir sollten dabei nicht übersehen, dass auch manche
Westdeutsche "nicht mitgekommen" sind, bis hin zum Vorurteil, als müssten
nur sie den Solidaritätszuschlag zahlen.
Für die junge Generation
müsste vielmehr getan werden, zum Beispiel mit der Gründung eines großen
Jugendaufbauwerkes, in dem sich Jugendliche aus Ost und West kennen lernen
könnten, wie es eine Minderheit in der Bundeswehr bereits tut. Vielleicht
könnte dabei auch eine allgemeine Dienstpflicht für Jungen und Mädchen
helfen. Der Bundespräsident wäre dafür die geeignete Leitfigur, die Länder
und die Landesjugendringe müssten es organisieren. Der gefährliche
Leerraum für zu viele der jungen Generation darf nicht hingenommen werden.
Im Leerraum wird Extremismus ausgebrütet.
"Die nächste
Wiedervereinigung machen wir besser", hatte der thüringische
Ministerpräsident Bernhard Vogel einmal gesagt, halb ernst, halb ironisch.
Natürlich ist es notwendig, Fehler zu analysieren, vor allem dann, wenn
sie noch zu reparieren sind. Beispielsweise die Übernahme des im Westen
überbordenden Bürokratismus. An dem leiden alle Deutschen gleichermaßen.
Gerade die neuen Ländern könnten dagegen mit gutem Beispiel vorangehen,
indem sie Papierberge abbauen, Genehmigungswege verkürzen. Was zum Teil
geschieht. Dies ist ein weites Feld, auf dem noch viel zu tun ist.
Dies gilt vor allem für die Arbeitslosigkeit. Sie ist unterdessen
für die gesamte industrielle Welt eine Herausforderung. Keiner kennt
wirklich ein rasch wirkendes Mittel. Aber die Antwort darf nicht die
Aufkündigung des Weges der sozialen Marktwirtschaft sein, wie ihn die
Bundesrepublik mit Erfolg vor der Vereinigung beschritten hatte. Dieser
Weg hatte zum 3. Oktober 1990 geführt - nicht der des "Kapitalismus", der
über den "real vegetierenden Sozialismus" siegt.
Schwierig und schön
Trotz aller Schwierigkeiten: Deutsch-land ist gerade im 10. Jahr seiner staatlichen Einheit nicht nur ein schwieriges Vaterland. Es ist schön. Wer mit offenen Augen die gesamte Bundesrepublik kennen lernt, der kann überall - auch - blühende Landschaften kennen lernen. Solche Reisen müssten zum Pensum jeder Schule gehören.
Als sich zum Beispiel der Bonner Potsdam-Club mit der Oberbürgermeisterin
Bärbel Dieckmann und dem Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe traf. Oder sich in einem Dorf in Thüringen zum ersten Mal der Einschulungsjahrgang 1946 - heute aus "Ost" und "West" - wiedersah.
Was schon alles gelungen ist, das hat es schwerer, das Licht der Medien zu erblicken. Auch deshalb ist es gut, dass die Scheinwerfer beim Tag der Deutschen Einheit nicht nur auf Berlin gerichtet werden, sondern von Jahr zu Jahr auf das Land, das gerade den Vorsitz im Bundesrat hat. Diesmal ist Sachsen an der Reihe. Besser konnte es nicht kommen, denn ohne den Mut der damals gar nicht mehr gemütlichen Sachsen wäre die Wende nicht denkbar gewesen.
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