REVOLUZZER & KAPELLMEISTER
RICHARD WAGNER (1813 - 1883)
"Ich glaube an Gott, Mozart und Beethoven"
"... Shakespeare aber blieb mein Vorbild"

"Das ist ein verfluchtes Volk, diese Sachsen
- schmierig, dehnig, plump, faul und grob -
was habe ich mit ihnen zu tun?"

[Wagner ohne Hut]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
DIE BRETTER, DIE DIE WELT [BE]DEUTEN


"Im wunderschönen Monat Mai
kroch Richard Wagner aus dem Ei
ihm wünschen, die zumeist ihn lieben,
er wäre besser drin geblieben." (R.W.)

Ein hübsches Geburtstagsgedichtchen, nicht wahr, liebe Leser? Doch keine Zeile davon ist wahr: Der Mai 1813 war in Leipzig nicht wunderschön, sondern ziemlich besch...en, ähnlich wie der Mai 1945, denn die "Völkerschlacht" stand bevor, und die russischen "Befreier" von Napoleon marodierten schlimmer als die Franzosen. Wer da aus dem Ei kroch, hieß auch nicht "Richard Wagner" (dazu gleich mehr); zumeist wurde er nicht geliebt, sondern gehaßt; und dennoch wünschen sich selbst seine ärgsten Feinde nicht, er wäre nie geboren - denn auf wem könnten sie sonst so schön herum hacken als "dem ersten deutschen Nazi"? Es ist schlimm, daß man heutzutage eine Seite über einen Theaterdichter des 19. Jahrhunderts mit diesem Punkt beginnen muß; aber wenn schon, denn schon: Dikigoros hat ganz bewußt drei Zitate des "Meisters" (nein, liebe jüngere Leser, diese Bezeichnung ist keine Erfindung von Guildo Horn, der hat sie bloß nachgeäfft :-) an den Anfang gestellt, die nicht nur seinen Feinden, sondern auch seinen Fans weniger bekannt sein dürften. (Auf Rückfragen mißtrauischer Leser: Die Zeilen 3 und 4 stammen aus der Novelle "Ein Ende in Paris" vom Januar 1841, die Zeilen 5, 6 und 7 aus einem Brief an Samuel Lehrs vom Juni 1842), und die so gar nicht in das gängige Klischee passen, das man sich von ihm als "Nationalisten" macht. (Und glaubt bloß nicht, daß sich nicht auch Zitate aus späteren Jahren finden ließen, die ähnlich befremdlich klingen. Zum Beispiel aus dem Jahre 1860 - in einem Brief an Franz Liszt: "Glaub mir, wir haben kein Vaterland. Und wenn ich 'Deutsch' bin, so trage ich sicher mein Deutschland in mir." Ein interessanter Satz, den Dikigoros nur deshalb nicht mit in die Überschrift aufgenommen hat, weil man ihn angesichts der politischen Verhältnisse heute wieder unterschreiben könnte - und mit diesem Treppenwitz wollte er Euch nicht gleich ins Haus fallen.)

An dem Sachsen Wilhelm Geyer, der sich nach seinem Taufpaten "Richard" und dem ersten Ehemann seiner Mutter "Wagner" nannte, scheiden sich die Geister: Entweder lieben oder hassen sie ihn. Weniger ob seiner Musik - davon verstehen die meisten seiner Kritiker ohnehin nichts. (Dikigoros muß es wissen, denn sein seliger Freund Olli, der ein großer Wagner-Fan war, konnte nicht mal Noten lesen, geschweige denn eine Tonleiter singen - wahrscheinlich konnte er auch kein Klavier von einer Stehgeige unterscheiden, und erst recht keinen Helden-Tenor von einem Koloratur-Sopran.) Die gibt eigentlich auch nicht viel zur Kritik her, weder zur positiven noch zur negativen. Dikigoros, der sich für einigermaßen musikalisch hält, findet, daß Wagners frühe Stücke guter Durchschnitt sind und seine späteren überdurchschnittlich gut, mit Ausnahme des "Rings" - den er für schlecht hält - und des "Tristan" - der nicht nach seinem persönlichen Geschmack ist; aber über Geschmäcker soll man bekanntlich nicht streiten. Ebenso wenig ob seiner Person, denn auch über die kann man nicht im Ernst streiten: Als Mensch war Wagner unmöglich, da gibt es nichts zu beschönigen: Er verbummelte Schule und Studium, rauchte, soff, spielte, verpraßte Unmengen Geld (meist das anderer Leute) für Luxus und Tand (er konnte angeblich nur in luxuriöser Umgebung "arbeiten", d.h. dichten und komponieren), spannte anderen Männer ihre Frauen aus, betrog sie und ließ sie sitzen, war seinen Kindern ein Rabenvater, mit anderen Worten, er schmarotzte und hurte überall herum und floh dann unter Zurücklassung von Schuldenbergen, die bis an sein Lebensende nicht abzutragen waren, um sich dem oder der nächsten Dummen in den Pelz zu setzen. (Eines seiner bekanntesten Opfer war König Ludwig II. von Bayern.) Manche Leute meinen, "Künstler" müßten so leben; Dikigoros wagt das zu bezweifeln - er selber ist indes kein Künstler, kann es also schlecht beurteilen. Aber weder der Mensch Wagner noch seine Musik soll hier das Thema sein, sondern der Inhalt seiner Dramen - sie sind es ja, um derentwillen er gehaßt oder geliebt wird.

Wagner ist der erfolgreichste Bühnen-Autor aller Zeiten. (Nein, liebe Leser, er war es nicht, nicht zu Lebzeiten, sondern ist es erst posthum geworden, vor allem in den ersten 62 Jahren nach seinem Tode. Aber das ist nichts Außergewöhnliches, das hatte Wagner mit Goethe, Schiller und vielen anderen gemeinsam.) Die Aufführungen seiner Stücke - und seien sie noch so schlecht inszeniert und die Eintrittskarten noch so überteuert - sind immer ausverkauft (die in Bayreuth sogar auf Jahre im voraus), und das nun schon seit eineinviertel Jahrhunderten. Rationell erklärbar ist das nicht. Denn Wagner suchte sich zwar stets gute und interessante Stoffe für seine Stücke; aber was er daraus machte, war eigentlich von Mal zu Mal schlimmer. Dikigoros hat das schon auf der Schule so empfunden. Einer seiner Musiklehrer dort - schon ein alter, kränklicher Mann - war ein großer Wagner-fan; und wenn er sich den Anstrengungen des Unterrichts nicht gewachsen fühlte - also fast immer -, holte er den Plattenspieler aus dem Schrank und legte eine Wagner-Platte auf. Er genoß das offenbar, seine Schüler weniger, denn bei dem Krach konnten sie ja nicht mal in Ruhe schlafen. Dikigoros erinnert sich nur noch dunkel, was er damals zu hören bekam - wahrscheinlich alles rauf und runter. Ernsthaft hat er sich erst viel später mit Wagner beschäftigt, als er im Studium Olli kennen lernte, und noch später, als fleißige, aber geschäftsuntüchtige Verleger zum 100. Todestag Wagners den Bücher- und Schallplattenmarkt mit einer Unmenge von "Jubiläums"-Erzeugnissen überschwemmten, in Verkennung der Tatsache, daß sich anno 1983 zwar hunderttausende Dummköpfe für - wie man heute weiß von der Stasi organisierte - "Friedensmärsche" gewinnen ließen, um gegen die NATO-Nachrüstung zu demonstrieren, nicht aber als Kunden, um sich mit Wagner zu beschäftigen. Das war doch ein Wegbereiter der bösen Nazis, deren oberster Führer inzwischen Ronald Reagan hieß, und wenn man auf diesen Märschen Musik hören wollte, dann nichts von Wagner oder anderen "Faschos", sondern "99 Luftballons" von Nena oder andere Highlights (ja, man war zwar gegen die USA, aber die Vokabeln ihrer Sprache wurden damals massenhaft ins Deutsche übernommen) der "neuen deutschen Welle". Nur ein Jahr später wurden die schönen Wagner-Bücher und -Schallplatten allenthalben als Remittenden verramscht: Taschenbücher (die damals ohnehin noch billig waren) für 50%, gebundene Ausgaben und Tonträger für noch weniger, und seitdem hat Dikigoros eine kleine Wagner-Bibliothek und -Mediathek, die schon bei vielen echten Wagner-fans großen Neid hervor gerufen hat (und manches davon hat er sogar ganz gelesen bzw. gehört :-).

* * * * *

Da es Dikigoros bei seinen "Reisen durch die Vergangenheit" um historische Bezüge geht, läßt er Wagners erste beiden Opern - "Die Feen" und "Das Liebesverbot oder die Novize von Palermo" (Shakespeares "Measure for Measure" nachempfunden) - weg, denn sie haben nichts davon. Vielleicht muß ein Bühnenautor ein gewisses Alter erreichen, bevor er sich für historische Stoffe interessiert. In jungen Jahren tat Wagner das jedenfalls nicht; er war ein durchschnittlicher Kapellmeister, der sich aus der Masse seiner Kollegen lediglich durch die Masse seiner Schulden abhob - vielleicht wäre er sein Lebtag im sächsischen Leipzig geblieben, wenn er nicht ständig vor seinen Gläubigern auf der Flucht gewesen wäre. So aber gelangte er von Würzburg über Riga nach Paris, wo er 1838 endlich seine erste historische Oper schrieb: den "Rienzi". Die Geschichte des Nicola ("Cola") di Lorenzo ("R[i]enzo") - eines Berufskollegen von Robespierre, Benito Juárez, Lenin, Fidel Castro (und Dikigoros :-) - ist einer der faszinierendsten Stoffe der italienischen Geschichte überhaupt und sicher neben dem des Giovanni de' Medici der interessanteste nach Ende des Römischen Reichs und vor Beginn des 20. Jahrhunderts. (Dieser Vorbemerkung entnehmt Ihr, liebe Italien-Freunde - so Ihr es nicht bereits an anderer Stelle gelesen habt -, daß Dikigoros nicht viel von Garibaldi hält, den einige Italiener noch immer als ihren Nationalhelden ansehen, weil er im 19. Jahrhundert an ein paar Kriegen teilnahm, die zur staatlichen Einigung Italiens beitrugen (aber das ist eine andere Geschichte). Vielleicht nicht nur der italienischen, sondern der ganzen europäischen Geschichte. Gewiß, liebe Schreibtisch-Historiker, im ausgehenden Mittelalter, im 14. und 15. Jahrhundert, gab es in vielen Ländern "Populisten" (ein Wort, das Dikigoros - im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen - ganz wertfrei gebraucht), die mehr oder weniger lange "das Volk" um sich zu scharen wußten, um den Kampf um die politische Macht aufzunehmen: William Wallace in Schottland und Wat Tyler in England, Jan Žischka und Andreas Prokop in Böhmen, Engelbrecht Engelbrechtson in Dänemark und Sven Sture in Schweden, um nur die bekanntesten zu nennen. Aber bei Licht betrachtet waren das doch nichts weiter als Bauernführer, deren Pöbelhaufen im selben Augenblick auseinander liefen, als ihnen beim Marsch auf die Hauptstädte ernsthafter militärischer Widerstand entgegen gesetzt wurde, nicht anders als die von der DDR als frühe "Genossen" gefeierten Führer der deutschen Bauernkriege im 16. Jahrhundert. Rienzo aber war der erste intellektuelle Demagoge, der die städtischen Massen allein durch die Gabe seiner Beredsamkeit gewann - er war der geistige Urahn der Mussolini und Hitler.

War er es auch politisch, durch Wagner? Gab dessen Opernfigur ein Vorbild ab, das die National-Sozialisten [miß]brauchen konnten? Es gibt Leute, die diese Frage bejahen - u.a. den Dirigenten Daniel Barenboim, der meint, Hitler habe sich "bestimmt" als Rienzi gefühlt, oder den Theater-Regisseur Philipp Stölzl, der 2010 eine entsprechende Aufführung an der "Deutschen" Oper in Berlin inszeniert hat. Aber das ist wohl ein Trugschluß, der auf der Annahme beruht, daß bloß, weil diese historische Parallele im Rückblick tatsächlich bestand, auch Hitler sie schon gesehen haben müßte. Dafür gibt es indes keinen stichhaltigen Beleg. Den einzigen Hinweis, daß Hitler den "Rienzi" überhaupt mal gesehen hat, haben wir aus dem - fragwürdigen - Buch "Adolf Hitler, mein Jugendfreund" von Gustl Kubizek. Danach sollen die beiden 1907 mal zusammen eine "Rienzi"-Aufführung in Wien besucht haben, von der Hitler schwer beeindruckt gewesen sei. (Hitler selber hat davon nie etwas erwähnt; die einzige frühe Oper Wagners, an die er sich später erinnerte, war "Die Novize von Palermo", die er mal in Berlin gesehen hatte.) Aber selbst wenn dem so wäre: Sollte Hitler damals, im 18. Lebensjahr, schon die Idee gekommen sein, eines Tages wie Rienzi die Macht an sich zu reißen? Womöglich als Advokat und in Rom? Und am Ende wie Rienzi zu scheitern? Wohl kaum; er verabscheute die Akvokaten und Politiker, wollte vielmehr "Künstler" werden; erst nach dem Ersten Weltkrieg beschloß er - wenn wir "Mein Kampf" glauben dürfen - selber "Politiker" zu werden. Später, insbesondere nach der Machtergreifung, hat er den "Rienzi" nie mehr gesehen, denn er wurde praktisch nirgends mehr aufgeführt - kein Wunder, hatte Wagner ihn doch schon früh verworfen. Hätte Hitler diese Oper tatsächlich als so "vorbildlich" empfunden, hätte es doch für ihn nahe gelegen, seine guten Beziehungen zur Familie Wagner spielen zu lassen und sie zu drängen, den "Rienzi" auf die Bretter von Bayreuth zu bringen. Aber das tat er nicht; er erwähnte diese Oper weder in "Mein Kampf" noch sonst irgendwo - nicht einmal die berühmt-berüchtigten "Monologe im Führerhauptquartier", die Heinrich Heims mitstenografiert hat, enthalten auch nur den kleinsten Hinweis, obwohl Hitler oft und gerne über Wagner und seine - und andere - Opern sprach. Dabei kommt Erstaunliches zutage: Hitlers persönliche Lieblingsoper war "La forza del destino [Die Macht des Schicksals]" von Verdi, und von Wagners Opern ausgerechnet das völlig unpolitische "Tristan und Isolde". Erstaunlich deshalb, weil es die National-Sozialisten offiziell, also nach außen hin, doch vielmehr mit den germanischen Göttergestalten und deutschen Helden hielten, wie sie im "Ring des Nibelungen" und im "Lohengrin" auftraten, oder allenfalls noch mit den treu-deutschen Handwerkern aus den "Meistersingern". Wie dem auch sei: Für Rienzi interessierten sie sich offenbar nicht - weder offiziell noch privat -; er ging sie nichts an.

