Die stigmatisierte Seherin Anna Katharina Emmerick

II. Frömmigkeitsstreben

1. Gebet

Was wir über das Gebetsleben der Anna Katharina Emmerick wissen, geht, wie in anderen Fragen auch, in erster Linie auf ihr eigenes Zeugnis zurück. Sie „erinnerte sich, daß sie schon als Kind von drei Jahren einen besonderen Antrieb zu Gott und zu seinem Dienste gezeigt“ habe 8. Von frühester Jugend an soll sie viel und unter großen persönlichen Opfern gebetet haben. „Waren die Eltern schlafen gegangen, so erhob sie sich aus ihrem Bette und betete oft zwei bis drei Stunden lang, manchmal bis zur Morgendämmerung. Sie liebte es, dieses unter freiem Himmel zu tun; darum ging sie nach einem etwas höher liegenden Feld, indem sie dort Gott näher zu sein glaubte als in der Niederung, und betete, nach den Kirchen von Coesfeld schauend, mit ausgespannten Armen“ 9.

Anna Katharina erzählt aus ihrer Kindheit, wie sie, „als sie noch sehr jung gewesen sei“, zusammen mit ihrem um sechs Jahre älteren Bruder Bernhard im selben Zimmer geschlafen habe. Es sei bei dieser Gelegenheit gewesen, daß sie „abends, jeder vor seinem Bette kniend, mit ausgestreckten Armen“ beteten. Dieses Gebet habe „wohl drei bis vier Stunden“ gedauert, „oft bis zwei Uhr in der Nacht“. Einmal sollen die Eltern ihren Sohn Bernhard „mit ausgestreckten Armen auf den Knien, ganz starr gefroren“ aufgefunden haben. Sie hätten dann versucht, ihn „wieder aufzutauen“ 10. - Da hat Anna Katharina doch offensichtlich allzu dick aufgetragen. Ihr Bruder Bernhard war sicherlich nicht kniend mit ausgestreckten Armen ganz starr gefroren, so daß man ihn erst wieder auftauen mußte. Außerdem kommen Kinder mit so kurzem Schlaf, wie es dargestellt wird, nicht aus; wie unglaubwürdig die Angabe ist, daß beide Geschwister bis zu vier Stunden „mit ausgestreckten Armen“ gebetet hätten, kann leicht durch einen Versuch nachgeprüft werden. Es ist offenkundig, daß es sich bei derartigen „Erinnerungen an die Jugendzeit“ lediglich um Phantasiegeschichten handeln kann.

Ebenso liegen bloß Phantastereien einer Kranken vor, wenn Anna Katharina behauptet, ihre Mutter habe in den Fastnachtstagen von ihren Kindern verlangt, „täglich vier Vaterunser mit ausgestreckten Armen auf dem Angesicht liegend zu Gott zu beten für die Unschuld, die an diesen Tagen verführt wird“ 11. Was Anna Katharina über ihr Gebetsleben in frühester Kindheit erzählt, kann nur, wenigstens soweit es die erwähnten Übertreibungen betrifft, Dichtung späterer Zeit sein. Das gilt ohne Zweifel auch für ein Gebet, das sie bereits „als Kind von drei Jahren oft gebetet“ haben will: „Ach, lieber Herrgott, laß mich doch sterben! Denn wenn man groß wird, beleidigt man dich mit großen Sünden!“ „Öfters“ soll sie sich in dieser Zeit gedacht haben: „Ach, möchte ich doch gleich tot vor der Türe niederfallen, damit ich Gott nie beleidigte!“ 12.

Einmal berichtet Anna Katharina über ihre Gebetsgewohnheiten: „Sowohl im Kloster als auch in meinem früheren Leben habe ich nur selten für mich selbst gebetet. Anhaltend betete ich für die Kirche, für fremde Not, für die Sünder, für die Armen Seelen, im Kloster für meine Mitschwestern. Außer meinen schuldigen Gebeten betete ich nur selten mündliche Gebete, aber sehr oft gebrauchte ich kleine Schußgebete. Meine stete Gebetsweise war immer, mit Gott wie ein Kind zu seinem Vater zu sprechen, und schier immer erhielt ich, worum ich insbesondere betete. Oft empfand ich im Gebet große Süßigkeit, oft auch große Bitterkeit, wenn ich meinem Geist nicht recht erheben konnte. Aber doch kehrte die Gebetsfreude bald wieder zurück. Mein vertrautes Sprechen mit Gott war ununterbrochen. Tag und Nacht, während allen anderen Beschäftigungen, selbst unter dem Essen, unterhielt ich mich mit Gott“ 13. Das Eigenlob wirkt nicht recht überzeugend.

Beim Gebet pflegte Anna Katharina, wenn es möglich war, laut zu sprechen. Das tat sie bereits, wie sie selber versichert, in ihrer Jugendzeit; die Gewohnheit behielt sie dann auch als Klosterfrau bei. Sie sagt darüber: „Oft redete ich nachts in meiner Zelle, wenn mich irgendeine Freude oder Trauer hinriß, ganz laut, vertraut, ja dreist mit Gott.“ Von den Mitschwestern will sie deswegen wiederholt angefeindet worden sein 14. Wie sie selbst versicherte, stießen sie sich an ihrer „großen Keckheit und Vermessenheit mit Gott“ 15. Verständlich wäre noch, daß Anna Katharina, wenn sie alleine war, halblaut gebetet hat. Aber was soll man von ihrer Art zu beten halten, wenn sie selber wußte, daß dadurch andere Menschen gestört wurden? Warum hat sie ihre Gewohnheit nicht aufgegeben, nachdem sie deshalb wiederholt von ihren Mitschwestern beredet worden war? Jeder Mensch, nicht bloß ein Heiliger, ist doch verpflichtet, auf seine Mitmenschen Rücksicht zu nehmen, zumal dann, wenn das Verhalten eine Verletzung der Nächstenliebe bedeutet; denn die Mitschwestern hatten mit ihrer Beschwerde vollkommen recht. Man muß auch fragen: Warum betete Katharina Emmerick mit lauter Stimme? War es innerliches Herzbedürfnis oder geschah es bloß im Hinblick auf das Publikum, ihre Mitschwestern? Übrigens stehen wir hier vor einer Gepflogenheit der Stigmatisierten von Dülmen, die auch P. Pio von Pietrelcina nicht fremd war und die Therese von Konnersreuth unter anderem getreulich nachgeahmt hat. Was Mitte Juni 1802 Anna Katharina Emmerick ihrem Berichterstatter Clemens Brentano erzählt hat, könnte dem Inhalt nach auch von Therese Neumann stammen; sie bekennt: „Als Kind und auch später habe ich oft in großer Vertraulichkeit mit Gott gezankt, daß er dieses oder jenes so gemacht“ 16. Das „vertraute, ja dreiste Sprechen mit Gott“ führte sogar zu einem buchstäblichen Beschimpfen. Zuweilen geschah es, daß Anna Katharina sich so sehr über die Sündhaftigkeit der Menschen empörte, daß sie „lebhaft mit Gott zankte, warum er nicht alle großen Sünder bekehre und die unbekehrten in der anderen Welt ewig strafe“. Sie erzählt: „Ich sagte zu Gott, ich wisse nicht, wie er doch so sein könne. Dieses wäre ja seiner Natur zuwider. ... Er solle sich doch an sein eigenes Wort in der Heiligen Schrift erinnern, was er dort von seiner Güte und Barmherzigkeit gesagt, welche großen Verheißungen er da getan habe. Wenn er sein eigenes Wort nicht selbst halte, wie er dann verlange, daß die Menschen es tun sollten“ 17. Wir stehen hier vor einer ganz eigenartigen Form zu beten. Auch an dieser Stelle sei an Therese Neumann erinnert. Sie benahm sich ebenfalls „mitunter dem Heiland gegenüber wie ein verwöhntes Kind; sie schreckte nicht einmal davor zurück, ihm kindliche Vorwürfe zu machen“ 18.

Wie weit die Angaben Katharina Emmericks objektiv zutreffen, läßt sich nicht nachweisen. Wenn wir aber deren Richtigkeit voraussetzen, dann müßte man ihr Gebet so charakterisieren: Es fehlt ihm das Kennzeichen der Demut, sowohl in seiner angeblich „vertrauten“ wie auch in seiner Gott anklagenden Art; in seiner sprachlichen Form zeigt es Ausdrucksweisen eines Kindes, ohne daß es kindlich zu nennen wäre; Anna Katharinas lautstarkes und publikumwirksames Gebet ist ein Kennzeichen ihrer ausgeprägten Ichbezogenheit.

