Arbeitnehmerschutz als sittliche Grundforderung (1993)

Die Loslösung der Technik von Kultur und Ethik, das technokratische System, das heute die Welt
beherrscht hat sich auf Kosten des phylogenetischen Anpassungsvermögens des Menschen
durchgesetzt.

Was nützt eine punktuelle Kontrolle von isolierten  Arbeitsplätzen und einzelnen Schadstoffen,
wenn weder Bewußtsein noch Empfindsamkeit für eine Veränderung gesundheitsgefährdender
Umgebungen ausreichend entwickelt ist.
Auch Verwaltungsstrafen können kein Bewußtsein und keine Empfindsamkeit erzeugen.
Sittliches Wohlverhalten wird nicht durch Abschreckung sondern durch nachahmenswertes
Beispiel gefördert. Die Verantwortung für Lebenszuträglichkeit entspringt sittlichem Empfinden und kann vielmehr durch positive Modelle als durch rechtliche Maßnahmen gehegt und gepflegt
werden.
Da jedoch Methoden und Mechanismen der Wettbewerbskultur sich auf Grundlage des Rechts
und  nicht auf Grundlage der Sittlichkeit vollziehen schämt sich auch kein Arbeit-
geber einen Arbeitnehmer einer gesundheitsschädigenden Arbeitsumwelt auszusetzen -
zumindest so lange bis diesem "Menschenversuch"  Einhalt geboten wird. Doch anstatt diese positiven Modelle arterhaltender Arbeitsumwelt zu vermehren, daß sie von allen
"gesehen" werden können, setzt der Gesetzgeber auf das "Gehorchen" immer komplexer
werdender Regelwerke. Und verliert damit die Standard-Präsenz als Vergleichsmaß zur Feststellung
der Zuträglichkeit von Arbeitsbedingungen. Da darf es nicht verwundern, daß es ohne dieses
sittliche Maß zur Überbeanspruchung von Arbeitnehmern kommt,  ja  sogar Grenzen der
Erträglichkeit bedenkenlos überschritten werden. Genauso wie eine Saite bei Überspannung
zerreißt, ein Bogen bei Überbeanspruchung zerbricht, kommt es zum Eintritt einer bleibenden
Schädigung aufgrund unzumutbarer Arbeitsplatzbelastungen.
Das Wort Sittlichkeit entstammt etymologisch derselben Wurzel wie "Saite" und offenbart folgenden  Zusammenhang: der persönlichen Schädigung durch unzumutbare Arbeitplatzbedingungen geht  als erstes die Überspannung der sittlichen Einbindung des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis  zum Arbeitgeber voraus - die Auslöseschwelle der Gefährdung des Bestandes der "Saite", des gespannten Bogens zwischen Arbeitgeber auf der einen Seite und Arbeitnehmer auf der anderen Seite,  ist durch Einheiten sittlicher Tolerierbarkeit bestimmt und nicht durch technische Parameter  von Lebensabträglichkeit (z.B. MAK-Werte).
Was sittlich tolerierbar ist  ergibt sich nicht aus der zufälligen Übereinstimmung mit augenblicklich
gerade vorliegenden gesetzlichen Schutzbestimmungen sondern wird durch den Gradmesser der Standard-Präsenz  im sozialen Anpassungsdruck nachhaltig kontrolliert.
Der Arbeitgeber orientiert sich bei Vorliegen beispielhafter Arbeitsumweltmodelle nicht an
technischen Richtwerten, sondern sucht sich zwischen den Modellen eine akzeptable Nische, vor
allem um ein unangenehmes Auffallen zu verhindern und angepaßt zu erscheinen. Die Schaffung von artfreundlichen lebenszuträglichen Modellen in verschiedenen Bereichen
menschlichen Strebens ist also wesentlich ökonomischer und sinnvoller, als das unbefriedigende
Hinterherhinken des Gesetzgebers bei der Festlegung von zeitgemäßen Normen und
Gefährdungstoleranzen. Die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens des Gesetzgebers wird alle
Jahre wieder durch die MAK-Werte-Liste unter Beweis gestellt, da die Schere zwischen
vorhandenen Arbeitsstoffen und bewerteten Arbeitsstoffen immer weiter auseinandergeht. So sind
von über 100 000 verschiedenen Arbeitsstoffen erst einige Hundert toxikologisch bewertet - von
einer Erfassung von Stoffgemischen ganz zu schweigen.

Statt also weiterhin umfangreiche Regelwerke und Kontrollinstanzen aufzublähen gilt es vielmehr
lebenszuträgliche Beispiele artfreundlicher Lebenswertkultur zu verwirklichen,  damit diese
Orientierungshilfe und "sittlicher" Standard einer neuen Spezies in deutlicher Abgrenzung zu einer
"alten", überkommenen Form von Technokratie werden kann.



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