Die stigmatisierte Seherin Anna Katharina Emmerick

IV. Stellvertretende Leiden

Anna Katharina Emmericks Leben war ausgefüllt mit Krankheiten verschiedenster Art, die nicht bloß ihrer Umgebung, sondern auch den Ärzten Rätsel aufgaben. Sie selber versicherte zu wiederholten Malen, daß der Grund ihrer Leiden ihr eigener Entschluß gewesen sei, nämlich Sühne für die Schuld anderer und Übernahme von Gebrechen von Mitmenschen, die somit geheilt worden seien. „Die eigentliche Aufgabe ihres Lebens war: leiden für die Kirche oder einzelne Mitglieder derselben“ 116. Diese ihre Aufgabe erfüllte sie in Übereinstimmung mit dem Willen ihres „himmlischen Bräutigams“, der ihr einmal in der Gestalt eines Jünglings erschien und sprach: „Ich habe dich auf mein Brautbett der Schmerzen gebettet ... ; du mußt leiden, ich verlasse dich nicht“ 117. Mehr als ein Jahrhundert später hat Anna Katharina eine Nachfolgerin gefunden in Therese Neumann von Konnersreuth. Auch ihre Leiden waren angeblich zumeist freiwillig übernommene Lasten; der Unterschied liegt bloß darin, daß bei ihr der Ansporn hierzu angeblich vor allem von der Kleinen Theresia ausging. Die Ähnlichkeit nimmt nicht wunder; Therese Neumann hat ja die Literatur über Katharina Emmerick fleißig studiert 118.

Die Gewohnheit, für andere stellvertretend zu leiden, begann Anna Katharina bereits in früher Kindheit. Sie entsprang ihrem Mitleid mit allen Notleidenden. Am 7. April 1823 berichtete sie darüber: „Ich hatte dieses heftige Mitleid schon von Kind an. Die Nachricht von Unglück, Leiden, Krankheit, Sünde anderer Leute hörte ich mit immer einer solchen Empfindung an, daß ich oft ganz starr dasaß und meine Eltern fragten, ob ich krank oder unweis' sei. Schon sehr früh trugen sich die Schmerzen anderer, wenn ich für sie betete, auf mich über; denn ich hatte immer die kindliche Meinung dabei, Gott gebe keine Leiden vergebens, einer müsse es bezahlen; und daß es so stark auf einen komme, das geschehe, weil die anderen nicht helfen wollten, ihn aus seinen Schulden herauszuhelfen, und da betete ich dann, Gott möge mich doch bezahlen lassen für ihn, und flehte zum Jesekind, es solle mir helfen, bezahlen, und da hatte ich dann bald Schmerzen genug“ 119. Dann erzählt Anna Katharina auch gleich einen Fall aus ihrer Kindheit: „Ich erinnere mich, daß meine Mutter die Rose heftig am Kopf hatte und ganz geschwollen im Bett lag. Ich war allein mit ihr in der Hütte. Sie dauerte mich ganz ungemein. Ich kniete in einen Winkel und betete heftig zu Gott und schabte dann Kreide auf ein Tuch und band es ihr um den Kopf und betete wieder. Da bekam ich die heftigsten Zahnschmerzen, und das ganze Gesicht schwoll mir auf. Als die andren aber nach Haus kamen, fanden sie die Mutter hergestellt, und ich ward auch bald wieder besser“ 120.