2. Eucharistie

Die Anregung, oftmals, ja täglich zur Kommunion zu gehen, geht auf den Papst Pius X. zurück. Zur Zeit, als Anna Katharina Emmerick lebte, kommunizierten auch die Klosterinsassen nur jeweils am Sonntag. In der Zeit vor ihrem Eintritt ins Kloster kommunizierte sie gewöhnlich an allen Sonn- und Feiertagen, „im Kloster außerdem auch einmal unter der Woche - in der Fastenzeit freitags, außer derselben donnerstags“ 19. Als sie nach der Aufhebung ihres Klosters auf ihre Mitschwestern nicht mehr Rücksicht zu nehmen brauchte, „nahm sie mehrere Male in der Woche das heilige Abendmahl, ja es scheint der Empfang beinahe ein ein täglicher gewesen zu sein“. Damit war allerdings der zuständige Dechant Richard Rensing nicht einverstanden. Am 22. August 1819 verfügte der Münsterer Generalvikar, „daß ihr die hl. Kommunion nie mehr ohne seine persönliche Erlaubnis heimlich gereicht werde, öffentlich aber nur an Sonn- und Feiertagen und an den Tagen ihres Ordenspatrons“ 20.

Ihre Sehnsucht nach dem Empfang der Hl. Hostie beschreibt Anna Katharina folgendnermaßen: „Mein Inneres wurde voll empfindlicher Freude bei dem hl. Sakrament, und ich bekam ein so heftiges, brennendes Verlangen nach der hl. Kommunion, daß ich die gewöhnliche Zeit der Ausspendung nicht mehr erwarten konnte und vor Sehnsucht oft häufig ohnmächtig niedersank. Mein Beichtvater hatte den Priester des Klosters gebeten, mir die hl. Kommunion früher zu reichen als meine Mitschwestern zur Kirche kamen, damit mein öfteres Kommunizieren verborgen bleibe und alles Gerede darüber vermieden werde. Der fromme Greis hat unzählige Mal seinen Schlaf in der kalten Winternacht unterbrochen, um mir bei anbrechendem Tag das Brot des Lebens zu reichen, ohne das ich nicht mehr leben konnte. Wenn ich zur Kirche ging, pochte ich an seiner Tür, um ihn zu erwecken. Meine Sehnsucht nach dem heiligen Sakrament ward aber so heftig, daß ich oft wie vor Hunger verschmachtend die Zeit nicht erwarten konnte und viel zu frühe, in einem bewußtlosen Zustand hingerissen, an der Türe des Priesters pocht und zur Kirche eilte. Einmal war ich von solcher Begierde nach Jesu überwältigt, daß ich vor Verlangen zu sterben glaubte und schon kurz nach Mitternacht den Priester durch Pochen erweckte. Ich fühlte, als verbrenne mir das Herz, und ich wurde mit so entsetzlicher Gewalt zur Kirche gezogen, als wollte man mir die Arme vom Leibe reißen. Oft verließ ich, in ekstatischem Zustand zu dem heiligen Sakrament hingerissen, nachts meine Zelle, und der Priester, vor Tag zur Kirche gehend, fand mich in der Kirche oder an der Mauer der Kirche mit ausgebreiteten Armen erstarrt sitzen oder liegen, erweckte mich und half mir barmherzig in meine Zelle zurück. Auch im Kloster hatte ich, wie jetzt, häufig Ohnmachten nach der heiligen Kommunion“ 21.

Ähnliches, wie wir aus dem Munde der Stigmatisierten von Dülmen vernehmen, wird auch aus dem Leben jener von Konnersreuth berichtet 22. In einem unterscheidet sich Therese Neumann aber doch wesentlich. Sie kommunizierte zwar täglich, aber schätze die hl. Messe nicht hoch ein. Während der Fastenzeit der einzelnen Jahre nahm sie niemals an Gottesdienst in der Kirche teil, auch nicht an den Sonntagen, und auch sonst besuchte sie nur je nach Laune die hl. Messe; sogar an Sonntagen versäumte sie dieselbe 23.

Die Berichterstattung Anna Katharinas in eigener Sache über ihren Kommunionempfang darf, wie auch in anderen Fragen, hinsichtlich des Wahrheitsgehalts nicht allzu ernst genommen werden. Wenn sie tatsächlich von übergroßer Sehnsucht der Kommunion erfüllt war, warum äußerte sich diese Sehnsucht zu solcher Unzeit? Tagelang hatte sie keine Sehnsucht, aber mitten in der Nacht tauchte sie auf! Außerdem ist es eine grobe Rücksichtslosigkeit, wenn sie mitten im kalten Winter einen betagten Priester aus dem Bett herausholt, nur weil sie angeblich glaubte, gerade jetzt kommunizieren zu müssen. Bei einem derart geradezu unverschämten Verhalten braucht man sich nicht zu verwundern, wenn sie immer wieder bei ihren Mitschwestern Anstoß erregt hat. Man überlege sich nur, wie über andere Personen geurteilt würde, wenn sie mit ähnlichen Allüren aufträten!

Das dem Somnambulismus ähnliche Verhalten der Katharina Emmerick verrät ein meist verkanntes Krankheitsbild, das Psychiater und Neurologen als Pyknolepsie bezeichnen. Diese Erkrankung manifestiert sich zwischen dem vierten und achten Lebensjahr und erstreckt sich meistens über das ganze Leben in der Form von anfallartigen Bewußtseinstrübungen. Die Anfälle werden durch besondere Ereignisse wie psychische Spannungen und Aufregungen ausgelöst; sie können aber auch vom Betroffenen selbst provoziert werden.

Auffallend ist bei Katharina Emmerick das häufige Auftreten eines ohnmachtähnlichen Zustandes vor oder nach dem Empfang der Eucharistie. Diese läßt sich so deuten, daß die Austeilung der hl. Hostie bei ihr einen von der Norm abweichenden, ungewöhnlichen Spannungszustand erzeugte, der einen pyknoleptischen Anfall auslöste. Dazu paßt auch die Beobachtung, daß Anna Katharina mitten in der Nacht ihre Zelle verließ und anderntags in sitzender oder liegender Haltung vor der Kirche aufgefunden wurde. Eine gesunde Nonne, die nächtlicherweise zum Gebet ein Gotteshaus aufsuchen will, würde in ihre Zelle zurückkehren, wenn sie die Kirchtüre versperrt findet.

3. Keuschheit

In den Schriften über Anna Katharina Emmerick wird betont, wie sehr sie die Tugend der Keuschheit geschätzt hat. Darüber spricht sie selber und dafür bürgen Leute ihrer Umgebung.

Dr. Wesener bezeugt: „Die Keuschheit beobachtete sie so, daß sie diese sogar zum Nachteil des Körpers übertrieb.“ Sie ertrug lieber bitterste Schmerzen, als daß sie eine ärztliche Untersuchung oder einen kleinen Eingriff zuließ. Auf ihrem Krankenlager zeigte sie sich so prüde, daß sie von ihren Mitschwestern gescholten wurde, weil ihnen ihre Ängstlichkeit übertrieben schien. Nach ihrem Klosteraufenthalt äußerte sie oftmals in großer Betrübnis die Klage, ihre Schwester habe sie beim Einreiben ihres Rückens nicht dezent genug behandelt. „Sie verwies ihr ihren Mangel an Scham in der Hinsicht“ 24.

Immer wieder betont Anna Katharina, daß sie nie in ihrem Leben auf irgendeine Weise durch ein Unkeuschheitssünde ihr Gewissen belastet habe, obwohl sie manche Gefährdung habe durchmachen müssen. „Von Kind auf“, so versichert sie, „habe ich nie nötig gehabt, mich einer Unkeuschheitssünde mit Gedanken, Worten oder Werken in der Beichte anzuklagen. ... Jedoch bin ich nicht von äußeren heftigen Zudringlichkeiten und Anfechtungen freigeblieben.“ Von innen her hat sie „nie große Anfechtungen gehabt“. Sie sagt weiterhin, „sie hätte wohl oft Reize zur Unkeuschheit gehabt“. Aber das sei von außen her gekommen; erst der Umgang mit anderen Menschen habe ihr „starke Versuchung von außen“ gebracht. Sie behauptete auch, „daß sie sowohl vom Teufel als von Menschen stark zur Unzucht versucht worden“ sei. Dies sei insbesondere ein paarmal geschehen, als sie von einem gewissen N. „viel gelitten habe“; dieser habe sie anderthalb bis zwei Stunden lang „gereizt“. Dieser „freche, schamlose Bursche, welchen der Versucher dazu angetrieben“, habe ihr zwei Stunden lang schwer zugesetzt; durch Gottes Hilfe habe sie ihn „niedergeworfen“ und zu fliehen gezwungen. In einem späteren Gesicht habe sie geschaut, daß zwei Engel ihr beigestanden seien 25.

