Sein wichtigster Vorzug ist zugleich der größte Mangel. Auf knapp 500 Seiten bereitet der polnische Fotograf Thomas Kizny in dem Bildband «Gulag» in ungeheurer Fülle aus, was er in langjährigen Recherchen über die im Westen vielfach noch immer unbekannte Welt des Systems sowjetischer Straf- und Arbeitskolonien ausfindig machen konnte. Die eine Hälfte der fast 1000 Fotos entstand während Kiznys Exkursionen in die Vergangenheit der Solowezki-Inseln oder Workutas, die andere Hälfte entstammt offiziellen und privaten Archiven von Häftlingen und Aufsehern. Nachdem sich vor elf Jahren kein deutscher Verleger dafür interessierte, wurden sie zuerst in Frankreich veröffentlicht. Dank der Hamburger Edition liegen sie jetzt auch in Deutschland vor.
Es sind Dokumente einer Zeitreise in ferne sibirische Regionen und in solche der Erinnerungzonen, Bilder, die nahe gehen und aufwühlen, Fragen aufwerfen. Doch Kizny lässt uns mitunter allein, diese Welt zu verstehen, Ordnung in die Zeichen einer noch immer nicht ganz vergangenen Zeit zu bringen. Unter Chruschtschow wurde der Gulag zwar 1960 aufgelöst, doch sein Geist durchweht noch immer Verhaftungsprozeduren, Gefängnisse und Lager.
Kiznys Bilder zeigen karge Landschaften, Gefangene, die
Theater spielen oder beim Varieté auftreten, Arbeitskolonnen auf
Großbaustellen, Wachmannschaften und Offiziere im schwarzen
Ledermantelchic, zum Tode Verurteilte. Sie zeigen absurde Figuren wie den
Lageraufseher an der Kolyma, den berüchtigten Eduard Petrowitsch Bersin,
der einst an der Berliner Kunstakademie studierte, vor seinem Rolls-Royce,
einem Geschenk aus den Beständen Lenins. Noch heute steht der
Autoliebhaber in Ostsibiriens Hauptstadt Magadan auf einem Sockel und sein
Name auf Straßenschildern. Lediglich außerhalb der Stadt erinnert ein
Denkmal an die Schrecken der Kolyma, einem Zwangsarbeitslager zur
Goldgewinnung.
Die Brutalität und die von der stalinschen Ökonomie diktierte Mechanik
der Macht, die häufig bei Minusgraden exekutierte Unmenschlichkeit,
offenbaren die Bilder vielfach erst dem zweiten Blick. Wer Alexander
Solschenizyns Beschreibungen des «Archipel Gulag», Anne Applebaums
gelungene Gesamtdarstellung oder das «Schwarzbuch des Kommunismus» noch
nicht kennt, wird von Kizny allein gelassen. Man ahnt, seine Welt ist
nicht harmlos, und Prof. Jörg Baberowski, Historiker und renommierter
Stalin-Experte an der Berliner Humboldt-Universität, bedauert denn auch,
«dass die Bilder ohne ausreichende Erläuterung und ohne genaue
Quellenangaben bleiben».
Dabei fehlt es nicht an einleitenden Worten zu den sieben
Kapiteln, die vom ersten Konzentrationslager, das in den Zwanziger Jahren
auf den Solowezki-Inseln in einem heute zum Teil wieder in Betrieb
genommenen Kloster errichtet wurde, über die Zwangsarbeit für den
Belomorkanal bis zum Bau der «Todesstrecke», der berüchtigten
Eisenbahnlinie Nord, reichen. Baberowski vermisst aber den, seit der
Debatte um die erste Wehrmachtsaustellung zum wissenschaftlichen Kanon
gehörenden, «erklärenden Umgang mit den Dokumenten, die Darstellung ihres
Kontextes. Wer hat wen, wann, unter welchen Umständen fotografiert? Wen
schauen die Leute an? Steht hinter der Kamera womöglich ein bewaffneter
NKWD-Mann?»