[Rienzo]

Viel eher hätte er die zeitgenössischen Pariser etwas angehen können, denn nur zehn Jahre nach der Uraufführung sollte dort ein anderer Volkstribun - der Neffe des ersten Napoleon - die Macht an sich reißen; aber das ahnte damals noch niemand, also flopte "Rienzi", und Wagner (dem es in Paris ohnehin nie so recht gefallen hatte, denn ohne Geld lebte es sich in der Seine-Metropole schon immer schlecht) war heilfroh, als er wieder eine Stelle als Kapellmeister angeboten bekam und nach Sachsen zurück kehren konnte, diesmal in die Landeshauptstadt Dresden. Dort hätte er nun auf Dauer bleiben, seine Opern schreiben und zur Aufführung bringen können (mit "Rienzi" gelang ihm immerhin ein Achtungserfolg - was ihn wie gesagt nicht hinderte, sich wenig später von diesem Werk zu distanzieren -, und auch "Der fliegende Holländer", "Tannhäuser" und "Lohengrin" gingen einigermaßen über die Bühne); aber es sollte alles ganz anders kommen. Denn im Innersten seiner Seele war Wagner - wie so viele Sachsen - ein Revolutionär. (Und weil Dikigoros meint, daß er sowohl Kapellmeister als auch Revoluzzer war, hält er nichts von Buch- oder Kapitel-Überschriften wie "Zwischen Barrikade und Walhalla" oder "Zwischen Odysseus und Ahasvar", die ein gewisser Dieter David Scholz jüngst in Mode gebracht hat; denn sie suggerieren, daß Wagner irgend etwas dazwischen gewesen wäre; aber er war im Geiste sowohl mit den Straßenkämpfern auf den Barrikaden als auch mit den gefallenen Helden in Walhall; er war sowohl ein [s]eine Heimat Suchender als auch ein ewig umher Irrender - das schließt sich eben nicht aus, sondern gehört vielleicht sogar notwendig zusammen.) Nein, er war es noch nicht im musikalischen Sinne (das sollte erst später kommen), sondern erstmal "nur" im politischen: Als im März 1848 anderswo in Europa die Revolution ausbrach, wurde zwar in Dresden noch nicht gekämpft, aber im Mai 1849 war es auch dort so weit, und Wagner war dabei, zwar nicht direkt auf den Barrikaden, aber dicht dahinter; und als die Revolution zusammen brach, mußte er fliehen; er fuhr über die Schweiz nach Paris, aber dort wütete gerade die Cholera, also reiste er zurück nach Zürich, wo er für die nächsten Jahre hängen blieb. Er suchte sich eine reiche Gönnerin (seine erste Frau Minna entfremdete sich ihm mehr und mehr - sie wollte Frau Hofkapellmeisterin sein, nicht die Frau eines steckbrieflich gesuchten Revoluzzers), die ihn aushielt, pardon, sein edles Werk und Wirken finanziell unterstützte.

Moment mal, werden die meisten Leser fragen, die von Wagner nur aus dritter Hand gehört haben, war das nicht ein böser Rechter, ein geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus - und ausgerechnet der soll 1849 zusammen mit den Linken gegen die Obrigkeit gekämpft haben? Tja, liebe Leser, als Kinder des 20. Jahrhunderts ist uns vielfach der Blick verstellt durch das Dritte Reich und sein (Miß-)Verständnis vom National-Sozialismus (bzw. dem, was seine Feinde im Nachhinein daraus gemacht haben, indem sie ihn ganz in die "rechte" Ecke gestellt haben). Wir empfinden deshalb "Sozialismus" und "Nationalismus" als Gegensätze, ordnen sie dem linken bzw. rechten Rand des politischen Spektrums zu und versetzen "Liberalismus" und "Konservatismus" ins linke bzw. rechte Mittelfeld. In dieses grobe Raster führen wir dann noch eine Reihe anderer "Ismen" ein und versehen sie mit "Links-Rechts"-Etiketten: Umweltschutz gilt (obwohl er doch etwas bewahren will, also ein zutiefst "konservatives" Anliegen ist) als "links", Antisemitismus als "rechts", Multikulti als "links", und das Zusammenfassen von Parlaments-Kandidaten und -Abgeordneten in Parteien-Listen und -Fraktionen als "demokratisch".

Mitte des 19. Jahrhundert war das jedoch alles ganz anders: Als "rechts", d.h. konservativ und reaktionär, galten die Monarchisten, die noch überall in Europa herrschten, und als "links", d.h. als revolutionär, galten alle, die dagegen waren: die "Nationalisten", die "Liberalen" und die "Demokraten". (Dagegen gab es noch keine "Kommunisten" - Marx und Engels hatten das "Kommunistische Manifest" gerade erst gepinselt und noch keine nennenswerte Anhängerschaft gefunden - und keine "Socialisten" - dieser Begriff sollte im politischen Sinne erst ein Vierteljahrhundert später von so genannten Arbeiterführern erfunden werden). Was wollten diese "linken" Revolutionäre? Nun, sie wehrten sich ziemlich genau gegen das, was die Obrigkeit ihren Untertanen auch heute wieder aufzuzwingen versucht: gegen den Multi-Kulti-Brei-Staat, dessen Grenzen willkürlich gezogen waren, dessen Herrschende keine Rücksicht auf Volks- oder Sprach-Zugehörigkeit nahmen, der seinen Bürgern das Recht auf Versammlungs-Freiheit und freie Meinungsäußerung vorenthielt (die Medien waren damals noch nicht staatlich monopolisiert und vorzensiert, also mußte vor allem die Presse geknebelt werden), und erst recht die direkte Teilhabe an der politischen Willensbildung. (Es gab damals wie heute keine Volksentscheide; und bis heute kann bekanntlich kein wirklich unabhängiger Kandidat vom Volk ins Parlament gebracht werden, weil die herrschenden politischen Parteien das Aufstellungs-Verfahren praktisch monopolisiert haben.) Schaut Euch doch mal in einem alten Atlas die Ländergrenzen von 1848 an, liebe Leser: In ganz Europa gab es staatliche Zwangsgemeinschaften, die mit Gewalt zusammen preßten, was nicht zusammen gehörte und auch nicht zusammen - geschweige denn mit einander - leben wollte: Engländer, Schotten, Waliser und Iren in Großbritannien, Flamen und Wallonen in Belgien, Franzosen, Bretonen, Basken, Korsen und Elsässer in Frankreich, Kastilier, Katalanen, Galizier und Basken in Spanien, Deutsch-Österreicher, Tschechen, Slowaken, Ruthenen, Rumänen, Ungarn, Kroaten, Slowenen und Italiener im Habsburger Reich, Russen, Ukrainer, Finnen, Esten, Letten, Litauer, Polen, Kaukasier, Turkvölker und Sibiriaken im Tsarenreich, Türken, Griechen, Armenier, Kurden, Ägypter, Libyer, Syrer, Iraker und andere Araber im Osmanischen Reich...

Nun ist es ja immer leichter, gegen etwas zu sein als für etwas. Wofür waren also diese "linken" Revolutionäre? Bei Licht betrachtet waren sie ziemlich genau für das, was heute als "rechts" bezeichnet und z.T. als "fascistisch" oder "national-sozialistisch" verfemt wird: Sie wollten ausbrechen aus ihren Multi-Kulti-Gefängnissen, endlich frei sein (jawohl, sie verstanden sich als "Freiheitskämpfer"!), ihre eigenen Staaten zu gründen, ihre eigenen, nationalen Regierungen zu wählen und ihre eigene Kultur und Sprache zu pflegen, ohne dynastische oder diplomatische Rücksichten, auf Minderheiten diesseits oder jenseits der Staatengrenzen - die letzteren sollten gefälligst den Volkstums- und Sprachgrenzen angepaßt werden! [Wie schrieb Wagner einmal: "Freiheit heißt: keine Herrschaft über uns dulden, die gegen unser Wesen, unser Wissen und Wollen ist." Insbesondere das Wort "Wesen" haben ihm die Gutmenschen übel genommen, weil sie dahinter - wie hinter fast allem bei Wagner - Anti-Semitismus wittern. Aber ganz ähnlich - eher noch schärfer - formulierte es auch der große jüdische Reiseschriftsteller Richard Katz in seinem Buch "Heitere Tage unter braunen Menschen" (damit meinte er allerdings keine Nazis, sondern indonesische Kanaken :-) - wen es interessiert, der kann das im einzelnen hier nachlesen.] Zu diesem Programm gehörte es auch, diejenigen hinaus zu werfen, die nicht dazu gehörten und sich partout nicht integrieren wollten, von den - oftmals fremdländischen - Herrscher-Häusern und deren Schergen (die meist als Angehörige der Besatzungs-Truppen gekommen waren, und sei es viele Generationen zuvor) bis zu den Billiglohn-Arbeitern (die Fabriken - die damals noch "Manufacturen" genannt wurden, obwohl dort längst nicht mehr nur von Hand gearbeitet wurde, sondern die ersten Maschinen Einzug gehalten hatten - begannen gerade, mittels Dumping-Löhnen die kleinen Handwerksbetriebe kaputt zu machen; deshalb standen auch auf den Barrikaden der Revolution meist arbeitslose Handwerks-Gesellen) und sonstigem Kroppzeug, das in deren Kielwasser ins Land gespült war: Die Franzosen und Polen wollten endlich die Juden los werden, die Tschechen und Ungarn die Österreicher, die Ostsee-Anrainer die Russen, und die Balkanesen... aber das ist eine andere Geschichte. Tja, wenn das immer so einfach gewesen wäre - und wenn einige Revolutionäre geahnt hätten, wie die Praxis aussehen sollte, als ihr Wunsch später verwirklicht wurde... Sagen wir ruhig einmal in aller Deutlichkeit, daß es z.B. den Slowaken und Kroaten im Habsburger-Reich viel besser ging als später in der Tschecho-Slowakei bzw. in Jugo-Slawien unter der Herrschaft ihrer tschechischen und serbischen "Brüder" - sie und viele andere "Revolutionäre" und "Freiheitskämpfer" (und deren bedauernswerte Erben) haben diesen Irrtum lange Zeit teuer bezahlt, bitter bereut und inzwischen teilweise korrigiert - z.T. durch noch weiter gehende "Selbständigkeiten"; aber auch den Ruthenen ging es im habsburgischen Galizien bestimmt, in Großpolen wahrscheinlich und selbst in der Sowjet-Union vielleicht besser als jetzt in "ihrem" eigenen Staat, der Ukraine. Sei's drum, die Menschen konnten damals ebenso wenig hellsehen wie heute, und vielleicht wog einigen die nationale Selbständigkeit die materiellen Einbußen, die sie mit sich brachte, sogar auf.

Die Kehrseite der Medaille war, daß diejenigen Völker, die noch keinen gemeinsamen Staat hatten, unbedingt einen haben wollten, allen voran die Italiener und die Deutschen. Professor Hoffmann aus Breslau hatte gerade auf Helgoland - das damals noch britisch besetzt war - einen Liedertext zu einer Komposition von Haydn geschrieben, dessen erste Strofe allerlei europäische Gewässer erwähnt, die damals noch allgemein für deutsch gehalten wurden. Nun kann man mit Fug und Recht fragen, was denn die Lombarden mit den Sizilianern, die Savoyer mit den Sarden, die Sachsen mit den Schwaben, die Niederländer (die wohnen an der Maas) mit den Oberbayern, die preußischen Schlesier mit den Schleswigern (die wohnen am Belt), die Tiroler (die wohnen an der Etsch) mit den Tilsitern (die wohnen an der Memel) gemeinsam haben sollten, daß sie unbedingt zusammen in jeweils einem Staat zusammen leben mußten. Dikigoros weiß es nicht; er kann diese Frage nur an seine Leser weiter reichen - vielleicht mailt ihm mal jemand eine überzeugende Antwort. Aber vielleicht war es das nicht allein; vielleicht war es auch eine Sehnsucht nach dem, was die Franzosen "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" nannten (und zwar ebenfalls erst seit 1848 - bei der so genannten "Französischen Revolution" von 1789 hatte die Parole noch anders gelautet, aber das ist eine andere Geschichte), einem Gefühl gemeinsamer Kultur, Religion und Sprache. (Obwohl - hatten nicht die Katholiken und Protestanten in Mitteleuropa Jahrhunderte lang erbitterte Krieg gegeneinander geführt? Sprachen nicht noch im Ersten Weltkrieg bayrische und preußische Offiziere, wenn sie das Pech hatten, im selben Schützengraben zu landen, mangels anderweitiger Verständigungsmöglichkeit miteinander Französisch?) Denn wenn es eine Vorstellung von "Brüderlichkeit" in dem Sinne gegeben hätte, daß alle Menschen Brüder werden sollten, wie es ein gewisser Schiller mal angedacht hatte, dann hätte man wiederum gar keine Staatsgrenzen mehr gebraucht - oder? Vielleicht war das damals auch alles gar nicht so großartig durchdacht, wie es politische Ideen und Programme heute zu werden pflegen (ohne daß immer soviel Gescheiteres heraus käme), und es gingen einfach nur Menschen guten Willens (aber schwachen Verstandes - wie war das gleich? "Der Geist ist billig, aber das Fleisch ist teuer!" :-) auf die Barrikaden, um ihr Los - und das ihrer Volksgenossen - zu verbessern. Wie dem auch sei - die Revolutionäre von 1848 waren (im Gegensatz zu vielen, die sich ein knappes Jahrhundert später so nannten) echte National-Sozialisten im besten Sinne des Wortes; und Wagner war einer von ihnen.