Daß der böse Feind es war, der zuweilen ihre Unschuld gefährden wollte, erkannte sie, wie sie versichert, wiederholt erst in späterer Zeit „in Gesichten“. So erfuhr sie auch, daß er es war, der ihr in der Zeit, als sie bei der Näherin in Coesfeld beschäftigt war, junge Männer und sogar einen Ehemann zusandte, welche ihr „allerlei Aufmerksamkeit mit übeln Absichten erwiesen“. Anna Katharina habe jedoch die Männer nicht verstanden und sie „bald von dannen gewiesen“ 26.

Sie will „gleich in der frühesten Kindheit auf eine übernatürliche Weise, ohne darüber weiter nachzudenken, von der zeitlichen Entstehung des Menschen“ unterrichtet worden sein; aber solche Fragen hätten ihre Phantasie sonst nie beschäftigt. „Alle diese Dinge“ seien ihr mehr Sache ihres Abscheus und Mitleids mit den Menschen gewesen. Vor dem Geschlechtlichen habe sie sich abgestoßen und angeekelt gefühlt, so sehr, daß sie darob Gott sogar Vorwürfe gemacht habe. Sie sagt: „Schon als sehr kleines Kind machte ich meinem lieben Gott wohl Vorwürfe, daß es so sei und daß er es doch hätte wohl anders machen können.“ Ja, sie will sogar „eine Abscheu vor dem Heiraten“ gehabt haben. Wenn ihr eine Braut begegnet sei, habe sie „immer heftig weinen“ müssen. Bereits als „sehr kleines Mädchen“ habe ihr der Gedanke, einer ihrer Spielkameraden wolle sie vielleicht einmal heiraten, Entsetzen bereitet. Schließlich habe sie sich aber gedacht: „Wenn es schon sein muß, will ich es nach Gottes Willen tun, aber wenn der Knabe nur nicht in meinem Bett schlafen will“ 27.

Man muß bedenken, daß Anna Katharina alle diese Dinge erst im Alter von ungefähr, 45 Jahren erzählt hat, in einer, Zeit, da sie noch mehr als früher in einer 'Traumwelt gelebt hat. Sie „erinnert sich“ ja erst „in Gesichten“, daß sie früher einmal Versuchungen hatte durchmachen müssen. Was sie erzählt, ist nicht Beleg für die Tugend der Keuschheit, sondern für eine überaus ängstliche und enge Gemütsverfassung. Dies offenbart beispielsweise das Bekenntnis vor Clemens Brentano: „Als Kind und auch später habe ich oft in großer Vertraulichkeit mit Gott gezankt, daß er dieses und jenes so gemacht. ... Besonders unzufrieden war ich mit der Fortpflanzung der Menschen, von deren traurigem und erniedrigendem Geheimnis ich durch Gottes Gnade auf eine übernatürliche, geheimnisvolle und unverletzende Weise unterrichtet wurde, nicht von Menschen, nicht durch Neugier, sondern durch die Belehrung Gottes, und zwar so, daß ich es nicht weiß, wie. Diese Sache kannte ich längst, als ich noch gar keinen Begriff von der Fortpflanzung der Tiere hatte, und ich lebte doch unter den Tieren, in ihrer Nähe, in ihrem Stall.“ Ihr Abscheu gegen die Ehe äußert sich in den Worten: „Ich flehte auch immer zu Gott, er möge mich doch von dieser Schmach befreien, und wenn ich manchmal ängstlich fürchtete, ich möge dazu bestimmt sein wie andere meines Geschlechts, tröstete mich die Erfahrung, daß ich doch die Neigung zur Ehe und zu Männern in anderen Mägden gar nicht verstehen konnte und nie eine Empfindung hatte, welche sich auf dergleichen beziehen konnte. So sehr ich auch von der inneren Bedeutung und den Folgen der Ehe auf eine geistliche Weise unterrichtet war, war mein Wissen doch so unbefleckt davon, daß ich, schon erwachsen, von meiner Mutter über die unschuldige Angst mußte getröstet werden, ich möchte ein Kind kriegen“ 28. — Wenn dem so gewesen wäre, dann könnte Anna Katharina entgegen ihrer Versicherung doch nicht richtig von Gott über die Fortpflanzung des Menschen „auf übernatürliche, geheimnisvolle Weise“ aufgeklärt worden sein.

Die Seherin von Dülmen sieht die Schuld für die Gefährdung einer Ehe ausschließlich auf Seiten der Frau; ja, sie schiebt sogar diese Auffassung Christus selbst in die Schuhe, wenn sie seinen angeblichen Ausspruch anführt: „Wo die Ehe uneinig sei und ihrem Zweck, die Erzeugung reiner guter Menschen nicht erreiche, sei allein die Schuld auf der Seite des Weibes“ 29.

Belehrungen über die Ehe läßt Anna Katharina Jesus bei allen möglichen Gelegenheiten anbringen. Einmal gibt er einigen Männern Unterricht im Anbau und in der Pflege des Weinstocks. Er pflanzte selber Reben und zeigte den Anwesenden, wie die Reben „ins Kreuz aufgebunden werden müßten“. Anschließend begab er sich in die Synagoge und hielt einen Vortrag über die Ehe: „Er sprach auch von der großen Verderbtheit der Fortpflanzung im Menschen, und daß man nach der Empfängnis sich enthalten müsse, und führte zum Beweise, wie tief die Menschen von dieser Seite gegen die edleren Tiere ständen, die Keuschheit und Enthaltsamkeit der Elefanten an“ 30. — In dieser Frage dichtet Anna Katharina Christus einen mehr als naiven Unterricht an.

Ihre gesamte Anschauung über Ehe und Sexualität muß aus ihrer Zeit heraus verstanden werden; es sind Anschauungen, wie sie bereits im Manichäismus verkündet worden sind; sie sind mit der kirchlichen Lehre unvereinbar. Man kann freilich dem einfachen Bauernmädchen nicht zur Last legen, daß es sich in der Denkweise seiner Zeit bewegt hat.

4. Ohne Fehler?

Wenn über Heilige in belehrenden Büchern geschrieben wird, geschieht dies in der Regel recht einseitig, weil man offenbar meint, alles in ihrem Leben müsse bewundernswert sein. Das ist im Falle der „angehenden Heiligen“ Anna Katharina Emmerick nicht anders. Aber nicht bloß ihre Biographien stellen einseitig dar; das tut auch sie selber, indem sie in späterer Rückschau auf ihr Leben vergoldet und verklärt. Das tat sie auch, als sie erklärte, sie sei erst drei Jahre alt gewesen, als sie sich bereits „so sehr des Dienstes Gottes bewußt“ gewesen sei, daß sie „oft“ zu ihm „flehte, sie sterben zu lassen, damit sie nicht imstande sei, ihn je zu beleidigen“ 31.

Auch eine Anna Katharina Emmerick hatte, wie alle Menschen, mit menschlichen Schwächen zu tun. Als ihr Hauptfehler wird bezeichnet leichtes Aufbrausen und Ungeduld , Eigensinn und Jähzorn . Sie selber klagt sich an, sie sei „von Jugend auf hitzig und eigensinnig“ gewesen; die „Abtötung des Eigensinnes“ habe ihr am meisten Opfer gekostet. Aber immer wieder habe ihr ein Rückfall in den alten Fehler leid getan 32. Unter der Neigung zum Zorn hatte sie auch noch im Kloster zu leiden. Sie kämpfte freilich stets gegen ihren Fehler an, wobei sie in ihren Mitschwestern und deren Schwächen „Werkzeuge Gottes zur Prüfung und Übung in der Geduld“ erblickte 33. P. Limberg sagt Anna Katharina nach, ihr größter Fehler sei der Jähzorn gewesen. Wenn sie in den Fehler gefallen sei, sei sie nachher „ganz verdunkelt gewesen, auch ihre Farbe“ 34. Einmal hatte sie eine „Vision“; sie schaute, wie „ehrwürdige Nonnen ihres Klosters“ sie mit einem „unbeschreiblichen weißen Gewand“ bekleideten und ihr eine Krone aufsetzten. In diesem Moment gab sie den Nonnen ihre Sorge zu erkennen, „daß sie das Kleid nicht vor Flecken werde schützen können“. Die Nonnen trösteten sie: „Tue, was du kannst; freilich werden wohl Flecken darin kommen, diese mußt du dann mit Tränen auswaschen“ 35. Mit diesen Worten der „Nonnen“ scheint sich Anna Katharina selbst Trost zugesprochen zu haben; der Gedanke an das „unbeschreiblich weiße Gewand“ entspringt der Einschätzung des eigenen Wertes. Auch nach dem Verlassen des Klosters, als Katharina Emmerick bereits mit den Wundmalen ausgezeichnet war, störte bisweilen ihr Temperament „den Frieden ihrer Seele“. „Wiederholt klagt sie über Versuchung zur Ungeduld“ 36.

In den Erzählungen, die Clemens Brentano aufgezeichnet hat, stößt man fortwährend auf Aussagen der Stigmatisierten von Dülmen, die man nicht anders denn als Eigenlob bezeichnen kann. Nur eine kleine Auswahl aus dem reichen Material soll hier geboten werden.