Der Historiker sieht in den Auslassungen einen gravierenden Mangel. So
erfahre man zum Beispiel aus den Fotos von Schauspielern und
Theateraufführungen der Gefangenen, die ursprünglich in Lagerzeitungen zum
Lobe der Kommandanten oder zur Propaganda veröffentlicht worden waren,
nichts über die «wohlgenährten Leute auf ihnen. Niemand würde solche Fotos
heute aus einem Nazi-KZ so für sich allein stehen lassen», meint
Baberowski. Im Buch erfährt man immerhin, dass die Aufnahmen eine Not
widerspiegeln – Überlebensnot.
Kiznys «Gulag» ist gleichwohl lesenswert, weil er der
französischen Traditionslinie der Debatte folgt, die sich im Vergleich zur
deutschen sehr viel früher und intensiver mit den Verbrechen des
Stalinismus auseinandergesetzt hat – gegen das Beschweigen des
Konzentrationslagersystems jenseits des Eisernen Vorhangs, aus Angst, man
könnte die mörderischen Verbrechen des Nationalsozialismus damit
"relativieren". Der britische Historiker Norman Davies wundert sich in
seinem Vorwort zum Beispiel noch darüber, dass das Wort Gulag bei vielen
nicht dasselbe Entsetzen auslöse wie die Rede von «Konzentrationslagern
der Nazis». Dabei wären die meisten erstaunt, gibt er zu bedenken, «wenn
sie erführen, dass diese Lager mehr Opfer forderten als Ypres, die Somme,
Verdun, Auschwitz, Mjadanek, Dachau und Buchenwald zusammen».
Auch der spanische Schriftsteller Jorge Semprun, ehemaliger
Buchenwaldhäftling und Kommunist, alles andere als ein Relativierer,
scheut nicht den Vergleich. Die Archipele der NS-Lager und des Gulags
seien sich ähnlich und unterschieden sich. Mit Kizny, so hofft er, könne
«die westliche Fehleinschätzung des sowjetischen Gulag endgültig ein Ende
finden».
So ist darauf zu hoffen, dass Kiznys Bilder, die zum Teil
schon in Moskau veröffentlicht wurden, trotz seiner Mängel auch bei uns
wahrgenommen werden.
Der gravierendste Unterschied zu denjenigen aus den
Vernichtungslagern der Nazis ist, dass diese Fotos keine Leichenberge
zeigen. Es gab keine Befreier, die sie hätten fotografieren können. Dabei
habe es sich doch, schreibt Norman Davies, «um einen gängigen Anblick in
allen Gulag-Lagern gehandelt, riesige Berge abgemagerter, zu Eis
erstarrter, mit Lumpen bekleideter Leichen, die auf das Ende der
arktischen Nacht warten, auf die kurze Zeit des Tauwetters und die
Aussicht auf ein anonymes Begräbnis».
Wie in einem riesigen Völkergefängnis saßen im Gulag Letten, Litauer,
Esten, Ukrainer, Russen und Weißrussen, Polen und auch Zehntausende von
Deutsche ein – aus allen Schichten. In der deutschen Ausgabe hätten sie
Erwähnung finden müssen, auch wenn einige deutsche Überlebende, wie sie
der Netzeitung versicherten, von dem Buch dennoch berührt sind. Sie können
endlich schwarz auf weiß zeigen, wo ihnen einst das Weinen verboten worden
war.
Tomasz Kizny: Gulag. Mit Vorworten von Norman Davies, Jorge Semprun
und Sergej Kowaljow. Hamburger Edition, 2004. 495 Seiten,
49,-Euro.
Nachbemerkung. Da muß Dikigoros Tomasz Kizny doch mal in Schutz nehmen. Was erwartet der Rezensent der NZZ eigentlich? Daß der Verfasser in Anbetracht der unsicheren Quellenlage einfach irgendwelche Bildunterschriften zwecks "Zuordnung" erfindet, wie es die Veranstalter der unseligen Wehrmachts-Verleumdungs-Ausstellung getan haben? Da doch lieber eine ehrliche Lücke als solche Lügen! A propos: Das Lügengebäude des Kommunisten Jorge Semprun ist mittlerweile in sich zusammengefallen: Er mußte zugeben, nie in Buchenwald gewesen zu sein, geschweige denn im Konzentrationslager - aber das scheint sich noch nicht bis in die Schweiz herum gesprochen zu haben!
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