Welche Beweggründe aber trieben ihn dazu? Jemanden, der als königlich sächsischer Hofkapellmeister zum "Establishment" gehörte und von daher eigentlich allen Grund gehabt hätte, für die Erhaltung der bestehenden Ordnung einzutreten; jemanden, der immer gerne auf großem Fuße lebte, den Luxus liebte und das Geldausgeben; jemanden, der auf seiner Reise von Paris nach Dresden zum ersten Mal im Leben den ach-so-deutschen Rhein gesehen hatte (von Riga nach Paris war er mit dem Schiff gesegelt - was ihn übrigens zum "Fliegenden Holländer" inspiriert haben soll)... Wollte er einfach nur Revolution um ihrer selbst Willen machen, so wie heute viele "autonome" und "alternative" Revoluzzer einfach nur Krawall machen wollen, um irgend etwas zu zerstören? Oder gehörte Wagner vielleicht zu jenen Menschen, die der Nächstenliebe nicht fähig sind und deshalb in die Fernstenliebe flüchten? (So wie das im 20. Jahrhundert viele der psychisch kranken 68er taten, als ihnen der Marsch durch die Institutionen gelungen war: Mit den Menschen, zwischen denen sie geboren und aufgewachsen waren, konnten sie nicht umgehen, also schufen sie sich ein Ideal: das des guten Ausländers, den man unbedingt ins Land holen mußte - besonders wenn man selber in seinem Elfenbeinturm lebte und noch nie einen aus der Nähe gesehen hatte.) Ja, so könnte es gewesen sein: Mit den Franzosen war Wagner nicht ausgekommen, und so machte er es wie viele "Expats", die Heimweh haben und das kompensieren, indem sie sich aus der Erinnerung ein verklärtes Bild von zuhause malen (wobei sie meist verdrängen, warum sie von dort weg gegangen sind). Aber wie das so ist: Wenn man dann tatsächlich wieder nach Hause kommt, hält dieses Traumbild der Wirklichkeit nicht stand, und man ist bitter enttäuscht - das böse Zitat in der 5. Zeile der Überschrift über die Sachsen stammt aus einem Brief, den Wagner unmittelbar nach der Ankunft in Dresden schrieb. Also: "Die" Franzosen waren schlecht, denn "ubi bene, ibi patria [wo es einem gut geht, fühlt man sich zuhause]", und Wagner ging es in Paris wie gesagt ziemlich schlecht, und "die" Sachsen waren aus der Nähe betrachtet auch nicht viel besser; also schuf Wagner sich ein neues Ideal für seine Träume: "die" Deutschen. Und da er auch die in der Gegenwart nicht fand, erhob er ihre Schaffung zum politischen Programm für die Zukunft und suchte sich ihre Vorbilder in der Sagenwelt der Vergangenheit - und damit kommen wir endlich wieder zu seinem Bühnenwerk.


[Fliegender Holländer]

Noch in Paris hatte Wagner den "Fliegenden Holländer" geschrieben - und damit sind wir schon wieder mitten in der Politik. War diese Geschichte vom "ewigen Juden" nicht anti-semitisch? Dagegen spricht nicht, daß er sie unstreitig von dem Juden Harry Cheym alias "Heinrich Heine" hatte, liebe Leser; auch "Jud Süß" stammte von einem Juden - Lionel Feuchtwanger -; es kommt darauf an, was man aus solchen Stoffen macht! Aber gerade da vermag Dikigoros in Wagners Oper - anders als in anderen Bearbeitungen - nichts zu entdecken: Der "Holländer" wurde vom Teufel verflucht, weil er unbedingt das Kap der Guten Hoffnung umrunden wollte, und wenn er es bis zum Jüngsten Tag versuchen müßte. (Kein Wunder, daß ihm das nie gelang, wenn er sich vor der norwegischen Küste - also am anderen Ende der Welt! - herum trieb :-) Nur die ewige Liebe und Treue einer reinen Jungfer könnte ihn "erlösen". (Ja, so wie Kleist es immer mit dem "Verrat" hatte, hatte Wagner es immer mit der "Erlösung" - diesem Motiv werden wir noch öfter begegnen!) Zum Glück trifft der "Holländer" in einem Sturm den norwegischen Kapitän Daland, der ihm von seiner Tochter Senta erzählt, die - wie es der Zufall so will - sich gerade in das Bild des "Holländers" verliebt hat, sehr zum Unwillen ihres ständigen Verehrers Erik. (Ihr Vater zieht freilich den reichen "Holländer" dem armen Jägersburschen als Schwiegersohn vor.) Gerade als sie dem "Holländer" ewige Liebe und Treue geschworen hat, kommt dieser lästige Jäger an und macht seine angeblichen älteren Rechte geltend. Nun fühlt sich der "Holländer" um seine "Erlösung" betrogen und segelt auf und davon. Senta, ganz verzweifelt ob dieses Mißverständnisses, springt ins Wasser und ertrinkt, nicht ohne zuvor ihre ewige Liebe und Treue verkündet zu haben, so daß wir also annehmen dürfen, daß der "Holländer" seine Erlösung doch noch bekommt. (Auch dieses Motiv - Mißverständnis der Liebenden mit tödlichen Folgen - wird uns bei Wagner noch einmal begegnen, in "Tristan und Isolde".) Zurück bleibt ein verzweifelter Erik - dabei sollte der doch froh sein, daß er diese überspannte Tussi los ist; aber Männer sind halt, wie Frau Dikigoros zu sagen pflegt, manchmal weniger kopf- als schwanzgesteuert. (Auch Wagner hat man das nachgesagt, und vielleicht nicht ganz zu Unrecht.)

[Fliegender Holländer]
Schlußszene: Erik sieht dem absegelnden Holländer nach

Und was hat das ganze nun mit der Geschichte von Ahasver, dem "ewigen Juden" zu tun? Eben: gar nichts! Die Sage vom "fliegenden Holländer" bezog sich ja gar nicht auf eine Person, sondern auf ein Geister- oder Gespensterschiff - und von ihr gab es so viele verschiedene Versionen, wie es heutzutage Berichte von Leuten gibt, die "fliegende Untertassen" oder andere "UFOs [Unbekannte Flug-Objekte]" gesehen haben wollen. (Nicht lachen, liebe Leser; die Annahme, daß es die gibt, ist nicht weniger unwahrscheinlich als die, daß 1969 oder danach Menschen auf dem Mond gelandet sind - aber das ist eine andere Geschichte. Wenn man den Amerikanern das einerseits glaubt, kann man nicht andererseits ausschließen, daß es auch dem Mann im Mond oder den kleinen grünen Männchen vom Mars in umgekehrter Richtung gelungen ist.) Auch Wagners Zeitgenossen brachten solche Geschichten gerne zu Papier, nicht nur Heine, sondern auch Hauff oder Scott - aber keiner von ihnen brachte das in Zusammenhang mit der alten Legende des Juden Ahasver, der bei der Kreuzigung Christi mitgewirkt haben soll und zur Strafe für alle Zeiten umher irren muß - übrigens ohne Erlösungsmöglichkeit. (Bei Hauff handelt es sich vielmehr um einen türkischen Piraten aus Algier - also einen Muslim -, der erst 50 Jahre "unterwegs" war.) Auch bei Heine, der die Geschichte in seinen "Memoiren des Herren von Schnabelewopski eher durch den Kakao zieht, wird es ja nichts mit der Erlösung, das ist Wagners ureigenste Idee (wenn man mal von dem Gedicht "Der ewige Jude" absieht, das C.F.D. Schubart 1783 geschrieben hatte; aber erstens weiß der nichts von einem Schiff, zweitens wird Ahasver da auch ohne weibliches Zutun erlöst - allein durch Gottes Gnade -, und drittens hat Wagner dieses Gedicht schwerlich gekannt). Und Wagner hat ja auch beschrieben, wie erst seine Schiffsreise von Riga nach London ihn auf die Idee brachte, den Stoff - den er schon vorher gekannt habe - zu einer Oper nach seinen eigenen Vorstellungen umzuformen. Deshalb ist es zwar reizvoll, aber müßig, der Frage nachzugehen, ob es wirklich ein "historisches" Schiff gegeben hat, auf das die Sage zurück geht, wie das ein gewisser Michael Schneider getan hat. Denn die Sage gab es eben gar nicht, sondern viele Sagen. (Übrigens nicht nur mit einem "Holländer" als Hauptgestalt. In der Karibik gibt es z.B. die Sage von "Catherine und Patrice", einem Seeräuberschiff mit einer Besatzung aus bösen Politikern, das von Zeit zu Zeit brennend vor der Küste von Haïti auftaucht. Und vor der Küste Englands, genauer gesagt vor Deal in Kent, wird seit 1798 alle 50 Jahre am 13. Februar die "Lady Lovibond" gesichtet - angeblich muß ihr Steuermann John Rivers, der sie auf eine Sandbank gesteuert hatte, so lange um den Globus segeln, bis er von einer reinen Jungfrau erlöst wird - da kann er heutzutage lange suchen :-) Und den historischen "Ahasver" gab es wohl auch nicht. Als die Bibel geschrieben wurde, war das noch die hebräische Verballhornung eines persischen Herrscher-Namens (Xerxes? Artaxerxes?); die Idee vom "juif errant" stammt aus dem Mittelalter - wahrscheinlich aus Italien. Man tut Wagner deshalb Gewalt an, wenn man im Rückblick voraussetzt, daß jeder, der damals seine Oper vom Geisterschiff hörte, damit automatisch die Geschichte vom "ewigen Juden" assoziierte; und noch abenteuerlicher wird es, wenn man gar unterstellt, daß Wagner unter dessen "Erlösung" so etwas wie die "Endlösung" der Judenfrage durch die National-Sozialisten verstanden hätte. Es gab immer nur einen, der sich umher getrieben fühlte, und der "erlöst" werden wollte - vorzugsweise durch die reine Liebe einer jungen Frau -, und das war... Wagner selber.

Exkurs. Wer ist eigentlich auf die Schnapsidee gekommen, den "fliegenden Holländer" als Person mit Ahasver, dem "ewigen Juden", gleich zu setzen? Dieser Frage scheint noch niemand ernsthaft nachgegangen zu sein, da sie scheinbar ganz leicht zu beantworten ist: Nennt nicht Heine den Fliegenden Holländer "den ewigen Juden des Ozeans"? Ja, aber pardon, liebe Leser, das ist doch keine Gleichsetzung, sondern allenfalls ein Vergleich! Schaut Euch die Stelle (gleich im zweiten Absatz im 7. Kapitel des "Schnabelewopski") mal im Kontext an - da gibt es keine Gleichsetzung! Die letztere geht vielmehr auf einen Aprilscherz zurück, den sich der französische Dichter Charles Baudelaire geleistet hat, als er am 1. April 1861 einen Aufsatz mit dem Titel "Richard Wagner et Tannhäuser à Paris" veröffentlichte, der in Frankreich ungeheuer populär wurde - und mit ihm Wagner (jedenfalls bis zum deutsch-französischen Krieg 1870/71, mit dem er für zwei Generationen in Ungnade fallen sollte). Darin erwähnt Baudelaire eher nebenbei auch "Le Hollandais volant" (das in Frankreich eher unter dem Titel "Le vaisseau fantôme [Das Geisterschiff]" bekannt war), "l'histoire si populaire de ce Juif errant de l'Océan". Vielleicht wollte er damit gar nicht mehr sagen als Heine; aber wenn man wollte, konnte man das auch als Gleichsetzung mißverstehen - und die Leser wollten es so [miß]verstehen, denn die meisten von ihnen waren - Anti-Semiten. Ja, diese Erscheinung war damals in Frankreich weit stärker verbreitet als etwa in Deutschland - die "Affäre Dreyfus" war nur die Spitze vom Eisberg -, und Wagners eigener Aufsatz über das Judentum in der Musik (der 1869 noch einmal veröffentlicht wurde) schien diese Interpretation ja zu bestätigen. Seitdem scheint es selbstverständlich, wenn gedankenlose Kritiker über den Kapitän des "fliegenden Holländers" schreiben: "Sein Schicksal scheint das Ahasvers, des 'Ewigen Juden', zu sein, der zur ewigen Ruhelosigkeit verdammt ist." Was die Weigerung Ahasvers, Iesus eine kurze Rast zu vergönnen, mit dem Wunsch des Kapitäns, das Kap zu umrunden, zu tun haben soll, wieso der letztere von der Liebe einer Jungfrau erlöst werden kann und der erstere nicht, fragt offenbar niemand, ebenso wenig, was denn an diesem Schicksal eigentlich so schlimm sein soll: Bei Hauff, ja, da mag es nicht besonders angenehm sein, mit dem Kopf an den Mast genagelt zu sein - aber sonst? Haben die Menschen nicht immer nach "Unsterblichkeit" gesucht? Gewiß, alt zu werden ist schrecklich, und alt zu sein ist bisweilen schlimmer als sterben (wer das nicht glaubt, mag sich einmal in den "Altersheimen" unserer westlichen Zivilisation umschauen); aber der Kapitän altert doch gar nicht! Und ist das Herumreisen auf allen Kontinenten (was vor der Erfindung des Flugzeugs "auf allen Weltmeeren" bedeutete) nicht geradezu das Traumziel für die Lebensplanungen unserer Zeit? Fragt einen Fernsehquiz-Teilnehmer, was er denn im Erfolgsfalle mit dem gewonnenen Geld anfangen wolle, dann antwortet er nicht etwa: Ein Haus bauen, eine Familie gründen, einen Baum pflanzen, ein Buch schreiben, geschweige denn - und sei er noch so alt - zur Ruhe kommen und mir einen schönen Grabstein kaufen, um in Frieden sterben zu können, damit es mir nicht so geht wie dem Fliegenden Holländer, sondern ganz im Gegenteil: Fast alle Kandidaten äußern den Wunsch, auf Reisen zu gehen. Nun ist Dikigoros der letzte, der etwas gegen Reisen hätte, wenn sie denn mit Sinn und Verstand unternommen werden, d.h. um andere Länder und Leute kennen zu lernen und zu sehen, wie die Menschen dort leben; aber wenn er die heutigen Touristenströme so sieht, vor allem die der so genannten "Pauschal-Touristen", dann fühlt er sich manchmal an die Geschichte von Ahasver erinnert: ruhelos umher getrieben und nie erlöst. Und so macht erst jetzt die Gleichsetzung Ahasvers mit dem Kapitän des "fliegenden Holländers" einen Sinn - was offenbar auch die KLM erkannte, die eines ihrer ersten Flugzeuge auf den Namen "Der fliegende Holländer" taufte und eines ihrer frühen Werbeplakate für den Luftreiseverkehr unter das Motto "Fiktion wird Fakt" stellte: Die Menschen von heute sind beides; vielleicht schließen sie deshalb von sich auf Wagner zurück und interpretieren seine Oper genauso. Exkurs Ende.