Anna Katharina rühmt sich, daß sie von Kind auf „fast nie“ für sich, sondern immer nur für andere gebetet habe, „daß doch keine Sünde geschehe, daß doch keine Seele verloren gehen möge“; besonders gerne habe sie für die Armen Seelen Gebete verrichtet 37. Fortwährend weilte sie in ihrem Gebete bei Gott. Sie erzählt gerne, daß sie während der Nacht täglich viele Stunden Schlaf opferte, um beten zu können. Einmal schilderte sie ihrem Gast Clemens Brentano, wie sie für einen Kardinal Wunden empfangen habe. Damals erzählte sie auch einen Fall ihrer todesmutigen Tapferkeit: „Ich habe mich immer, wo eine Gefahr drohte, dazwischen gestürzt. Einmal war ich bei einem todkranken Kind, und der Vater wollte, berauscht und erzürnt, nach einem jenseits Stehenden ein Handbeil schleudern. Ich sah, es würde dem Kind den Kopf zerschmettern, und stellte mich in den Wurf, und es, streifte mir ein bißchen Haut vom Kopf ab“ 38.

Schon von frühester Kindheit an verzichtete Anna Katharina auf erlaubte Freuden. Im Alter von sieben Jahren, am Tag der Erstbeichte, hatten ihr die Eltern sieben Pfennige gegeben, damit sie sich in Coesfeld Weißbrot kaufen konnte. Sie schenkte das Geld einem Armen. In den folgenden Jahren erhielt sie jedesmal, so oft sie beichten ging, sieben Pfennige zum Weißbrotkauf. Sie brachte aber das Weißbrot „immer“ mit nach Haus als Geschenk für die Eltern 39.

In dem Eigenlob offenbart sich zuweilen auch ein gehöriges Maß an Stolz und Besserwisserei. Nicht einmal alle Holzspäne, so behauptet Anna Katharina, welche ihr Vater auf eines Nachbarn Schnitzbank gemacht hatte, habe sie sich zu verbrennen getraut, da sie diese für fremdes Eigentum hielt. Da soll der Vater die Mutter angeblickt und erstaunt gesprochen haben: „Das ist ein wunderbares Kind“ 40. Oder Anna Katharina erzählt, wie sie als Kind mit anderen ihres Alters aus Lehm einen Kalvarienberg, das dazugehörige Hl. Grab und anderes baute. Dabei bemerkt sie: „Wenn ich die Mittel und Anleitung gehabt hätte und keine Verspottung, - welche herrlichen Dinge hätte ich den, Menschen geben können“ 41. Am Erstkommuniontag habe sie ein auszeichnendes Lob durch ihren Pfarrer erhalten; sie und ihre Kameradin habe der Pfarrer nach der Feier ausdrücklich gelobt, sie hätten es „am besten gemacht“ 42. Anna Katharina rühmt ihre große Freigebigkeit. Einmal, als sie bei der Näherin in Coesfeld beschäftigt war, begegnete ihr auf der Straße eine „sehr armselige Frau“, die „ganz zerlumpt“ war. Da Anna Katharina zwei Röcke anhatte, ging sie ein wenig zur Seite, zog einen ihrer Röcke aus und gab diesen der Frau“ 43.

Wiederholt und ausführlich weiß sie über ihre Werke der Abtötung zu berichten: „Ich tötete mich auf alle Weise ab, machte mir mein Lager und anderes unbequem. Ich entsagte allem, 'Was angenehm sein konnte. Ich zwickte mich empfindlich in die Arme.“ Not jeglicher Art habe in ihr Mitleid in einer Weise erregt, daß sie nicht einmal mehr den Mut aufbrachte, sich satt zu essen. Von ihrem inneren Leid habe sie freilich nicht offen Rechenschaft ablegen können; falls sie es aber doch einmal versuchen wollte, habe sie kein Verständnis gefunden. Sie sei darum oft nur geschmäht und für eigensinnig gehalten“ worden 44.

Die Abtötung richtete sich auf alle Sinne des Leibes. Lassen wir Anna Katharina selbst sprechen: „Meine Augen tötete ich ab, indem ich sie niederschlug oder wegwendete, wenn irgendetwas Angenehmes oder die Neugier Reizendes zu sehen war. Wenn alle Bewohner unserer Bauernschaft nach vorüberziehenden Soldaten oder Reisenden sahen, trat ich nicht an den Weg. Auf den Jahrmärkten und Wallfahrten schaute ich nicht hin, wenn alle schauten, besonders aber bezwang ich mich in der Kirche. Ich sah nach keinem Fremden, keinem Putz, ich sagte zu mir: Schau nicht hin! Das könnte Dich stören, Du könntest zu viel Gefallen daran kriegen! Was kann dies helfen, wenn Du es siehst? Sieh es Gott zuliebe nicht! — Meinen Ohren tat ich Abbruch, wenn irgendwelche weltliche Musik oder irgendeine weltliche Geschichte oder eine Neuigkeit oder, was die Neugier reizt, zu hören war. Da wendete ich mich ab oder zwang mich, nicht zuzuhören, Gott zulieb. — Meine Zunge bändigte ich, indem ich nicht sagte, was ich sehr gerne gesagt hätte, und das nicht aß, was mir besonders wohl schmeckte. Da meine Eltern dies merkten, hielten sie es für Eigensinn und zankten mich. Hierauf aß ich dann und wann ein wenig von solchen Speisen, um sie nicht zu beleidigen. — Meine Füße enthielt ich dadurch, daß ich, wenn ich rechte Begierde bekam, irgendwo hinzugeben, wo es nicht nötig war, zurückblieb und zu mir sagte: Dieser Weg könnte Dich vielleicht gereuen. Besser ist, Du bleibst Gott zulieb weg! — Meinem inneren Gefühl versagte ich oft manche Freuden, die ich ihm wohl hätte machen können. — Meinen Körper tötete ich ab mit manchen Unbequemlichkeiten. Ich brannte ihn mit Nesseln, ich schlief lange auf einem doppelten Kreuz von Holz; über zwei lange Stücke Holz legte ich zwei andere Stücke quer über; darauf konnte ich gut schlafen“ 45. — Ansprechend klingt nicht, mit welcher Selbstgefälligkeit Katharina Emmerick sich selbst Weihrauch streut, zumal der Märchenstil unverkennbar ist. Auch die Art, wie sie ihre eigenen Verdienste einschätzt, zeugt nicht von echter Demut. Am 26. September 1815 sprach sie längere Zeit mit Dr. Wesener. Bei dieser Gelegenheit erinnerte sie daran, daß sie in der Stadt Dülmen Aufnahme gefunden habe, nachdem sie „schon mehrere Klöster abgewiesen hatten“. Zum Dank für die Aufnahme, so versicherte sie, habe sie sich für die Stadt „ganz besonders aufgeopfert“. Sie meint auch: „Ich habe schon die angenehme Überzeugung, daß ich dieser Stadt schon was abgewendet habe 46. Vielleicht erlaubt auch die Art, wie Katharina Emmerick ihr aszetisches Leben schildert, tiefenpsychologische Einblicke. In Übereinstimmung mit ihrer introvertierten Selbstunsicherheit verschließt sie sich allen optischen, akustischen und sensorischen Reizen. Rückblickend motiviert sie ihre auffällige Verhaltensweise als religiöse Entsagung oder Abtötung. In Wirklichkeit dürfte es sich um eine krisenhafte Störung der seelischen Reifung gehandelt haben.

Im Alter von sechzehn Jahren überkam Anna Katharina Einmerick eine starke Sehnsucht, in ein Kloster einzutreten. Dies geschah urplötzlich, als sie auf einem Felde arbeitete. Die Folge war, daß sie nun von dieser Stunde an zu kränkeln anfing. Sie mußte sich „immer erbrechen und war so traurig“ 47.

Sie versichert auch, ihr Entschluß, Klosterschwester zu werden, gehe bereits auf ihre Kindheit zurück. Als sie sechs Jahre alt gewesen, sei ihr die im Jahre 1505 verstorbene Gründerin des Annunziatenordens, Johanna von Valois, erschienen; in ihrer Begleitung sei „ein sehr schönes Jüngsken“ gewesen, nämlich der Jesusknabe; Johanna habe ihr vorausgesagt, sie werde einmal Klosterfrau werden. Nicht lange danach erschien ihr Johanna noch einmal zu der Zeit, als eines Nachmittags die Glocke des nahen Annunziatenklosters zum Gebet läutete. Zu dieser Stunde machte sie das Gelübde „bei reifem Alter in einen Orden einzutreten“ 48. Während ihres Klosteraufenthaltes, so versichert sie, habe sie mit Gott und allen seinen Geschöpfen in Frieden“ gelebt 49. Über die Zustände im Kloster wird gesagt, „obwohl aus keiner der Akten schwere Mißstände“ bezeugt würden, so scheine doch „der Geist lau und flach geworden zu sein“ 50. Anna Katharina selber schildert die Zustände im Kloster nicht in rosigen Farben. Das Kloster soll so arm gewesen sein, daß jede Schwester sich das Frühstück und Vesperbrot selber verdienen mußte 51. Am Tag gab es bloß zwei für die Klosterinsassen zubereitete Mahlzeiten. „Die zwei Mahlzeiten waren aber so dürftig und schlecht, daß unsere Emmerick bei der schweren Arbeit bald unterlag“ 52.

Das war schon schlimm genug; am meisten jedoch hatte Anna Katharina zu leiden unter der ungerechten Behandlung von seiten ihrer Mitschwestern. Im Gespräch mit Dr. Wesener äußerte sie sich, „im Kloster sei man so hart zu ihr gewesen, jeder habe sie mißhandelt“; man habe sie „immer mit Spott und Härte behandelt“ 53. Noch am 6. August 1814 beklagte sie sich dem Arzte gegenüber „wehmütig, daß sie noch immer so viele Leiden durch ihre Mitschwestern habe; sie seien im Kloster immer ihre größten Plagegeister gewesen und seien es noch“ 54. Klara Söntgen erwähnt, die Schwestern hätten von vornherein gegen Anna Katharina einen Widerwillen gehabt. Der „erste Grund zum Verstoße“ sei gewesen, daß das Kloster gezwungen worden sei, sie aufzunehmen. Der zweite Grund für die ablehnende Haltung bestand darin, daß sie „nicht so viel an Leinen etc. mitbrachte, als man erwartete“ 55. In Wirklichkeit wird aber ausschlaggebend gewesen sein ihre nicht bloß aus dem Rahmen fallende, sondern auch aneckende Eigenart, die vorher die Aufnahme in ein anderes Kloster verhinderte und die nun zu oftmaligen Reibereien führte. Die Schwestern werden geradezu als herzlos gegen die arme Kranke geschildert. Dechant Rensing schreibt: „Während ihres zehnjährigen Klosterlebens war sie fast anhaltend krank, oft auch wochenlangbett lägerig; was aber ihr Leiden noch vermehrte, war, daß sie von ihren Mitschwestern als eine fromme Schwärmerin verkannt und lieblos behandelt wurde, weil sie zuweilen, oder vielmehr in der Woche mehrmals kommunizierte, öfters von der Seligkeit der Leidenden mit heiligem Enthusiasmus sprach und sich dadurch von den anderen zu sehr unterschied“. Alles, was sie tat, wurde ihr „für Heuchelei, Schmeichelei, für Hoffart und dergleichen angesehen und ihr frommes Streben erregte wohl auch Eifersüchteleien. Kurz, man hielt sie für eine halbe Hexe“ 56.

Geschah etwas im Kloster und kannte man die schuldige Person nicht, dann mußte eben Anna Katharina herhalten. Sie war „die Zielscheibe aller Launen und Ränke und jedesmal Märtyrin der Wahrheit“. So urteilt Dr. Wesener 57. Zu Verdächtigungen fanden die Schwestern immer wieder Grund. So erzählte Anna Katharina ihrem Arzt Dr. Wesener folgende Geschichte: Einmal schenkte eine gewisse Frau Oldencott jeder Nonne einen holländischen Gulden; einigen aber, unter ihnen Anna Katharina, gab sie zwei Gulden. Anna Katharina lieferte das Geld der Oberin ab; aber ein paar Tage darauf wurde sie beschuldigt, sie habe in Wirklichkeit fünf Gulden erhalten und drei davon unterschlagen. Alle Beteuerungen halfen nichts; „sie wurde verurteilt, vor dem ganzen versammelten Kloster jeder Nonne zu Füßen zu fallen und Abbitte zu tun, welches sie auch ohne Widerrede getan“. Als später Frau Odencott wieder im Kloster erschien, soll die Oberin es abgelehnt haben, sich nach dem wahren Sachverhalt zu erkundigen. Sie soll Anna-Katharina bedeutet haben, „sie solle sich ruhig verhalten, indem die Sache längst vorüber und vergessen sei“ 58. Solches und noch manches andere haben Anna Katharina ihren Vertrauten geklagt. Würde so etwas stimmen, dann könnte man den Geist im Kloster nicht als „lau und flach“, sondern eher als brutal bezeichnen. Warum hätte schließlich Anna Katharina bestraft werden dürfen, wenn sie ihr geschenktes Geld behielt, das sie ja auch benötigte, um sich wenigstens zum Teil zu verköstigen?

Von Anfang an will sie im Kloster die Letzte der Letzten gewesen sein, in Wahrheit das Aschenbrödel. Sie schildert ihre Aufnahme im Kloster so: „Weil ich nichts brachte, gab man mir auch nichts. Ich hatte einen Stuhl ohne Sitz und einen ohne Lehne in meiner Zelle. Ich mußte mir die dringendsten Bedürfnisse alle anschaffen und später durch Näharbeiten und Wohltaten bezahlen. Nach meiner ersten Krankheit kaufte ich mir ein paar Stühle“ 59.

Bereits während der Noviziatszeit beklagte sich Anna Katharina über die unschönen Zustände im Kloster; sie spricht geradzu von einem „Verfall des Ordensgeistes“ 60. Sie selber, die eifrige Nonne, erfuhr viele Anfeindungen. Sogar während der Malzeiten wurde wider sie „manches bittere Wörtchen“ ihr „zu Gehör gesprochen. Sie hörte allerdings, wie sie versichert, nie etwa davon, weil sie sich „Tag und Nacht, während allen anderen Beschäftigungen, selbst unter dem Essen“, mit Gott unterhielt. Also, wenn ihre Mitschwestern in ihrer Gegenwart abfällig über sie urteilten, hörte sie nichts davon; wenn sie aber sonst über sie urteilten, dann wußte sie sehr wohl Bescheid; sie hatte ja die Gabe des „Fernhörens und Fernsehens“. Darüber berichtet sie selber: „Im Kloster habe sie oft Reden gehört und Szenen ihrer Mitschwestern gesehen, von welchen sie Wände und Mauern getrennt haben“. „Im Geiste hätte sie gesehen oder gehört, welche Gesinnungen diese in ihrem Herzen hätten, was diese heimlich miteinander über sie sprächen, was für Überlegungen ihre Mitschwestern anstellten, um sie zu demütigen“ 62. Offensichtlich widerspricht sich Anna Katharina selbst. Auf der einen Seite sieht und hört sie nichts, weil sie andauernd mit ihren Gedanken bei Gott weilt; aber auf der anderen Seite hört und sieht sie alles auf wunderbare Weise!

Ungerechterweise will Katharina Emmerick harten und beschämenden Bußwerken unterworfen worden sein, und dies in einem Kloster, in dem der „Verfall des Ordensgeistes“ weit fortgeschritten war. Wie sie beteuert, hat sie ihr ungerechterweise auferlegten Bußwerke gerne verrichtet 63. Sie habe sich nie darüber empört, wenn ihre Mitschwestern sie „demütigten“ 64. Auffallend ist nur, daß sie dann später so ausführlich über ihre Mitschwestern anderen gegenüber abgeurteilt hat.

Ihre Mitschwestern bezeichnet Katharina Emmerick als oberflächlich; sie sei von ihnen einfach nicht verstanden worden, und so habe sie immer wieder von dieser Seite Quälereien erdulden müssen. Sie schildert dies so: „Meine Lage im Kloster war sehr peinlich und hätte noch übler werden können, wenn meine lieben Mitschwestern weniger oberflächlich und gutmütig gewesen wären. Sie waren aber so entfernt, irgendeinen meiner Zustände zu verstehen oder zu glauben, als sie über irgendetwas länger nachzudenken imstande waren, und so entstand in ihnen nur ein unheimliches Gefühl über mich, aus welchem notwendig unaufhörliche Quälereien, Beschuldigungen, Anklagen, Strafen, Verdacht hervorgingen gegen mich, ohne daß sie je zur Einsicht kamen und ohne daß ich imstande gewesen wäre, ihnen irgendetwas zu erklären, was mit mir vorging, weil alles dieses einesteils mir selbst ganz unbegreiflich war, ohne daß ich mich noch darüber sehr verwunderte, sondern alles ganz kindlich und einfältig annahm und wieder weggab, was Gott schenkte, und weil andernteils mein Zustand so ganz außer der gewöhnlichen Ordnung war, daß vier Jahre lang schier in ununterbrochenem Sehen und Erleben übernatürlicher Dinge zubrachte und daher in diesem Zustand nicht von diesem Zustand anderen Personen Rechenschaft geben konnte, welche außer diesem Zustand lebten.“ Die Angaben Katharinas lassen erkennen, daß sie Tagwachträume hatte. Bei solchen Wachträumen werden bei weitgehender Abschaltung des Wirklichkeitsbewußtseins und herabgesetzter Wachheit gegenüber der Wahrnehmungswelt bildhafte Inhalte, meist Wunschgedanken, vergegenwärtigt und in immer neuen Formen abgewandelt. Bei typischen Tagträumen füllen die Phantasmen (Trugbilder) große Teile des Tages aus.