Nachtrag. Was treibt Menschen ruhelos umher und läßt sie wenn nicht unsterblich werden, so doch oftmals viel länger leben, als es die Natur eigentlich vorgesehen hat, bis sie endlich die "Erlösung" finden? "Der Haß stirbt" überschrieb der tragische Held Léon Degrelle seine Memoiren; und Dikigoros hat ja bereits an anderer Stelle zum Ausdruck gebracht, daß das ein Irrtum war. Aber der Haß tötet auch nicht, jedenfalls nicht den, der ihn hegt, im Gegenteil: Haß hält am Leben - viel mehr als die Liebe -, der Wunsch nach Rache, nach Genugtuung, nach "Gerechtigkeit"; und wenn dieses Ziel erreicht ist, darf auch der Tod endlich die Erlösung bringen. Dikigoros' Schwiegervater war ein ausgemachter Fußballnarr; und das nach seiner Meinung zu Unrecht verlorene Endspiel gegen England bei der Fußball-WM von 1966 - es war das erste Mal nach seiner Flucht aus der "DDR", daß die DFB-Auswahl den WM-Titel hätte gewinnen können - hat ihn nie mehr los gelassen, auch als er schon längst keine Freude am Leben mehr hatte, fast 93 Jahre alt, kränklich und einsam - er hatte nicht nur alle seine Geschwister und Schwäger[innen] überlebt, sondern auch eine Tochter, einen Schwiegersohn (den Mann der zweiten Tochter), zwei Enkel (die beiden Kinder der dritten Tochter) und vor allem seine deutlich jüngere Frau, ohne die er völlig hilflos war - und die paar übrig gebliebenen Verwandten wohnten weit weg. Das einzige Vergnügen, das ihm noch geblieben war, war vor dem Fernseher zu sitzen und Fußballspiele anzuschauen. Im Juni 2010 war wieder Fußball-WM; wieder traf die DFB-Auswahl auf England. (Zum Glück bekam er nicht mehr mit, daß auf Seiten des DFB kein einziger echter Deutscher auf dem Platz stand, sondern nur Polen, Türken, Afrikaner und Bayern - was den alten Preußen vielleicht am schwersten getroffen hätte; er war immer der Meinung gewesen, daß die gefälligst ihre eigene Nationalmannschaft aufmachen sollten :-) Wieder schossen die "Engländer" (bei denen noch mehr Afrikaner mit spielten als beim DFB) ein "Wembley-Tor". Aber während es damals eigentlich keines war und trotzdem anerkannt wurde, so war es diesmal eigentlich doch eines und wurde trotzdem nicht anerkannt, so daß die DFB-Auswahl diesmal siegte - sogar um ein Tor höher als sie damals verloren hatte. Ausgleichende [Un-]Gerechtigkeit? Dikigoros weiß es nicht, und ihm persönlich ist das auch ziemlich schnuppe; aber sein Schwiegervater empfand es offenbar als solche: Nach der Fußball-Übertragung schlief er friedlich - endlich in Frieden mit sich und der Welt - ein und wachte nicht wieder auf. Er war - nach 44 Jahren - erlöst; und ein moderner Wagner hätte aus dem Stoff im Zeitalter der allgemeinen Fußball-Hysterie vielleicht einen neuen "Holländer" gemacht.

Dikigoros könnte Euch auch ein bekannteres Beispiel nennen als seinen Schwiegervater; aber bei letzterem ist er sich des Motivs sicher, bei ersterem ist es nur eine Vermutung - entscheidet selber: Ältere Fußballfans werden sich vielleicht noch an den Namen Reinhold Münzenberg erinnern - die jüngeren können ihn irgendwo nachschlagen. Er war in den 1930er Jahren Nationalspieler - Teilnehmer an den Weltmeisterschaften 1934 und 1938 - und nach dem Krieg Präsident von Alemannia Aachen. Eines seiner ersten Spiele für den DFB bestritt er 1931 in Paris gegen Frankreich. Es war das erste Fußball-Länderspiel zwischen den "Erbfeinden" Frankreich und Deutschland überhaupt, und die Favoritenrolle war klar, denn die Franzosen galten als drittklassig - sie spielten lieber Rugby, und Neger und/oder Araber hätte man damals noch nicht aufgestellt. Aber die Deutschen erwischten einen rabenschwarzen Tag, allen voran Münzenberg, der das einzige Tor des Tages erzielte: ein Eigentor zum 1:0-Endstand für Frankreich. Zur Strafe wurde er drei Jahre lang nicht mehr in die National-Elf berufen; und auch als er wieder ran durfte, lastete die Erinnerung an jenes Spiel wie ein Fluch auf ihm: Obwohl er insgesamt 41 Spiele für den DFB bestritt - damals eine beachtliche Zahl, zumal angesichts der dreijährigen Zwangspause - gelang ihm kein einziges Tor mehr (nicht mal ein Eigentor :-). Münzenberg kam in die Jahre, litt an seinem Trauma, hing schließlich wie Dikigoros' Schwiegervater nur noch vor dem Fernseher herum und schaute Fußball. Bei der WM 1986 traf der DFB wieder auf Frankreich; und diesmal gelang den Deutschen endlich ein unumstrittener 2:0-Sieg. (Ihren Sieg bei der WM vier Jahre zuvor hatten die Monopol-Medien einem angeblichen Foul des deutschen Torhüters an einem französischen Angreifer zugeschrieben und damit "moralisch entwertet". Tatsächlich war es eine brutale Attacke des Franzosen gewesen, der sich - Schädel vorweg, wie ein wilder Stier, schließlich befand man sich in Sevilla, einer Hochburg des Stierkampfes - auf den Deutschen stürzte, der im Strafraum nach dem Ball gesprungen war und noch versuchte, sich weg zu drehen; aber der Angriff des Franzosen war zu scharf, der Zusammenprall unvermeidbar. Der Schiedsrichter stellte den französischen Rüpel wohl nur deshalb nicht vom Platz, weil der sich dabei selber verletzte und vom Spielfeld tragen ließ. Aber diese simple Wahrheit - die durch zahlreiche Videoclips auf YouTube u.ä. Webseiten für jeden, der keine Tomaten auf den Augen hat, unzweifelhaft belegt wird - werdet Ihr nirgendwo in der veröffentlichten Meinung wieder zu finden... außer bei Dikigoros, versteht sich. Die Franzosen behaupteten hinterher kackfrech, der Schiedsrichter habe sie ihrer WM-Chance beraubt, er hätten nämlich den Deutschen vom Platz stellen und Strafstoß geben müssen. So löste denn ein Harald, der sich "Toni" nannte, einen Wilhelm, der sich "Richard" nannte, als in Frankreich verhaßtesten Deutschen ab. Nein, liebe Besserwisser, der, den Ihr meint, war doch "Österreicher" :-) Münzenberg, inzwischen ein alter Mann, schlief nach dem Schlußpfiff friedlich ein und wachte nicht wieder auf; auch er war - nach 55 Jahren - erlöst. Nachtrag Ende.

Aber Dikigoros will der eingangs gestellten Frage nicht ausweichen: Gewiß, Wagner war das, was man heute einen "Anti-Semiten" nennt, nämlich ein Judenfeind. [Korrekt ist es nicht, diese beiden Begriffe gleich zu setzen, geschweige denn, sie mit "Rassismus" in einen Topf zu werfen. Die Juden sind keine "Rasse", sondern gehören - wie die "Arier" - zur weißen Rasse; die Semiten sind allenfalls eine Unterrasse, der neben den Juden auch ihre ärgsten Feinde, die Araber, angehören. Und die "Nürnberger Gesetze", oft als "Rassengesetze" bezeichnet, stellten gar nicht auf die Rasse ab, sondern auf die Religions-Zugehörigkeit: Ein reinrassiger Jude, der vier getaufte Großeltern nachweisen konnte, galt als "Arier"; aber ein reinrassiger Germane, der das nicht konnte und das Pech hatte, vielleicht noch einen Namen und eine Nasenspitze zu haben, die nicht ganz dem "deutschen" Ideal entsprachen, konnte dadurch eine Menge Ärger bekommen. Hitler selber bezeichnete Jesus (der unzweifelhaft Jude war) als "Arier", dessen Lehre von Paulus (der ebenfalls Jude war) zu dem verfälscht worden sei, was heute "Christentum" genannt werde; und er äußerte sich positiv über den Islam, die Religion der - wie gesagt ebenfalls semitischen - Araber. Aber was soll's; da es sich nun mal so eingebürgert hat, spricht auch Dikigoros der Einfachheit halber weiter von "Anti-Semitismus", wenn er "Judenfeindschaft" meint.] Daran kann kein ernsthafter Zweifel bestehen, denn Wagner hat daraus nie einen Hehl gemacht. (Der bisweilen zitierte Satz aus dem Jahre 1881: "Der gegenwärtigen 'antisemitischen' Bewegung stehe ich vollständig fern" bezog sich lediglich auf Wagners kritisches Verhältnis zu Professor Heinrich-mir-graut-vor-dir Treitschke, dessen Art von Anti-Semitismus nicht die seine war.) Und dies war sicher einer der Gründe, weshalb Wagner im Dritten Reich so populär war. (An seiner Musik kann es kaum gelegen haben; sie war für den Geschmack der Nazis eigentlich zu modern, um nicht zu sagen "entartet".) Warum? Darüber haben viele Biografen gerätselt, denn Wagner hatte viele jüdische Gönner, und eigentlich keinen, der ihm ernsthaft geschadet hätte; er hatte also scheinbar keinen objektiven Grund, einen Juden - oder gar "die" Juden - zu hassen.

Doch Haß ist ein Gefühl, und was ist an Gefühlen schon objektiv? Vielleicht hatte der große Psychologe Nietzsche - erst ein guter Freund, dann ein böser Feind Wagners - Recht, wenn er schrieb, daß manche Menschen ihre Wohltäter hassen, aus einem Gefühl der Minderwertigkeit heraus, weil sie sich ihnen nicht erkenntlich zeigen können? (Und vielleicht war dieser Spruch sogar auf Wagner gemünzt?) Welche Gründe könnte es sonst gegeben haben? Wagner mochte die Musik von Meyerbeer und Mendelssohn-Bartholdy nicht. (Dagegen war er persönlich mit beiden zu deren Lebzeiten gut Freund, auf diese Feststellung legte er selber großen Wert.) Na ja, auch Dikigoros gefällt sie nicht sonderlich, aber ihm gefällt auch an Wagners Musik vieles nicht - das ist letztlich keine Frage des Pro- oder Anti-Semitismus, sondern des guten oder schlechten Geschmacks. Einige jüdische Kritiker hatten Wagners Stücke verrissen - einige nicht-jüdische auch, na und? Wer war in den letzten - auch finanziell erfolgreichen - Jahren Wagners dessen Theater-Manager? Der tüchtige Angelo Neumann (der auch schon mal selber mit sang, wenn Not am Mann war)! Wen ließ Wagner bis zuletzt seine Aufführungen - ja, auch das ach-so-christliche "Bühnenweihfestspiel" Parsifal! - dirigieren (obwohl man ihm nachsagte, ein Verhältnis mit seiner Frau Cosima zu haben)? Den großen Hermann Levi. [Habt Ihr auch den Schwachsinn gelesen, den 2009 ein gewisser Stephan Mösch verzapft hat, daß Richard und Cosima Wagner Levi zutiefst gehaßt hätten, weil er Jude war, und ihn nur auf Befehl von Ludwig II im Amt ließen? Aber Ludwig wurde 1886 ermordet - wer hätte Wagner bzw. seine Witwe zwingen können, Levi danach noch bis 1894 als Dirigenten weiter zu beschäftigen?] Wen ließ Hitler seine größten Schlachten zu Lande und in der Luft schlagen? Die Feldmarschälle "Erich v. Manstein" - richtig Fritz v. (bereits sein Vater war für seine Verdienste als preußischer General geadelt worden) Lewinski - und Erhard Milch. Wen ließ Hitler die "Endlösung" organisieren, weil er sie als besonders zuverlässig schätzte? Reinhard Tristan Heydrich (bereits sein Vater - ein großer Wagner-fan - war konvertiert und hatte diesen Namen angenommen) und Adolf Eichmann. Und wer war der Chef-Ideologe und -Mythologe des National-Sozialismus (von dem er übrigens auch die Schnapsidee mit dem "Arier" Jesus hatte)? Alfred Rosenberg. Sie waren [Halb-]Juden; und dennoch ließ Hitler alle fünfe gerade sein, d.h. "Arier". Was sagt Antonio am Ende des ersten Aktes in Shakespeares "Kaufmann von Venedig", nachdem Shylock versprochen hat, seinem Freund 3.000 Dukaten zu leihen: "Heil dir, arischer Jude. [Ihr dürft "gentle" nicht einfach mit "wacker" übersetzen, wie das Schlegel und seine Epigonen getan haben - "gentiles" ist der jüdische Ausdruck für Nicht-Juden, Shakespeare arbeitete oft mit solchen hintergründigen Wortspielen.] Dieser Hebräer wird zum Christ, wo er doch so gütig ist." Nein, der Anti-Semitismus, jene merkwürdige Gefühlsregung - manche ihrer Träger erinnern Dikigoros an Männer, die erst lautstark auf "die Frauen am Steuer" schimpfen, sich aber dann, nachdem sie sich in der Bar haben voll laufen lassen, von ihnen nach Hause fahren lassen und anschließend (so sie noch einen hoch kriegen :-) mit ihnen ins Bett gehen - ist schwerlich auf Wagners eigenem Mist gewachsen; deshalb kann man ihn auch nicht als "Vorläufer" oder "geistigen Vater" desselben anprangern. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Der Anti-Semitismus war eine - in Deutschland noch am wenigsten - weit verbreitete Erscheinung, und die Gründe dafür kann man sicher nicht ausschließlich in der Welt der Musik oder des Theaters suchen. Neid? Ja, das ist immer ein guter Beweggrund, und einige erfolgreiche jüdische Bankiers und Geschäftsleute stachen ja auch jedem ins Auge, zumindest die Sefardim im Westen. Aber die schlimmsten Juden-Verfolgungen gab es gar nicht dort, sondern bei den Aschkenasim in Osteuropa, in Rußland und Polen, und von denen waren die meisten eher arm.

Es muß also noch eine andere Art von Neid gewesen sein, und Dikigoros glaubt sie gefunden zu haben. Erinnert Ihr Euch, liebe Leser, was er gerade über die Sehnsucht der Völker nach der eigenen Nation geschrieben hat, nach der Bewahrung der eigenen Kultur, Sprache und Religion? Welches Volk hatte denn, obwohl seit zwei Jahrtausenden über alle Welt zerstreut, am erfolgreichsten an all dem festgehalten? An der jüdischen Kultur, am alt-testamentarischen Glauben, an der mittelhochdeutschen ("jiddischen") Sprache (ein ganz objektiver Grund neidisch zu sein speziell für die Deutschen, die das selber nicht getan hatten - aber das ist eine andere Geschichte)? Eben - die Juden, genauer gesagt die Aschkenasim (die Sefardim hatten sich mehr oder weniger "assimiliert"). Schaut Euch dagegen nur mal die Deutschen an: Deren Kultur und Sprache waren in der Regel schon eine Generation nach ihrer Auswanderung, etwa in die USA, im "melting pot" auf-, d.h. untergegangen, und zwar auch schon vor den anti-deutschen Pogromen von 1917 (von denen übrigens auch viele Aschkenasim mit ihren deutschen Namen - die Sefardim trugen und tragen meist spanisch-portugiesische Namen oder solche, in denen die Rose vorkommt, nicht nur "Rosenberg" - betroffen waren, aber das ist ebenfalls eine andere Geschichte.) Dennoch sollte man die Kirche des Anti-Semitismus im Dorf lassen. Gewiß, Wagner hat Schlechtes über "die" Juden geschrieben; aber ausweislich des bereits erwähnten Zitats aus der 5. Zeile der Überschrift hat er, der Sachse, das auch über "die" Sachsen getan. Und, um auf die Oper zurück zu kommen: Da vermag Dikigoros beim besten Willen keinen Anti-Semitismus zu entdecken, weder in der Geschichte an sich noch in Wagners Bearbeitung: Der "fliegende Holländer" muß auf einem Geisterschiff über die Weltmeere segeln (was ist daran eigentlich so schlimm?), bis ihn die uneigennützige Liebe einer edlen Jungfer erlöst - und das tut sie dann ja auch, nach vielen Stunden kaum mehr als durchschnittlicher Musik, die man leicht um die Hälfte kürzen könnte, wenn Ihr Dikigoros fragt. Ist Euch mal aufgefallen, liebe Leser, wie dünn fast alle Librettos von Wagner sind? Von der Handlung und vom Text her passiert bei ihm nämlich meist nicht viel (mit Ausnahme des "Rienzo" - das war auch der ganz offizielle Grund, weshalb er ihn später nicht mehr mochte); er reichert bloß jedes Wort, ja jede Silbe mit so vielen Tönen an, daß sich der Sprechgesang endlos hinzieht wie der sprichwörtliche Kaugummi - in einem fünfminütigen Lied von Reinhard Mey ist im Schnitt mehr Text enthalten als in einem einstündigen Opern-Akt von Wagner. [Was nicht nur daran liegt, daß Wagners Werke fast immer zu langsam gespielt werden - worüber er sich wiederholt aufregte, wie man u.a. hier nachlesen kann.]

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Noch ein Nachtrag für diejenigen, die Dikigoros seine Ausführungen über Rassismus, Anti-Semitismus und Judenfeindschaft in Bezug auf Wagner nicht glauben wollen, der sich hier chronologisch gerade gut einfügt: 1843 schrieb Wagner den Text für eine historische Oper, aus der leider nie etwas wurde (das Libretto wurde erst im Mai 2003 in Dresden uraufgeführt): "Die Sarazenin". Die Geschichte spielt gegen Ende der Stauferzeit, als Friedrich II tot war und der Kampf um seine Nachfolge tobte. Sein Sohn Konrad war tot, sein Enkel Konradin noch unmündig; während sich im Reich Könige und Gegenkönige abwechselten, spielte sein Onkel Manfred - Friedrichs letzter überlebender Sohn - den Reichsverweser in Unteritalien. Doch auch dort verhärten sich die Fronten: Normannen, Deutsche, Italiener und Araber sind zerstritten; der Papst stellt sich gegen die Staufer und ruft die französischen Anjous ins Land. 1266 findet die Entscheidungsschlacht in Benevent statt: Die Italiener desertieren, Manfred fällt - ebenso wie die meisten anderen Deutschen -, die Franzosen triumfieren. (Für's erste jedenfalls; keine zwei Jahrzehnte später werden sie bei der "Sizilianischen Vesper" allesamt massakriert - von den Italienern, die erneut die Seiten wechseln und die Katalanen von Aragon ins Land holen; aber das ist eine andere Geschichte.) Was würdet Ihr, liebe Leser, aus diesem Stoff für ein Drama machen? Ihr fragt zurück, was Dikigoros daraus machen würde? Na, dreimal dürft Ihr raten; aber er ist voreingenommen, weil er im Gegensatz zu Wagner um den doppelten Verrat der Italiener in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrunderts weiß - sein Vater hat den Verrat von 1943 am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Aber was hat Wagner daraus gemacht? Ein Eifersuchtsdrama, dessen Beteiligte am Ende alle tot sind: Die "Sarazenin" Fatima, Tochter des Profeten, pardon Friedrichs II (Wagner hat sie frei erfunden - aber nicht unglaubhaft, denn von Friedrich II war ja bekannt, daß er sich einen großen Harem mit Araberinnen hielt). Die liebt Nureddin, Manfreds treuesten Diener, der von Burello, dem italienischen Intriganten, auf das Übelste verleumdet wird. Nur Konradin - den alle schon tot geglaubt hatten - wird plötzlich wieder für lebendig erklärt. (Er sollte erst später von den Franzosen ermordet, pardon als Kriegsverbrecher hingerichtet werden; aber das interessiert Wagner nicht.) Was an diesem Entwurf so interessant ist (oder überhaupt daran, daß Wagner sich diesen Stoff heraus gepickt hat), ist die Verteilung der "guten" und "bösen" Rollen: Nicht nur die Italiener, sondern auch die Normannen ("Burello" ist ein normannischer Name, nur oberflächlich latinisiert - das entspricht übrigens den historischen Tatsachen, denn die Normannen waren nach zwei Jahrhunderten weitgehend in den Italienern aufgegangen) zählen zu den letzteren; die "Sarazenen", also die Araber, dagegen zu den ersteren, den "Guten", die dem "Deutschen" die Treue hielten. Wagner machte sich also offenbar keinen Kopf, daß Araber auch Semiten sind - ebenso wenig wie der "Führer" Hitler, der dem arabischen Mufti von Jerusalem in Deutschland Asyl gewährte und sich, wiewohl "Rassist", mit den "gelben" Japanern verbündete (während er gegenüber seinem "arischen" Kollegen, dem bengalischen "Netaji [lieben Führer]" Subhash Chandra Bosh, persönlich große Vorbehalte hatte).

[Exkurs. Von "Rassismus" und "Anti-Semitismus" ganz abgesehen, ist auch der "Nationalismus" Wagners eine merkwürdige Sache - aber auch da war er nur ein Kind seiner Zeit. Er verstand, wie so viele deutsche Dramatiker des 19. Jahrhunderts (Dikigoros hat sie in der Einleitung zu dieser "Reise durch die Vergangenheit" kurz aufgezählt) die letzten Staufer, also auch Manfred, als "Deutsche". Doch daran kann man mit Fug und Recht zweifeln. Wagner wußte offenbar nicht - und befand sich damit in "bester Gesellschaft" der meisten Historiker (einige wissen es immer noch nicht :-) -, daß Constans alias "Friedrich II" das Ergebnis eines Seitensprungs seiner Mutter Constanze mit einem sizilianischen - arabischen, normannischen oder italienischen - Gigolo war, also kein Sohn Heinrichs VI und kein Enkel Barbarossas, Manfred folglich nicht Urenkel des letzteren sein konnte. Der letzte legitime "deutsche" (Dikigoros setzt die Anführungsstriche auch hier bewußt) Urenkel Barbarossas war vielmehr - über Barbarossas jüngeren Sohn, Heinrichs Bruder Philipp von Schwaben, und dessen Tochter (die halbe Byzantinerin) war - Ottokar II von Böhmen. Erst als dieser 1278, also zwölf Jahre nach Benevent, bei Dürnkrut gegen Rudolf von Habsburg Schlacht und Leben verlor (übrigens nicht als "Held" auf dem Schlachtfeld, sondern als feige Fliehender durch Verrat seiner eigenen Leute, die ihn ermordeten), war der letzte Staufer untergegangen; aber dieses Drama brachte nicht Wagner auf die Bühne, sondern Franz Grillparzer, schon 1825. Und obwohl jenseits der Alpen auch nach dem Sturz der Habsburger Grillparzer der populärste Dichter geblieben ist, die Schlacht von Dürnkrut die bekannteste des Mittelalters und "König Ottokars Glück und Ende" das meistgespielte deutsch-sprachige Theaterstück (selbst auf den Salzburger Festspielen, wo es gleich gar nichts verloren hat, wird es bis heute aufgeführt :-) sind diese historischen Zusammenhänge in einem Maße verdrängt worden wie sonst nur solche des 20. Jahrhunderts. Erst im Kampf gegen die schwäbischen Habichtsburger wurde nämlich Ottokar, der zuvor ein großer Freund der Deutschen gewesen war, zum Deutschen-Hasser und begann, den "Slawen" hervor zu kehren. Damit begann, lange vor Jan Hus, der verhängnisvolle Dualismus zwischen Deutschen und Tschechen im Herzen Mitteleuropas; wäre damals nicht der Graf von Habsburg, sondern König Ottokar Kaiser geworden, hätte er die Ströme deutscher Siedler weiter nach Böhmen und Mähren gelenkt statt ins Baltikum, und Prag und sein Umland wären nie eine Beute der verfluchten Tschechen geworden (aber das ist eine andere Geschichte). Das, nicht der alberne Kampf gegen die Welfen oder um Italien, war die eigentliche Tragödie der Staufer. Aber nicht nur die Deutschen in "Österreich" verdrängen das, sondern auch die Tschechen wollen von ihrem staufischen Erbteil nichts wissen - wollt Ihr da dem in Frankreich lebenden Sachsen Wagner sein Wissensdefizit zum Vorwurf machen? Exkurs Ende]

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[Lohengrin] [Hitler als Lohengrin, 'gefangen genommenes' deutsches Gemälde, im 
Besitz der U.S. Armee]
"Seh't da den Herzog von Brabant, - zum Führer* sei er euch ernannt"
*(seit 1945: "zum Schützer...")

Ja, liebe Leser, es hätte nicht viel gefehlt, und nach 1945 wären auch aus dem Lokomotiv-Führer, dem Fahrstuhl-Führer und womöglich sogar dem Reise-Führer der "Lokomotiv-Schützer", "Fahrstuhl-Schützer" und "Reise-Schützer" geworden (und aus der Theateraufführung eine "Theateraufschützung"?), so wie aus dem Flugzeug-(oder, im Amtsdeutsch, Luftfahrzeug-)Führer der "Pilot" wurde und aus dem Ent-führer der "Kidnapper", auch wenn er gar keine Kinder, pardon Kids, sondern Erwachsene entführte. [Und aus dem Besatzungsbonzen, der das böse Nazi-Bild, das Ihr oben rechts seht, nach 1945 ent-führt, pardon "gefangen genommen" (so ausweislich des Fotos die offizielle Lesart!) und in die USA über-führt hat, wo es bis heute "sicher gestellt" ist, wie 'zigtausende andere 1945 von den alliierten Besatzern geraubte deutsche Kunstwerke - u.a. einige Original-Wagner-Partituren -, der "Picnapper"?] Aber Spaß beiseite. Beim "Lohengrin" können endlich mal alle mitreden, auch die größten musikalischen Banausen, denn wer kennt ihn nicht, den Hochzeits-Chor, zumindest die berühmte Anfangs-Quart aus der 1. Szene des 3. Aktes: "Treulich geführt...". (Sie ist noch berühmter als die doppelte Quart [tatü, tata] aus dem Tannhäuser-Chor, und Wagner würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, daß ausgerechnet diese beiden noch ganz dem konventionellen Stil der Wiener Klassik verhafteten Stücke aus seinem Werk beim Publikum letztlich den größten Anklang gefunden haben. Gefreut hätte sich dagegen wahrscheinlich Ignaz Schnabel, aus dessen "Herr unser Gott" Wagner den Anfang des Hochzeits-Chors abgekupfert hat - er stellte nur die Stimmen etwas um, d.h. er machte den Tenor anstelle des Soprans zur Leitstimme :-) Aus unerfindlichen Gründen wird es noch heute auf fast allen deutschen Hochzeiten gedudelt (nur nicht auf der von Dikigoros - das haben er und seine Frau sich tunlichst verbeten, allerdings ebenso den jüdischen Ersatz, Mendelssohns Hochzeitsmarsch). Andere Passagen aus dem Lohengrin-Text wurden dagegen nach 1945 nicht nur verfälscht, sondern ganz verboten, z.B. jener schöne Zweizeiler aus der 3. Szene des 3. Aktes:

"Nach Deutschland sollen noch in fernen Tagen -
des Ostens Horden siegreich nimmer zieh'n!"