Weiter sagt Anna Katharina über ihre Mitschwestern: „Ich war ihnen ein ganz unbegreifliches Rätsel, ohne alle meine Schuld, um welches sie immer herumflüsterten und verdächtigten. Bald glaubten sie, ich heuchle und verstelle mich, weil ich nicht essen konnte und von den heftigsten Krankheiten durch übernatürliche Hilfe, die sie nicht kannten, plötzlich genas; bald glaubten sie, ich sei eine Betrügerin, weil ich öfter in äußerster Armut das nötige Geld erhielt., ohne eigentlich sagen zu können, woher, weil sie nicht glauben konnten, wie ich es mußte und wußte, es sei von Gott. Bald hielten sie mich für vermessen, weil sie mich nachts im ekstasischen Gebet in höchster Vertraulichkeit und liebender Dringlichkeit mit Gott sprechen hörten. Bald nannten sie mich scheinheilig wegen meiner Hingerissenheit zum heiligen Sakrament, bald hielten sie mich gar für eine Hexe, weil ich alles wußte und hörte, was im Kloster geschah und gesprochen wurde, obschon ich nicht zugegen und am anderen Ende des Hauses krank lag oder beschäftigt war, und weil ich manchmal, ohne zu wissen, daß ich nicht zugegen gewesen, von solchen Ereignissen und Reden sprach, die sie mir notwendig verborgen glaubten“ 65.

Einmal zog sich Anna Katharina nach ihrer eigenen Aussage eine schwere Hüftverletzung zu, so daß sie nachher „die Arme nicht mehr ohne Schmerzen in die Höhe heben konnte.“ Trotzdem mußte sie unter großen Schmerzen weiterhin als Küsterin die Kirchenglocken läuten. Ihre Mitschwestern legten ihre „große Mühseligkeit“ als „Faulheit“ aus 66.

Würde alles stimmen, was Katharina Emmerick durch ihre Mitschwestern erduldet haben will, es müßte tatsächlich im Kloster ein miserabler Geist geherrscht haben. So soll es Brauch gewesen sein, daß jede Schwester für sich allein ihr Frühstück einnahm. Anna Katharina aber habe „weder Geld noch einen Vorrat an Tee oder Kaffee gehabt“. Darum sei sie „morgens mit ihrem Kaffeekesselchen in die Küche gekommen und hätte sich ein wenig von dem Kaffeesatz, den die Nonnen am Tage vorher für die Mägde in einen Topf aus ihren Kesseln gespült, in ihr Kesselchen gegossen. Das habe sie aufgekocht zum Frühstück getrunken“ 67.

Daß Anna Katharina Emmerick in ihrem Kloster nicht ideale Zustände vorgefunden hat, braucht nicht bezweifelt zu werden; aber daß sie bei den Schilderungen der Zustände übertreibt, fällt geradezu in die Augen; man ist fast geneigt, an eine Art von Verfolgungswahn zu denken. Katharina Emmerick lebte allzu sehr in einer Traumwelt; das offenbaren ihre „mystischen Zustände“, wie vor allem ihre „Visionen“; ihr Blick für die Wirklichkeit war und blieb getrübt. Zudem schiebt sie bei ihren Erzählungen die eigene Person zu auffallend in den Vordergrund.

Anna Katharina Emmerick war ein introvertierter Typ; sie vermochte zu ihren Mitschwestern keine freundschaftlichen Verbindungen herzustellen. Sie fühlte sich ungerecht behandelt, gequält, unverstanden und zum „Aschenbrödel“ degradiert. Ihre gestörte Wechselbeziehung begründet sie mit dem sozialen Unterschied ihrer Herkunft und dem Verfall des Ordensgeistes. In Wirklichkeit aber war es ihre Kontaktschwäche, die ihr den Umgang mit den Mitschwestern erschwerte. Ihre anhaltende Kränklichkeit, ihre „visionären Zwiegespräche“ und ihr übersteigertes Selbstgefühl konnten bei den Mitschwestern begreiflicherweise keine Zuneigung wecken.

Auffallend ist, wie oft Katharina Emmericks Urteile über Mitschwestern keineswegs von besonderer Nächstenliebe geprägt zu sein scheinen, — was man sicherlich als Folge ihres gestörten Verhältnisses zu der Wirklichkeit bezeichnen kann. So fällt auf, daß sie gerne Menschen ihrer Umgebung des Diebstahls verdächtigt hat. Sie glaubte, „daß ungemein viele Heiligtümer, die ihr geschenkt worden, von Zeit zu Zeit ohne ihr Wissen ihr entwendet worden seien.“ Einmal nennt sie sogar eine Mitschwester mit Namen, von der sie sagt, sie habe ihr ein „Herz mit Marienbildchen“ während ihrer Krankheit „entwendet und einem Spanier verkauft“. Auch ein anderes ihr gestohlenes Geschenk vermutete sie im Besitz dieser Schwester 68. In dieser Frage gibt Clemens Brentano eine Erklärung ab, die durchaus plausibel erscheint. Er bezeichnet die Behauptung der Kranken, sie habe oftmals wunderbare Geschenke erhalten, die ihr immer wieder entwendet werden seien, bloß als Ausfluß ihres „inneren Traumlebens“. Derlei Dinge seien für sie so wirklich gewesen, „wie ihr Traumleben ihr gewöhnliches waches Leben in hohem Grade oder vielmehr überwiegend mit demselben verschmolzen war“69.

Hier hat Brentano sicherlich recht; Katharina Einmerick hielt ihre Tagwachträume für tatsächliche Ereignisse. Es ist auch zu verstehen, daß sie bei vielen Menschen ihrer Umgebung, besonders bei ihren Mitschwestern, immer wieder Anstoß erregt hat, worüber sie sich dann beklagte, zuweilen in Worten, die bei einem Menschen, der wohl überlegt, was er sagt, als Verletzung der Nächstenliebe ausgelegt werden müßten. Dem Abbé Lambert, der im Kloster zu Dülmen die Gottesdienste besorgte, machte Anna Katharina den Vorwurf, er habe für die an ihr geschehenen Wunder kein Verständnis gehabt; er habe die deutsche Sprache nicht genügend verstanden, so daß sich ihm nicht habe „erklären“ können; falls er selber auf wunderbare Dinge aufmerksam geworden sei, habe er solche Angst bekommen, Katharina möchte etwa gar hoffärtig werden, daß er sofort abwehrte: „Is nix, muß nix dran denken, muß nix sag, is fantaisie, is nix!“ So seien seine Reden gewesen „bei selbst augenscheinlichen Dingen“. So urteilt sie über Abbé Lambert, dem sie zu großem Dank verpflichtet war; er war es, der sie nach der Ausweisung aus dem Kloster in seine Wohnung aufgenommen hat; dort blieb sie über seinen Tod im Jahr 1821 hinaus. Von ihm wird gesagt, er habe bereits „für Anna Katharinas Not“ Verständnis gehabt, als sie noch im Kloster weilte 70 und er sei ihr dort „Helfer“ gewesen 71. Vom Beichtvater, dem Dominikanerpater Limberg, sagt Anna Katharina, sie habe ihm nie den ganzen Umfang ihrer „Gnadenerfahrungen“ mitteilen können 72. Diesen Pater lobt Clemens Brentano, er sei „außerordentlich opferbereit bei der Pflege und Betreuung der Kranken“ gewesen, er habe es jedoch „völlig versäumt, auf ihre Wunderberichte einzugehen und in ihr Märchenleben tiefer einzudringen“ 73.

Völligen Mangel an Verständnis für ihre Lage wirft Anna Katharina dem Arzt Dr. Krauthausen vor, der sie während ihres Klosteraufenthaltes betreut hat. Aber nicht nur ihm, sondern allen Ärzten macht sie ähnliche Vorwürfe. Sie sagt ihnen nach, sie habe „immer durch die Kunst der Ärzte und ihren guten Willen sehr gelitten“; die Mediziner hätten ihren wahren „Zustand“ gar nicht verstanden und sie „mit Arzneien schier umgebracht“. Weiter klagt sie: „Der Chirurgus gab mir immer wieder viel zu starke Arzneien, viel zu heftige Mittel, und war dabei sehr barsch“. Die ungemein teueren Medizinen, die sie sehr häufig habe einnehmen müssen, habe sie zuerst insgesamt aus eigener Tasche bezahlen müssen; erst gegen Ende ihrer Klosterzeit sei ihr die Hälfte der Rechnungen ersetzt worden 74. Kaum einen Vorwurf erfährt Dr. Wesener, welcher von 1813 an Katharina Emmerick ärztlich betreut hat. Dieser war schließlich auch überzeugt, vor wirklich Wunderbarem zu stehen.