Auch die 40 vorauf gehenden Zeilen ab "O, Elsa! Was hast du mir angetan?" sind der Schere des politisch korrekten Zensors zum Opfer gefallen. (Selbst in dem zehn Jahre nach dem Untergang der Sowjet-Union unter dem Titel "Wagner-Mania" neu heraus gegebenen Mitschnitt der Aufführung des New Yorker Metropolitan Opera Orchestras von 1940 hat man sie unterschlagen.) Dabei hatte Wagner da sicher nicht an die Russen gedacht (geschweige denn an die Sowjets), auch wenn einige Knallköppe das heute noch behaupten. (So schreibt Michael von Soden, Herausgeber des "Lohengrin"-Bandes der Richard-Wagner-Reihe des Insel-Verlags, Wagner habe damit den bösen russischen Tsaren gemeint, der 1831 den Aufstand der polnischen Freiheitskämpfer nieder geworfen habe - da lachen ja die Hühner, pardon Schwäne!) Nein, da sollte man nicht zuviel hinein lesen. Das Stück spielt doch im 10. Jahrhundert, und damals kämpften die deutschen Herrscher - sowohl Heinrich der Vogler als auch sein Sohn Otto der Große - halt mit Erfolg gegen die aus dem Osten eingefallenen Ungarn. (Haltet Ihr es wirklich für einen Zufall, liebe Leser, daß der "Lohengrin" 1954, nach dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft gegen die Nachkommen eben jener Ungarn, bei den Bayreuther Festspielen neu inszeniert wurde? Es soll die beste Inszenierung aller Zeiten gewesen sein; die Aufnahme von 1954 ist bis heute Kult und wird noch immer - "remastered" und "digitalisiert" - auf CD angeboten, und zwar keineswegs zu Ramschpreisen, was immer Schlüsse auf die Beliebtheit zuläßt.) Und auch Wagner sollte man ganz wörtlich nehmen. Gewiß, die Uraufführung fand erst 1850 statt, und ein Jahr zuvor waren russische Truppen in die Donau-Theiss-Ebene einmarschiert - aber das taten sie auf ausdrückliche Bitten der Habsburger, um den Aufstand der Ungarn nieder zu werfen! Und überhaupt hatte Wagner den Text schon 1845 geschrieben, wobei man allenfalls fragen kann, warum dann und nicht schon 1842, als ihm der Stoff erstmals in die Hände fiel. (Wenn er mit "des Ostens Horden" wirklich die Russen gemeint hätte, dann gab es dafür doch schon 1830 einen Präzedenzfall, als die Truppen des Tsaren in Polen einmarschierten und den dortigen Aufstand - der sich gegen Rußland und Preußen gleichermaßen richtete - nieder warfen. Und manche Wagner-Kritiker behaupten tatsächlich, dies sei Wagners "Aufhänger" gewesen - die Antwort auf das letzte "warum nicht" bleiben sie freilich schuldig.) "Der" Stoff? Nun ja, das Märchen vom Schwanenritter. Aber das hatte Wagner offenbar nicht sonderlich beeindruckt - er begann lieber, den "Venusberg" zu schreiben, aus dem später der "Tannhäuser" wurde (aber auf den kommen wir gleich zurück). Erst im Sommer 1845, auf Kur in Marienbad, als Wagner eigentlich viel interessantere Stoffe mit hatte, aus denen später der Parsifal und Die Meistersinger werden sollten, kam ihm plötzlich die Idee, das Märchen vom Schwanenritter mit der Geschichte von König Heinrich dem Vogler und seinem - bzw. seiner Nachfolger - Kampf gegen die Ungarn zu verbinden. Warum?

Wenn es Euch noch nicht aufgefallen sein sollte, liebe Leser: Die mitteleuropäische Geschichte zwischen 1830 und 1848 ist ein Stiefkind der Fach-Historiker. Diese beiden Jahreszahlen stehen ihnen für zwei Revolutionen, von denen sie irrtümlich meinen - oder vorgeben zu meinen -, daß ihren Urheber so etwas ähnliches wie die heutigen Verhältnisse als Ziel vorgeschwebt hätte. Daß dem nicht so war, hat Dikigoros schon dargelegt. Aber im Sommer 1845 gärte es im Habsburger Reich, wo Wagner kurte; und die Haupt-Unruhestifter waren - die Ungarn, die Anhänger von Kossuth, Petöfi, Andrassy und wie sie alle hießen. Mit solchen Leuten hatte Wagner nichts am Hut, da endete die Solidarität der Revolutionäre - auch die der National-Revolutionäre: Wagner und seine Gesinnungs-Genossen wollten zwar, daß das deutsche Volk die Fesseln der Kleinstaaterei sprengte und die Duodez-Fürsten zum Teufel jagte; aber den Ungarn hätten sie ein gleiches Recht - nämlich das Abschütteln der Habsburger "Fremdherrschaft" - nicht zugestanden. Und umgekehrt wollten auch die Ungarn zwar selber unabhängig von den Österreichern sein; aber sie dachten nicht im Traum daran, das gleiche Recht auch den unter ihnen lebenden Deutschen (die sie "Sachsen" nannten, nicht nur in Siebenbürgen), Slowaken, Kroaten und Rumänen zu gewähren, geschweige denn den Juden oder etwa den Zigeunern. Und so meinte Wagner eben tatsächlich die Ungarn, und er knüpfte ganz bewußt an die Geschichte des 10. Jahrhunderts an, als die deutschen Könige sie aus Bayern hinaus und in die Donau-Theiss-Ebene zurück warfen. Dikigoros kann diesen Haß auf die Ungarn gut nachvollziehen; er war damals allgemein unter Deutsch-Österreichern verbreitet, und wie sich zeigen sollte zu Recht - aber das ist eine andere Geschichte. Spricht dagegen nicht, daß Wagner später die Tochter Liszts geheiratet hat? Ach was - er wird sie kaum als Ungarin empfunden haben, und sie selber wird sich nicht weniger deutsch gefühlt haben als Dikigoros' Großmutter, die ihren Töchtern kein Wort Ungarisch beibrachte.

Ist Wagners Lohengrin also ein "nationales" Werk? Ja, aber doch nur am Rande; und diesen Rand sollte man nicht überbewerten. Das "Heil Heinrich" mögen manche in den falschen Hals bekommen haben - nicht in den Schwanenhals -; aber noch bis ins 20. Jahrhundert war "Heil" ein ganz normaler Gruß der Deutschen, wie "Schalom" bei den Juden, "Salam" bei den Arabern oder "Jay" bei den Indern (die alle drei wörtlich "Sieg-heil" bedeuten, genauer gesagt den [Wunsch nach] Frieden nach einem siegreichen Kampf); erst nach 1945 wurde das Wort geächtet. Auch die Sache mit den nationalen Gedenktagen und Feiern ist doch halb so wild. Politiker haben es nun mal mit solchen Feiern, vor allem mit runden, wie den 1000-jährigen - und wenn sie an den Haaren herbei gezogen werden müssen. König Friedrich Wilhelm IV von Preußen ließ anno 1843 "1.000 Jahre Deutschland" feiern, weil 843 mit dem Vertrag von Verdun das einstige Reich Karls des Großen aufgeteilt worden war in ein "west-karolingisches" und ein "ost-karolingisches" Reich (in denen man mit sehr viel Fantasie die zumindest geografischen Ursprünge Frankreichs und Deutschlands sehen kann). Das galt - und gilt bis heute - als nicht ganz ernst zu nehmen, und wenn doch, dann jedenfalls recht harmlos. Dto, daß die Magyaren 1898 "1.000 Jahre Ungarn" feierten. Daß aber die bösen Nazis anno 1936 wieder "1.000 Jahre Deutschland" feierten - weil das Deutsche Reich für sie erst 936 mit Otto dem Großen richtig begann, das soll nun ein Zeichen besonderer Verwerflichkeit sein. Und daß bei der Gelegenheit bevorzugt der Lohengrin gespielt wurde (warum hieß denn Otto I "der Große"? Eben: weil er - nicht Heinrich der Vogler - die Ungarn so entscheidend schlug, daß sie nie wieder siegreich nach Deutschland zogen!), war der Gipfel, und das machen einige Wagner zum Vorwurf und haben es ihm bis heute nicht verziehen. Gewiß, liebe Leser, die 1.000-Jahr-Feier von 1936 war ebenso weit hergeholt wie die von 1843 - aber auch nicht weiter als die 750-Jahrfeier Berlins, die 2.000-Jahrfeier Bonns und noch so manche andere "runde" Jubiläen, die wir in den 1980er und 1990er Jahren über uns ergehen lassen mußten - aber waren das nicht alles ziemlich harmlose Mogeleien? Und was konnten die Komponisten dafür, deren Musik man bei den Gelegenheiten zum Besten gab? (Was konnte Beethoven dafür, daß die alten Römer achtzehneinhalb Jahrhunderte vor seinem Tode - angeblich - bei Bonn eine Brücke über den Rhein geschlagen hatten? Dennoch wurde seine Musik anläßlich der Jubelfeiern ausgiebig gespielt - und waren die Römer nicht 100 Jahre nach seinem Tode, unter Mussolini, Fascisten?) Soviel wie Wagner dafür, daß sein 50. Todestag auf das Jahr 1933 fiel, und daß 14 Tage zuvor einer seiner größten Bewunderer Reichskanzler geworden war.

Ebenso weit hergeholt dürfte es sein, den Lohengrin "klassenkämpferisch" zu deuten, wie das zeitweise in der "DDR" geschah. (Worüber sich Kabarettisten schon damals mokierten. Ältere Ossis erinnern sich vielleicht noch an die Frage: "Warum haben die Exquisit-Läden einen Schwan als Symbol?" [Wessis müssen zweimal hin schauen - es ist ein stark stilisierter Schwan.] Antwort: "Ganz einfach. Schwan erinnert an Lohengrin. Lohengrin erinnert an Wagner. Wagner erinnert an Tannhäuser. Und wie heißt es im Tannhäuser? Dich, teure Halle, grüß' ich wieder!" Die besser Betuchten fanden das witzig; den meisten anderen blieb das Lachen freilich im Halse stecken - und damit meint Dikigoros nicht den Schwanenhals.) Der Satz "Nie sollst du mich befragen" ist nicht zu verstehen als Ablehnung der Adelsgesellschaft, in der mehr nach der Herkunft eines Menschen gefragt wird als nach der Leistung, die er bringt. Eher ist das Gegenteil der Fall: Wäre Lohengrin nicht seinerseits von Adel, hätte er den Zweikampf gar nicht bestreiten dürfen! Das, liebe Leser, ist ohnehin das Leitmotiv aller Märchen bis in unsere Tage: Der strahlende Held (und sogar der glitschige Frosch :-) muß sich am Ende immer als ein verkappter Prinz entpuppen, sonst zählten alle seine Heldentaten nichts, und die Prinzessin würde ihn nicht mal dann heiraten, wenn er sie gerade vor dem bösen Drachen errettet hätte! Nein, die verbotene Frage nach der Herkunft hat Wagner aus der Vorlage übernommen, und die könnte einen ganz banalen Hintergrund haben - der Wagner aus seinem eigenen Privatleben freilich nur allzu vertraut erschienen sein dürfte: Loherangrin war der Sohn seines Vaters Parzivâl und der Enkel seines Großvaters Gahmuret (über den Dikigoros an anderer Stelle etwas mehr schreibt); und ihnen allen war gemeinsam, daß sie mit dem Heiraten ebenso schnell bei der Hand waren wie sie ihre Frauen wieder sitzen ließen - und wer erzählt da schon gerne, woher er kommt und wieviele Frauen er schon woanders hat? Vielleicht hatte Lohenangrin längst eine Ehefrau aus der Gralsfamilie? (Auf eine andere Möglichkeit kommt Dikigoros weiter unten zu sprechen.)

Ein anderes Motiv war schon in der mittelalterlichen Dichtung so gut wie untergegangen und diente im 19. Jahrhundert nur noch als Vorlage für Kitsch-Bildchen: das vom verzauberten Schwan. Gewiß, auch bei Wagner entpuppt sich das gute Tier am Ende als der nunmehr erlöste (eine Erlösung darf ja bei Wagner nie fehlen! :-) Gottfried; aber wenn er das nicht getan hätte, sondern mitsamt Lohengrin wieder verschwunden wäre, hätte das dem Stück auch keinen großen Abbruch getan. Was Wagner und seine Vorbilder da mehr oder weniger am Rande mit schleppten, ist ein Stück uralten indogermanischen Märchens - eines der ganz wenigen, die allen Völkern jener großen Familie gemeinsam sind: Die weiße Gans/der Schwan (daß sie ursprünglich nicht unterschieden wurden, zeigt sich noch heute in Indien, wo beide "Hans" heißen - wie der Vogel, auf dem die Göttin Saraswatī reitet) war fast allen Indogermanen heilig; ihr Erscheinen galt als heilbringendes Zeichen (so wie das Auftauchen der - schwarzen - Raben Unheil ankündete). Die Inder hat Dikigoros schon erwähnt. (Früher, als der Mittellauf des Ganges noch nicht völlig vergiftet war, gab es noch auf der Höhe von Warānsī wilde Schwäne - Dikigoros hat sie nicht mehr gesehen, aber Fotos, wie sie in langen Reihen an den Tempeln vorbei schwammen, andächtig verfolgt von den Blicken der badenden Menschen.) Die Griechen hatten das Märchen von Léda und dem Schwan, in den sich der Göttervater Zevs verwandelt hatte, um es mit ihr zu treiben - zwei Jahrtausende war dies eines der beliebtesten Sujets der [ab]bildenden Künste, genauer gesagt bis 1945; dann wurde es zwar nicht offiziell verboten, aber doch verpönt, denn die beste Darstellung (die Ihr unten ganz rechts seht) stammte von einem Deutsch-Italiener, der im Zweiten Weltkrieg auch "militaristische" Bilder gemalt hatte; deshalb durfte sie nicht mehr gezeigt werden - und andere Darstellungen, die etwa zu unvorteilhaften Vergleichen hätten heraus fordern können, möglichst auch nicht.

[Leda und der Schwan, antike Darstellung aus Sevilla] [Leda und der Schwan, Aldegrever] [Leda und der Schwan, Leonardo da Vinci] [Leda und der Schwan, Padua]

Die alten Römer hatten das Märchen von den capitolinischen Gänsen, die Germanen das von "Schwan kleb an" und der noch vor ein, zwei Generationen äußerst populären "Gänseliesel" - noch heute gibt es in fast jeder deutschen Stadt einen "Gänseliesel-Brunnen", denn auch die Quellen waren den alten Germanen heilig, und ohne Wasser keine Gänse oder Schwäne. [Ihr glaubt, "Liesel" sei doch nur die Kurzform des alten hebräischen Namens "Elizabeth"? Ihr irrt, dazu wurde er erst später; ursprünglich handelt es sich um eine zufällige Namensgleichheit oder -Ähnlichkeit - die, nebenbei bemerkt, so groß ja nun auch wieder nicht ist.] Die west- und ostslawischen Namensformen von Liesel, "Lybed" bzw. "Libussa", gelten als die Gründerinnen Kiews bzw. Prags, dabei sind sie nichts weiter als Personifizierungen von (weiblichen) Schwänen. Der "offizielle" Gründungs-Mythos Kiews erwähnt heute nur noch die drei Brüder Rurik, Sineus und Truwor; aber früher kannte man die allenfalls als Begleiter der Lybed, die noch auf dem alten Denkmal über dem Dnepr als Galionsfigur mit Schwanenflügeln dargestellt wird. Wenn Ihr mal den Film "Iwan der Schreckliche" von Sergej Eisenstein gesehen habt - welche Szene fandet Ihr da am eindrucksvollsten? Iwans Krönung? Seine Eroberung Kasans? Seine Rache an den verräterischen Bojaren? Ach was, wenn auch nur eine der genannten Szenen geeignet wäre, richtig Eindruck zu machen, dann hätte Euch Dikigoros jenen Film an anderer Stelle ausführlicher vorgestellt. Aber eine andere Szene ist es, wie aus einem alten Stummfilm, die in all ihrer künstlichen Pracht beinahe unheimlich ist, die man jedenfalls nicht so leicht vergißt: das Hochzeitsbankett, bei dem die Speisen auf riesigen Schüsseln in Schwanengestalt serviert werden - und im Gegensatz zu vielen anderen Filmszenen darf diese für sich in Anspruch nehmen, historisch genau zu sein. Aber wir brauchen gar nicht bis ins Mittelalter oder ins 16. Jahrhundert zurück zu gehen: Im alten Nischnij-Nowgorod fuhren noch bis zur Revolution von 1917 Taxi-Schlitten, deren Front ein stilisierter Schwanenhals und -kopf zierte; und den Finnen, die sich damals vom russischen Joch zu befreien begannen, galt die Schneegans noch 50 Jahre später quasi als nationales Heiligtum.

[Gänselieselbrunnen] [Denkmal auf die Gründer Kiews am Dnepr] [Gänsebrunnen in der Bonner Sürst] [Schneegänse auf einer finnischen Münze von 1967]

Heute, da Finnland und die Tschechei EU-Mitglieder geworden sind und auch die Ukraïne schon Beitrittsgelüste angemeldet hat, stehen der Schwan und die arme, nackte Gänseliesel nur noch im Schatten der hochnäsigen Europa auf ihrem protzigen Stier. Aber Hochmut kommt vor dem Fall; und warten wir mal ab, was nach der Götzen-Dämmerung - pardon, da ist Dikigoros ein Wort aus dem Kapitel über Nietzsche in die Gänsefeder, pardon, in die Tastatur gerutscht -, nach der Götter-Dämmerung der Brüsseler Eurokratie kommt...

[Europa auf dem Stier, der Schwan und die Gänseliesel] [Janneke Piss in Brüssel]
Moderne Sinnbilder der EU: Die Schlampe in der Mitte stehtsitzt vor dem "Europa-Parlament" in Straßburg, wo sie genau wie dieses in die falsche Richtung reitet;
die Schlampe rechts hockt in der anderen "EU-Hauptstadt" Brüssel, wo sie - aus Gründen der Gleichberechtigung - dem "Männeken Piss" Konkurrenz machen soll.

[Euro-Dämmerung]
Noch thront die Europa dick und fett auf dem Stier; aber schon drohen sie gemeinsam abzusaufen; und am Ende vom Lied steht die Euro-Dämmerung.

Ach, liebe Leser, Ihr glaubt, viele der Völker, die Dikigoros da genannt hat, zählten doch gar nicht zu den "Indogermanen"? Wie kommt Ihr denn darauf? Natürlich zählen dazu nicht nur die Germanen und die Inder, sondern auch die so genannten "Romanen" und "Slawen" (zwei ganz abstruse Bezeichnungen, die sich die Sprachwissenschaftler ausgedacht haben, und die mit "Rasse" im Sinne von biologischer Wurzel eigentlich gar nichts zu tun haben, sondern allenfalls mit einer gemeinsamen Kultur), und sogar in Griechenland und der Türkei findet man noch Reste dieser alten Tradition. Was, das glaubt Ihr auch nicht? Und doch ist es wahr: Dikigoros und seine Frau haben ihre Hochzeitsreise nach Anatolien gemacht und dort auch an Hochzeiten der Einheimischen teil genommen. Die Brautleute und ihre Gäste erhalten dort als Glücksbringer je einen Schwan ("Kuğu") aus weißem Porzellan - zwei jener Exemplare stehen heute noch in der Glasvitrine ihres Wohnzimmerschrankes. (Das mag nur ein Überbleibsel aus vor-türkischen Zeiten sein; aber umso erfreulicher, daß sich dieser schöne alte Brauch erhalten hat - wer weiß, wann er der zunehmenden Islamisierung der Türkei zum Opfer fallen wird.) Nur ein Land zwischen Etsch und Belt, zwischen Maas und Brahmaputra, kennt keine heiligen Schwäne oder Gänse mehr: Frankreich. [Vielleicht drückt sich darin ein keltisches Erbe aus? Schon in der Artus-Sage ist Königin Guinevere/Genevieve die Böse, die ihren Ehemann betrügt. (Am ursprünglichen Namen "Gwenhwyfar" erkennt man noch unschwer die Personifizierung des Schwans. Inzwischen ist die Verballhornung weiter gegangen: Die gängige Form ist wohl "Jennifer", aber kürzlich las Dikigoros sogar "Yenifer" - da kann der Etymologe nun beim besten Willen nicht mehr an Schwäne denken, sondern allenfalls noch an eine neu-deutsche, pardon neu-kölsche - auf die dortige türkische Bevölkerungs-Mehrheit zurückgehende? - Bezeichnung für "Alteisen" :-) Die "Oies sauvages" galten als Todesboten, wie die "Wild Geese" der Iren und die - östlich des Brahmaputra verehrten - weißen Kraniche der Japaner, in denen die Seelen der verstorbenen Krieger heim kehren, also das Gegenteil von der neues Leben verheißenden Hochzeit symbolisieren; in jenen Kulturen war bzw. ist Weiß dementsprechend die Farbe der Trauer. Wobei Dikigoros nicht vergessen will zu erwähnen, daß die Schwäne auch den Ainu - den Ureinwohnern Japans - heilig waren; heute ist nur noch die Frage, wer eher ausgerottet sein wird: die weißen Menschen oder die weißen Tiere; von beiden sind nur noch ein paar tausend übrig, im unwirtlichen Hokkaidō.] Bei den Franzosen ist Wagner denn auch bis heute verhaßt wie sonst nur in Israel; bei der Uraufführung 1891 machte der Lohengrin - obwohl sein Verfasser seit acht Jahren tot war - einen Riesen-Skandal; die Karikaturisten zogen einen Kampf zwischen dem "germanischen" Schwan und dem gallischen Hahn an den Haaren, pardon an den Federn herbei; und später versuchte man gar - auch von deutscher Seite -, in die ganze Geschichte einen Gegensatz zwischen "welsch" und "germanisch" hinein zu lesen. Wie lächerlich: Zur Zeit Caesars war den Galliern die Gans noch heilig, ebenso zur Zeit des Heiligen Martin (der ein Franke war - wenngleich sich die Tradition des "Martinsgans"-Essens in seiner Heimat nicht erhalten hat); und Lohengrin selber war doch der Sage nach ein "Welscher", nämlich ein Sohn Parsifals; und das schlimmste Sakrileg, das der letztere zu seiner Zeit begehen konnte - und das Wagner ihn auch gleich bei seinem ersten Auftritt begehen läßt - war es, einen Schwan zu töten! Erst die modernen Franzosen haben die weiße Gans durch den bunten Hahn ersetzt (so wie die Amerikaner sie durch den Truthahn ersetzt haben - aber das ist eine andere Geschichte), und "la mort du cygne [der sterbende Schwan]" ist bei ihnen zu einem bloßen Schlagwort - und Schlagertitel - verkommen.

[Martinsgans] [Parsifal vor erlegtem Schwan]

A propos schlagen und sterben: Die entscheidende Szene des Märchens vom Schwanenritter ist der Zweikampf, dessen Ausgang als "Gottesurteil" verstanden wurde. Es war die Illusion vom gerechten Urteil im Gegensatz zur zweifelhaften Gerechtigkeit bestechlicher irdischer Richter. Der Volksmund hat daraus inzwischen den bösen Satz vom "Recht des Stärkeren" gemacht, und daß Gott immer mit den stärkeren Bataillonen ist - aber das hätte der mittelalterliche Mensch noch ganz ohne Cynismus unterschrieben (so er denn des Lesens und des Schreibens kundig war :-). Dahinter steckte ursprünglich wohl keine religiöse, sondern eine ganz banale, weltliche Erkenntnis: Es macht keinen Sinn, viele Menschen um vermeintliches Recht oder Unrecht kämpfen und womöglich sterben zu lassen, deshalb versuchte man auch gar nicht erst, umständlich irgendwelche Tatbestände zu ermitteln und daraus irgendeine "Rechtslage" abzuleiten, sondern man ließ vielmehr schwertfähige Männer beider Parteien als so genannte "Eideshelfer" zu - und dann wurde abgezählt: Wer mehr Leute auf seiner Seite hatte, die bereit waren, für sein "Recht" zu kämpfen und dies (sonst nichts!) beschworen, der obsiegte; und wenn eine Seite die Waffenfähigkeit der anderen anzweifelte, dann ließ man von beiden Parteien den jeweils stärksten Mann antreten, um die Sache auszufechten. Ihr meint, liebe Psychologen, das sei eigentlich gar keine schlechte Idee, denn derjenige, der im Recht war, hätte doch den psychologischen Vorteil des "guten Gewissens", der ihm bei im übrigen gleicher Stärke der Kontrahenten den entscheidenden Vorteil verschaffen und so tatsächlich zum Sieg des "Rechts" führen mußte? Dann laßt Euch von einem alten, erfahrenen Anwalt versichern, daß Ihr irrt: Vor Gericht glaubt jeder im "Recht" zu sein - sonst würde er es doch nicht auf einen Prozeß ankommen lassen! -, und daraus leitet er auch das "Recht" ab, ohne jegliche "Gewissensbisse" zu lügen - selbst wenn er im Recht ist, denn dann hofft er, noch etwas mehr als sein Recht aus der Sache heraus zu schlagen. Und auf dem Sportplatz - den man vielleicht noch besser vergleichen kann - gilt das noch mehr: Wenn ein Athlet weiß, daß er gut gedopt ist, also eigentlich etwas Unrechtes getan hat, hat er nicht etwa Gewissensbisse, sondern ganz im Gegenteil das Gefühl, seinen vielleicht nicht ganz so gut gedopten Kollegen überlegen zu sein, und dieses Überlegenheits-Gefühl allein ist es, das einen etwaigen "psychologischen Vorteil" im Wettkampf ausmacht - alles andere könnt Ihr, auch beim mittelalterlichen Zweikampf, getrost vergessen. Beim letzteren waren dem Zufall Tür und Tor geöffnet; aber wie schrieb Nietzsche: "Kein Sieger glaubt an den Zufall." Braucht er auch nicht, ebenso wenig wie an die "Hand Gottes". (Fällt Euch, liebe Fußball-fans dazu etwas anderes ein? Soll es auch - glaubt Ihr, Diego Maradona hätte dabei ein schlechtes Gewissen gehabt? Im Gegenteil!) Hauptsache das tumpe Publikum fällt darauf herein; und im Mittelalter glaubten brave Christenmenschen halt allgemein an "Gottesurteile". Und dadurch wurden nicht etwa nur irgendwelche Lappalien vor den Zivilgerichten entschieden, sondern daran hingen bisweilen ganze Reiche, nicht bloß Herzogtümer, wie im Lohengrin. Ein Beispiel gefällig? Bitte sehr: Im 11. Jahrhundert hatte Papst Gregor VII den Kaiser Heinrich IV (ja, den von Canossa) erneut gebannt und Rudolf, den Herzog von Schwaben, als Gegenkönig anerkannt. Der letztere kam auch ganz gut voran, bis er in der Schlacht die Rechte - die Schwurhand - einbüßte. Nein, daran starb er noch nicht (er starb später an einem Bauchschuß, pardon, einem Bauchstich), aber alles munkelte: "Gottesurteil". Und als er dann wirklich tot war, gab kein gläubiger Christ mehr etwas auf einen Bannspruch jenes Papstes: Heinrich blieb Kaiser und König, und das Herzogtum Schwaben übertrug er - den Staufern. So, liebe Leser, machten "Gottesurteile" Weltgeschichte.