Von 1812 an lebte Anna Katharina zusammen mit dem leidenden, greisen Abbé Lambert in einer Wohnung im Hause der Witwe Roters zu Dülmexi. Für die häuslichen Arbeiten und zur Pflege der beiden Kranken wurde Gertrud, die jüngere Schwester Katharinas, ins Haus genommen. Von ihr schreibt Brieger: „Gertrud (Drücke) ist derb, ohne jedes Gefühl für ihre Schwester, rücksichtslos und voll Eifersucht. Ihre niedere Denkungsart und ihr unerträglicher Charakter werden auf Jahre hinaus, bis ins Jahr 1821, dem Zeitpunkt des letzten Wohnungswechsels, zur schwersten Belastung für die ans Bett gefesselte Stigmatisierte“ 75. Das ist ein vernichtendes Urteil über Gertrud Emmerick. Es entspricht ungefähr dem, was Dr. Wesener aber sie sagt. Er verwies ihr gelegentlich ihr „Murren und Schmollen, ihre Halsstarrigkeit und ihren Ungehorsam im Dienst“. Sie habe alles von sich „abgewaelzt“.

Anna Katharina etwas auszusetzen, wenn er sagt, er habe auch ihr „ihr schnelles Aufbrausen“ verweisen müssen. Clemens Brentano schreibt über Gertrud: „Die Schwester hatte den unglücklichsten Charakter. ... Sie war höchst beschränkt und ohne alle Einsicht, dabei sehr roh und grob, ohne alle Milde, auffahrend, ungeschickt, sehr stolz und widerbellend, und, was am allerschwersten zu heilen, von geheimem Neid verzehrt“. Anna Katharina selber sagt von ihrer Schwester, sie sei von ihr nicht „als Schwester, sondern als ihre Feindin“ behandelt worden. 76. Dies, so urteilt sie, rühre lediglich „von dem Eigensinn und den moralischen Schwächen“ Gertruds her.

Im Jahr 1821 übernahm die Aufgabe als Wärterin bei Anna Katharina eine Frau namens Wissing. Auch sie wird „zu diesem Geschäft als wenig tauglich“ bezeichnet. Clemens Brentano schrieb über sie: „Die Kloppe, die ihr aufwartet, muß schier von ihr bedient werden, so unordentlich, schmutzig und ganz unfähig ist sie zu allem.“ Die Wärterin betete gerne halblaut im Nebenzimmer. Das tat sie angeblich „mit viel Geräusch“; sie „schlug mit den Deckeln ihres großen Gebetbuches auf dem Tisch herum“. Einmal machte darüber Luise Hensel Anna Katharina Emmerick gegenüber eine Bemerkung. Die Kranke erwiderte, sie habe einmal in dieser Form, also halblaut, viele ihrer Bekannten beten hören; dabei habe sie bemerkt, „wie manchen derselben Blumen aus dem Mund wuchsen, die zum Himmel hinauf stiegen; ihrer Wärterin aber fiel gekautes Gras aus dem Mund zur Erde“; darin hätten sich nur „zwei gesprenkelte Blümchen“ befunden 77.

Es fällt auf, daß Katharina Emmerick an nicht wenigen Menschen ihrer Umgebung sehr viel auszusetzen hatte, an den sie behandelnden Ärzten, an ihren Mitschwestern im Kloster, an ihre Beichtvater und ihrem Wohnungsgenossen Abbé Lambert, sowie an ihren Wärterinnen. Wir wissen, daß alle Menschen ihre Eigenheiten haben; aber wie Katharina Emmerick ihre Mitmenschen aburteilt, das scheint doch nicht mit einer heroischen Nächstenliebe vereinbar zu sein. Auf eine verkürzte Formel gebracht, könnt man ihr Verhalten so kennzeichnen: Alle anderen Menschen verstehen und taugen nicht viel im Vergleich zu mir. Aus einem Gefühl krankhafter Selbstüberheblichkeit übte Katharina Emmerick unsachliche Kritik an Handlungen und Mentalität der Personen ihrer Umgebung. Eine solche Haltung entspricht nicht der Demut klösterlichen Lebens.

Anna Katharina Emmerick war offensichtlich nicht allzu weitherzig in der Beurteilung ihrer Mitmenschen; auch an ihren Mitschwestern im Kloster hatte sie manches auszusetzen. Aber wie wurde sie selber von diesen beurteilt? Im April 1813 hat Dechant Rensing sieben ihrer ehemaligen Mitschwestern einzeln vernommen. Die erste Frage, die ihnen gestellt wurde, lautete: „War sie im Umgang mit ihren Mitschwestern demütig und nachgiebig, verträglich und dienstfertig?“ Es wurde zwar anerkannt, daß sie „dienstfertig und verträglich“ war, aber fünf der Schwestern stellten auch fest, daß sie „empfindlich“, „zuweilen aufgebracht und verdrießlich“, oder „gern ein wenig ästimiert“ war, „wenn ihr etwas zuwider war“ oder „wenn sie glaubte, daß ihr zu kurz geschehe“; sie sei „sehr empfindlich“ gewesen, „wenn sie glaubte, daß man sie nicht genug ästimierte“.

Die zweite Frage lautete: „Wie verhielt sie sich in ihren Krankheiten, von welchen sie so oft heimgesucht wurde, gegen ihre Mitschwestern und gegen ihre Aufwartenden?“ Die Mitschwestern bezeichneten Anna Katharina zwar als „gut und geduldig“, aber viermal wurde auch betont, daß sie sich wiederholt „über Mangel an Aufwartung und Verpflegung“ beklagt habe; sie glaubte, „daß für sie im Krankenbette nicht so gut gesorgt würde als für andere“; sie war „mit der Aufwartung oft unzufrieden und deswegen nicht immer freundlich und sanftmütig gegen die, welche mit ihr umgehen mußten, oder sie beschwerte sich doch öfter gegen dieselben“.

Die weitere Frage, wie sich Anna Katharina verhalten habe, wenn sie glaubte, „Unrecht und Kränkung“ erfahren zu haben, beantworteten sechs der Mitschwestern in gleichem Sinne. In solchen Fällen zeigte sie sich „verdrießlich“ und „aufgebracht“; „wenn man ihr ein Wort zuwider sagte, konnte sie wohl recht ungeduldig oder böse werden“. „In solchen Fällen konnte sie recht aufgebracht werden und ließ es durch ihre Unzufriedenheit und ihr ganzes äußerliches Betragen genau merken, daß sie in ihrem Herzen erbittert warf“.

Dechant Rensing wollte auch erfahren: „Woher kam .., daß sie im Kloster nicht recht beliebt war und von ihren Mitschwestern soviel geneckt wurde?“ Fünf der Schwestern bestätigten, daß Anna Katharina im Kloster nicht recht beliebt war“. Zum Teil wußte man dafür keinen Grund anzugeben, zum Teil wurde die Unbeliebtheit damit begründet, „daß sie sich zu viel dünken ließ“, sie würde von ihren Mitschwestern zurückgesetzt.

Allgemein wurde angegeben, Abbé Lambert habe Katharina Emmerick bevorzugt, er sei „für sie zu viel eingenommen gewesen“, er habe sich „zu sehr für sie interessiert“; darüber sie oftmals geredet worden. Auch Klara Söntgen, die Freundin Anna Katharinas in den Jahren vor dem Eintritt ins Kloster, fand manches Tadelnswerte an ihr, zum Beispiel, daß sie „leicht aufbrauste“ oder „sich öfter beklagte, man tue ihr unrecht“ 78.

Natürlich fallen Fehler solcher Art nicht besonders ins Gewicht; sie dürfen aber auch nicht ignoriert werden, zumal Anna Katharina Emmerick selber ihre Mitschwestern kritischer beurteilt hat als sich selbst.

5. Aszese

Namentlich vom Eintritt ins Kloster an war das Leben der Anna Katharina Emmerick angefüllt mit Leiden aller Art. Wie sie ..wiederholt versichert hat, waren so ziemlich alle ihre Krankheiten und Leiden nichts anderes als freiwillige Bußwerke in der Form von Sühneleiden oder stellvertretenden Krankheiten. Von frühester Kindheit an legte sie sich außerdem noch andere Opfer auf. Bereits vom sechsten Lebensjahr an begleitete sie „immer die ganze Adventszeit hindurch“ Maria und Josef auf dem Weg von Nazareth nach Bethlehem „auf jeden Schritt und Tritt“. Da bildete sie sich beispielsweise ein: „Heute muß die liebe Mutter Gottes wohl unter einem Baum schlafen.“ Dann schlich sie sich, wenn die Eltern schliefen, aus der Hütte „und betete und schlief unter einem Baum“; dabei lud sie Maria ein, sie möge in ihrem Bett schlafen. Zu anderen Malen legte sich Anna Katharina neben ihr Bett „an die Erde“, fest davon überzeugt, daß nunmehr Maria in dem angebotenen Bette ausruhe 79.