Gewiß, das alles ist passé. Wer heute im Kampf die Hand verlöre (aber welcher Herrscher kämpft seine Kriege schon noch persönlich mit?), würde nicht als meineidiger Verräter geächtet, sondern als "Martyrer" in die Geschichts- und Märchen-Bücher eingehen. (Was meint Ihr, wie hell Helmut Kohls Heiligenschein erstrahlen würde, wenn er bei der Tsunami-Katastrofe vom 2. Weihnachtstag 2004 auf Ceylon umgekommen wäre! Aber Fett schwimmt oben, Hubschrauber fliegen hoch, und Unkraut vergeht nicht. Doch dazu gleich mehr, unter Tristan und Isolde.) Können wir den Lohengrin also abhaken? Vielleicht. Aber manchmal ist es ja so, daß alte Stoffe - von ihren damaligen Bearbeitern ungewollt, ja ungeahnt - für uns eine überraschende Aktualität erhalten, die es wert ist, sie noch einmal neu zu überdenken. (Wir werden darauf im Kapitel über Dürrenmatt noch ausführlich zurück kommen; hier mag diese kurze Feststellung genügen.) Und da sollten wir uns - trotz des kürzlichen Beitritts Ungarns zur EU - doch weniger auf die Magyaren konzentrieren als vielmehr auf - die Belgier und ihren Sprachenstreit. Brabant mit der alten Hauptstadt Löwen und der neuen Hauptstadt Brüssel ist das Herzstück des flämischen Teils von Belgien, gelegen zwischen dem eigentlichen Flandern im Westen und dem Herzogtum Limburg im Osten. Letzteres wurde 1839 im Londoner Protokoll ohne Not (wie auch Luxemburg), nachdem es fast 1.000 Jahr lang zum Reich gehört hatten, an Belgien abgetreten (seitdem war die Maas nicht mehr Deutschlands Grenze). Warum erwähnt Dikigoros das hier? Nun, weil er einen Übergang sucht zu einem Kollegen Wagners, dem er sonst einen eigenen Exkurs im Rahmen der "Bretter, die die Welt [be]deuten" hätte widmen müssen, dessen massive Geschichtsfälschung auf der Bühne reale Geschichte "gemacht" hat. Wie fangen wir an? Vielleicht mit der Aufklärung einiger Mißverständnisse: So wie Wagner nicht der Lieblingskomponist Hitlers war (mit Wagner verband ihn in erster Linie die persönliche Freundschaft zu dessen Schwiegertochter Winifred), so war Wagners Lieblingskomponist weder Mozart noch Beethoven (noch Bach, wie manche glauben), sondern - Daniel François Auber, ein Franzose aus Caen, der schönen alten Hauptstadt der Normandie (und des Calvados :-) seit den Zeiten von Wilhelm dem Eroberer, die im Sommer 1944 von den angelsächsischen Invasoren dem Erdboden gleich gemacht wurde (sicher eingedenk der Untaten jenes Wilhelm 880 Jahre zuvor - schließlich hatte Hitler versucht, es ihm nachzutun :-). Jener Auber hatte anno 1828 - nach dem Vorbild von Reinhard Keiser, der 1705 eine Oper mit dem Titel "Masaniello furioso" geschrieben hatte - zusammen mit Eugène Scribe eine Oper verfaßt, die er "La muette de Portici [die Stumme von Portici]" nannte. Es war die - völlig verfälschte - Geschichte des Fischeraufstandes von Neapel 1646/47 unter Führung des Tommaso Aniello, der ganz ähnlich endete wie der des Cola di Rienzo drei Jahrhunderte zuvor. Dagegen hinken die Parallelen, die man ausweislich der unten abgebildeten Medaille (es handelt sich um Vorder- und Rückseite desselben Stücks - übrigens eine Rarität allerersten Ranges) zu Aniellos Zeitgenossen Wallenstein und Cromwell zu ziehen versucht hat; beide hatten ganz andere Voraussetzungen, Ziele und - Erfolge. Die einzigen Parallelen zwischen den beiden "Republikanern" Masaniello und Cromwell bestanden darin, daß sie sich zwar beide schlimmer gerierten als die Könige, die sie unter dem Vorwand der "Volksbefreiung" beseitigt hatten, es aber entgegen anders lautenden Gerüchten de iure nicht waren (Cromwell nannte sich "Lord Protector", Masaniello "Capitan General"), und daß die "befreiten" Völker heilfroh waren, als sie nachher wieder eine Monarchie bekamen.

[Cromwell als König von England] [Masaniello als König von Neapel]

Aber was ging das alles Wagner an? Nun, Ihr dürft es nicht wie die Wagner-Forscher machen und alles, was er selber im Rückblick geschrieben hat, für der Weisheit letzten Schluß halten. Gewiß, das ist bequem, und die Fülle des Materials ist so groß, daß man schon so kaum durch kommt. So gilt es denn als ausgemacht, daß Wagner anno 1830 mit dem Lohengrin-Stoff bekannt wurde, indem er "Beckers Weltgeschichte", Grimms "Deutsche Sagen" und San Martes Übersetzung von Wolframs "Parcivâl" las, auf die er zufällig gestoßen sei. Mag ja sein - aber was besagt das schon? Bücher gibt es viele; und wenn Dikigoros jedes Buch lesen wollte, auf daß er "zufällig gestoßen" ist, hätte er viel zu tun. Warum las Wagner diese Bücher, und warum verknüpfte er ihren Inhalt ganz gezielt zu einer Oper? Gab es vielleicht 1830 irgend einen Aufhänger? Und ob es den gab: Da wurde nämlich in Brüssel die besagte Oper von Auber aufgeführt. Und was geschah? Als die Leute das Lied "Amour sacré de la patrie [Heilige Liebe zum Vaterland]" hörten, fühlten sie sich angesprochen, rasteten aus, stürmten auf die Straße und machten Revolution - die ganz anders endete als die Unternehmungen von Rienzo und Masaniello: An ihrem Ende stand das Ende der "Vereinigten Niederlande", jenes künstlichen Staates, der 1815 auf dem Wiener Kongreß gegründet worden war und das Territorium der heutigen "BeNeLux"-Staaten umfaßte (mit Ausnahme der damals noch zum Deutschen Bund gehörenden Gebiete, die wie gesagt erst 1839 dazu kamen). Kaum zu glauben? Und doch war es so, und das lag daran, daß Auber die Geschichte völlig auf den Kopf gestellt hatte: Der historische Tommaso Aniello hatte im Grunde genommen eine Steuerrevolte angeführt - daß die Revoltierenden Italiener und die Herrschenden Spanier waren, dürfte keine große Rolle gespielt haben, schon gar nicht der sprachliche Unterschied, denn das Napolitanische ist vom Katalanischen nicht allzu weit entfernt (jedenfalls nicht weiter als etwa Friesisch von Sächsisch). Auber hat die arme, stumme Fischerstochter des Titels einfach hinzu erfunden - und die Brüsseler nahmen das wörtlich: Sie fühlten sich durch den kürzlich ergangenen Sprachen-Erlaß aus Den Haag kraß benachteiligt - nein, nicht die Wallonen, die lieber Französisch gesprochen hätten, sondern die Flamen! Denn ihrer Meinung nach kam der Versuch der Holländer, ihren Dialekt (der sich vom Flämischen etwa so stark unterscheidet wie Kölsch von Bönnsch oder wie Bayrisch von Wienerisch - also praktisch gar nicht :-) als Schriftsprache einzuführen, einer Vergewaltigung gleich, die sie zu "Stummen" machte wie die Fischerstochter in der Oper. Dieser idiotische Streit - nicht der Streit zwischen Flamen und Wallonen (die sich damals noch gegen die Holländer einig waren) oder der zwischen Protestanten und Katholiken - lag der Gründung des Staates "Belgien" zugrunde; und wenn schon die "Vereinigten Niederlande" ein Monstrum waren, dann war es "Belgien" erst recht. Es ist schon merkwaardig, liebe Leser (dieses - flämische - Wort bedeutet "merk-würdig" nicht im Sinne von "komisch", sondern von "bemerkenswert"), daß die Summe mehrerer Völker oder Stämme, und erst recht das Produkt ihrer Kreuzung oft nicht ein Mehr ergibt, sondern ein Weniger: Die Flamen waren einer der tüchtigsten germanischen Stämme, die Wallonen einer der tüchtigsten frankofonen, und die Moselfranken im Osten waren auch nicht die schlechtesten Deutschen. Dennoch sind die Belgier (Flamen + Wallonen + Deutsche oder Flamen x Wallonen x Deutsche, wie Ihr wollt) als Summe - oder Produkt - ein durch und durch minderwertiges Volk geworden, und ihr Staat zum korruptesten und existenzunwertesten in der ganzen westlichen Welt. Wie konnte das geschehen? Dikigoros weiß es nicht, er weiß nur, daß das eines von vielen anschaulichen Beispielen ist, die als Argument gegen "Multikulti" sprechen, sogar ein besonders eindringliches, da jene Stämme aus der selben Rasse entsprungen sind. (Oder, wie man heute sagt: ethnisch nah verwandt sind. Dikigoros zieht indes gerade in Fällen wie diesem das Wort "Rasse" vor, das "Wurzel" bedeutet, weil es so schön ins Bild paßt, wie ein Gleichnis.) Wer Augen hat sehe, wer Ohren hat höre, und wer ein funktionierendes Gehirn zwischen den letzteren hat, der denke mal darüber nach, auch und besonders unter dem Aspekt, was in Brüssel gerade für ein "europäischer Superstaat" zusammen geschustert wird. (Aber auf die Schuster - oder zumindest auf einen, der nicht bei seinen Leisten blieb - kommen wir noch zurück.)

Wie dem auch sei, das Entstehen des Staates "Belgien" infolge einer Revolution muß für den damals noch ganz "revolutionär" eingestellten Richard Wagner Anlaß genug gewesen zu sein, sich die vorgenannten Bücher zu besorgen und mit der Geschichte Brabants zu beschäftigen. Was er daraus gemacht hat, haben wir gesehen - vergessen wir's. Aber fragen wir ruhig, was Historisches hinter der Hauptquelle, dem letzten Kapitel von Wolframs Parcevâl, gesteckt haben mag, denn wir haben ja immer noch keine befriedigende Antwort auf die Frage, warum Elsa Lohengrin nie nach seiner Herkunft befragen sollte. Folgen wir erneut Werner Greub (erneut? aber ja - oder habt Ihr etwa Dikigoros' Seite über das Nibelungenlied noch nicht gelesen? Dann solltet Ihr das alsbald nachholen - Ihr erfahrt da sicher mehr und fundierteres über jene Sage als etwa aus Wagners Ring :-) und nehmen Wolframs - leider nur sehr kurze - Ausführungen ernst. Wie war das: Sein Parcivâl hatte sich - anders als Wagners Parsifal - nicht mit der Eroberung von Klinschors Burg aufgehalten (wozu auch - das übernahm ja Gawan), sondern statt dessen Pelrapeire erobert, pardon befreit, das heute "Montpellier" heißt und von Belacanes Erben erobert worden ist - vorerst nur seine SchlachtfelderFußballfelder, aber der Rest wird folgen. Dort hat er Kondwiramur geheiratet, die er dann genauso sitzen ließ wie einst sein Vater Gahmuret sein "swarzes wîp" Belacane. Von ihr hatte er Zwillinge bekommen - Kardeiz und Loherangrin -, und als er die Gralsburg wieder gefunden hat, holt er sie nach. Wer blieb unterdessen in Pelrapeire zurück? Eine namenlose alte Jungfer, die partout nicht heiraten wollte. Da Wolframs Gralsgesellschaft aber ein Familien-Unternehmen war, und weil nicht sein kann was nicht sein darf, schickten sie Loherangrin los, als der alt genug war, um sie zu ehelichen; deshalb fuhr er mit einem Nachen, den als Galionsfigur ein Schwan zierte (wir erinnern uns: das Zeichen der Hochzeit!) die Rhône hinunter und weiter nach Montpellier, wo er die mutmaßliche Markgräfin von Gothien (das damals noch "Brubant" hieß; Wagner hat, wie so viele vor ihm, Gustaf mit Gasthof verwechselt, als er das für "Brabant" nahm; heute streitet man sich, ob man es besser "Languedoc-Roussillon oder "Septimanien" nennen soll - der Namen sind also viele :-) heiratete und Kinder mit ihr hatte. Warum sollte die ihn aber nie nach seiner Herkunft fragen? Nun, entweder war das eine jüngere Schwester von Kondwiramur - dann wäre sie Lohenangrins Tante gewesen - oder aber... Kondwiramurs Tochter aus einer anderen Verbindung als mit Parcivâl - mithin Loherangrins Halbschwester. So - und nur so - bekommt alles einen Sinn, auch und gerade die Heimlichtuerei um seine Herkunft, denn beides wären nach damaligem Verständnis inzestuöse Beziehungen gewesen.

[Das Familienunternehmen der Gralshüter]

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