Schon als Kind hat sich den Berichten entsprechend Katharina Emmerick ein strenges Fasten auferlegt. Zuweilen wurde sie von ihren Eltern und Geschwistern deswegen beredet. Ihr Bruder berichtete später, sie habe „sehr oft“ gefastet, besonders „an den Tagen des Leidens Christi“. Wie sie selber gestand, aß sie des Abends und Morgens nur wenig, um sich abzutöten; am Mittag habe sie sich „nicht ganz satt gegessen“ 80.

Ein anderes Opfer bestand darin, daß sie bei Tisch „das Schlechteste nahm und so wenig aß, daß es oft unbegreiflich schien, wie sie nur bestehen konnte“. Die Wirkung dieser frühzeitigen und steten Entsagung sei gewesen, „daß sie von Kindheit an nie eine Regung der niederen Sinnlichkeit empfunden und sich niemals über eine Unreinheit, selbst nicht in Gedanken, anzuklagen gehabt hat. Sie gestand im späteren Alter, daß sie durch die frühen Abtötungen und ihr beharrliches Überwinden in all en Neigungen und Gelüsten die bösen Triebe untergraben, ehe sie dieselben in sich empfunden habe“ 81.

Ein anderes Gebiet, auf dem sich Anna Katharina dauernd Opfer auferlegte, war der Schlaf. Zunächst einmal verkürzte sie die Zeit des Schlafens durch lange dauerndes Gebet, „das sie auf den Knien liegend, die Hände zum Himmel ausgebreitet, verrichtete“ 82. P. Wegener schreibt: „Um leichter zu jeder Stunde der Nacht vom Schlaf aufzustehen, gebrauchte Katharina oft einen Stein zum Kopfkissen, legte sie Holz in ihr Bett und umgürtete sich mit knotigen Seilen“. Ihre „treue Beharrlichkeit im nächtlichen Gebet“ habe Gott mit dem Erfolge gekrönt, „daß sie nach und nach des natürlichen Schlafes ganz entbehren konnte, so daß sie im erwachsenen Alter bei Tag und Nacht Gott mit Gebet und Arbeit oder mit Leiden ununterbrochen dienen konnte“ 83.

Das Nachtlager machte sie sich dadurch zur Stätte der Buße, indem sie in ihrem Bett „Hölzer überkreuzt legte“ 84. Ihr Bruder bezeugte: „Auf ihr Bett legte sie Stöcke, worauf sie ruhte; auch legte sie in dasselbe Nesseln, worin sie schlief“. Solches bestätigte auch, wie bereits erwähnt, Anna Katharina selber 85.

Etwa vom 16. Lebensjahr an und dann insbesondere in der Zeit vor ihrem Klostereintritt setzte Anna Katharina ihren vielen Anfechtungen in jener Zeit fortwährend, wie von Jugend auf, die mannigfaltigsten Abtötungen entgegen“. Lassen wir sie selber sprechen: „Ich trug in verschiedener Zeit meines Lebens, nachdem ich mir es verschaffen konnte, einen Strick mit vielen Knoten von rohem, stachligem Werg auf bloßem Leibe, zu anderer Zeit ein Hemd von dem raschesten, roten Wolltuch, auch einmal einen Bußgürtel von Messingdraht, mit eingebogenen Spitzen, und ein großes Brustskapulier von Roßhaarzeug. Es hat mich dieses niemand gelehrt als die innere Rührung von Jugend auf; denn schon als Kind tat ich ähnliches und wurde mir ähnliches in Gesichten von Heiligen gezeigt, wie z.B. von der heiligen Johanna von Valeis in meinem zehnten Jahre, da ich die Kühe hütete und mich mit dem Jesusknaben verlobte. ... Ich erinnere mich, daß mir einst bei schwerer Erntearbeit das Blut häufig vom Gürtel niederströmte, und ich hatte geglaubt, es sei der Schweiß“ 86. - Solche Bemerkungen machen es schwer, den Angaben der Berichterstatterin in eigener Sache Glauben zu schenken. Außerdem erhebt sich die Frage: Warum macht Katharina Emmerick dies alles bekannt? Offenbar stützen sich alle einschlägigen Berichte auf ihre eigenen Mitteilungen. So notiert einmal Overberg: „Strengheiten, die sie mir wie im Vorbeigehen nannte, waren Ketten, Stricke, die sie umgebunden, ein hartes Unterkleid von dem gröbsten Tuch, das sie hätte finden können“ 87. Ein anderes Zeugnis stammt von einer ihr verwandten Bäuerin; diese sagt: Anna Katharina habe im Alter zwischen 18 und 19 Jahren, um ihren Körper abzuhärten, „einen wollenen Rock auf der Haut“ getragen 88. Dies wäre freilich nichts Besonderes; das werden andere Mädchen auch getan haben, wahrscheinlich in kalter Jahreszeit sogar ganz gerne.

P. Wegener gibt nur Aussagen der Kranken weiter, wenn er von ihr sagt, sie habe „mit einem Skapulier aus Roßhaaren auf der blanken Haut und mit einem Bußgürtel von Messingdraht ihren Leib gequält“. Diese Gewohnheit habe sie erst auf Befehl ihres Beichtvaters Limberg „nach ihrer Klosterzeit“ abgelegt 89. Derlei ist schon aus dem Grunde unglaubwürdig, weil ja Katharina Emmerick unmittelbar nach ihrer Klosterzeit bis zu ihrem Tod andauernd krank und ans Bett gefesselt war. Es wird nicht bezweifelt, daß sie sich gerne Bußwerke auferlegt hat. Andererseits kann aber auch nicht übersehen werden, daß die Berichte zum mindesten im wesentlichen auf ihre eigenen Schilderungen zurückgehen. Diese sind offenbar nicht frei von starken Übertreibungen, so daß es schwer fällt, all diese Dinge als bare Münze hinzunehmen. Dies gilt um so mehr, wenn sie von Bußwerken sprich die Schauder, ja Ekel aufsteigen lassen. So erzählt Anna Katharina, im Kloster zu Dülmen sei eine schwachsinnige Jungfrau beherbergt und verköstigt worden. Eines Tages habe diese „ein böses Geschwür im Nacken“ bekommen; Anna Katharina habe ihr täglich einen Verband mit dem „Mittel des Arztes“ und „einiger Zutat“, die ihr „innerlich eröffnet“ worden sei, aufgelegt. „Die Geschwulst fiel und Öffnete sich mit zwei großen Löchern, so daß man die Adern konnte liegen sehen.“ Anna Katharina versichert: „Ich saugte die Wunden, Jesu zuliebe, aus und leckte sie. Sie heilten ohne Narbe.“ Gleichzeitig berichtete sie einen ähnlichen Fall: „Die Magd im Kloster hatte einst ein Geschwür unter dem Arm. Sie kam nachts mit dem Lichte heimlich an mein Bett und bat mich um Hilfe. Ich saugte ihr das Geschwür aus, und es heilte“ 90. Dies sollen beileibe keine Einzelfälle gewesen sein. Katharina Emmerick beteuert, daß ihr solches Tun von Kindheit an zur Gewohnheit geworden sei: „Bei dem Aussaugen und Lecken von Geschwüren, wozu mich eine innere Begier des Helfens treibt, fühle ich im ersten Augenblick einen Ekel, und eben dieser Ekel treibt mich, ihn zu überwinden, weil er ein falsches Mitleid ist. Ich überwinde ihn aber schnell, und dann ist es mir eine rührende Freude, und ich tue es mit Gebet und mit dem Gedanken an unseren Herrn, der der ganzen Menschheit so getan hat. Es hat mich niemand dies gelehrt, auch keine Nachahmung. Schon als Kind mußte ich, weil ich es leiser und behutsamer tat und feiner mit den Fingern war, den Nachbarn alle Wunden verbinden, und wenn ich ein Geschwür sah, dachte ich: Drückst Du es, so wird es ärger, das Übel muß doch heraus, — und so kam ich darauf, es leise auszusaugen, und die Wunden heilten“ 91.

Die Schilderungen klängen glaubhafter, wenn sie durch die Aussagen von Zeugen erhärtet würden. Genügsame Lebensführung, einfache Kleidung und mildtätige Werke sind unzweifelhaft positive Attribute eines klösterlichen Lebens; aber Selbstquälereien, die gewollte Hervorrufung exzessiver Hautreize durch Brennesseln, die Strangulierung des Leibes mit einem kupfernen Stacheldraht und das begierige Absaugen von Abszedierungen sind Symptome einer psychisch gestörten Persönlichkeit.


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Letzte Änderung: 28. Januar 1998