Im Januar 1820 gab Anna Katharina ein genaues Datum für den Beginn ihrer Sühneleiden an, zugleich versicherte sie, alle während ihrer Klosterzeit ertragenen Gebrechen seinen „Leidensabnahmen“ gewesen: „Nach meiner Firmung glaubte ich erst die Eigenschaft erhalten zu haben, daß für fremde Schuld und fremde Strafe, die mir gezeigt wurden oder die ich selbst sah und für welche zu sühnen mein wunderliches Herz nie zu flehen unterlassen konnte, daß, sage ich, zu solcher Sühnung übernatürliche Peinigungen und Krankheiten über mich kamen, die ich durch Erscheinungen manchmal an mir ausüben sah. Manchmal ward auch die Sühnung durch scheinbar persönliche Zufälle an mir vollzogen. Alle meine seltsamen Zufälle und plötzlichen Krankheiten waren dieser Art. Wenn mich andere verleumdeten oder verhöhnten, pflegte ich nicht nur ihnen von ganzem Herzen zu verzeihen, aber dies ließ mich nicht ruhen, denn, weil ich fürchtete, Gott möge sie wohl nach seiner Gerechtigkeit strafen, so mußte ich sie gleich bemitleiden und dringend zu Gott flehen, er möge mich ihre Strafe erleiden lassen. Sehr bald und oft gleich auf ein solches Gebet kam ich in einen Zufall, der Hohn oder Ver1eumdung zur Folge hatte. Ich fiel etwa glatt auf die Erde und konnte mir nicht helfen und gebärdete mich wie ein Kind, so daß ich von allen verlacht und verspottet wurde oder ich fiel in eine se1tsame, niemand begreifliche Krankheit we1che man als Verstellung oder Narrheit verhöhnte. Alle meine Leiden im Kloster waren solche Leidensabnahmen“ 121. Man beachte die zwei letzten Sätze! Sie offenbaren eine geradezu klassische Beschreibung eines pyknoleptischen Anfalls. Katharina Emmerick sagt, alle ihre Leiden im Kloster seien „Leidensübernahme“ gewesen. Diese Versicherung lautet allerdings in einem anderen Tagebucheintrag Brentanos etwas anders; dort bezeichnet Anna Katharina nur den „größten Teil“ ihrer Krankheiten und Schmerzen als „übernommene Leiden“; zugleich gibt sie eine tiefere Begründung für die Leidensübernahme an: „Der größte Teil meiner Krankheiten und Schmerzen. mein ganzes Leben hindurch und vorzüglich während meinem Ordensleben, als dem rechten Mittelpunkt meines Lebens, war übernommenes Leiden für andere. Entweder, daß ich die wirkliche Krankheit eines anderen, der sie nicht mit Geduld zu ertragen vermochte, auf mich herüber betete und statt seiner ganz oder teilsweise auslitt, oder daß ich für irgendeine Schuld der Not zu zahlen mich Gott hingab und daß dieser jene Schuld in eine der Art derselben angemessene Krankheit als Buße an mir ergehen und auskämpfen ließ. Es waren also in mir eigene Krankheit, übernommene Krankheiten anderer, in Krankheitsformen übersetzte Sünden und Mängel anderer, ja die mangelhaften Zustände und Versäumnisse ganzer Teile der christlichen Gemeinde und der ganzen Christenheit und sehr häufig die mannigfaltigsten Genugtuungsleiden für arme Seelen“ 122. -— Wollte man die Aussagen der Stigmatisierten von Dülmen eingehender überdenken, dann käme man auf eine Reihe von Schwierigkeiten und Zweifeln. Beispielsweise müßte man schlußfolgern: Wenn sie tatsächlich „die mangelhaften Zustände und Versäumnisse der ganzen Christenwelt“ gesühnt hat, dann wären ihre Leiden doch vergleichsweise vollkommen unbedeutend gewesen; oder umgekehrt: Wenn ihre Leiden den „Sünden und Mängeln“ entsprechend waren, dann gäbe es in der „ganzen Christenheit“ nicht viele „Sünden, mangelhafte Zustände und Versäumnisse“.

Dr. Wesener meint: „Die meisten Krankheiten waren freiwillige Übernahme der Leiden ihrer Freunde, die ihr ihren Kummer ausgeschüttet und sich in ihr Gebet empfohlen hatten. In ihren Ekstasen sprach sie sich deutlich darüber aus und bestimmte auch meistens die Zeit, wann die Arbeit vollendet sei. Hiervon, wie überhaupt von allen Äußerungen, die sich auf ihre Person bezogen, wußte sie beim Erwachen sich nicht zu erinnern“ 123. — Es ist durchaus möglich, daß ein Pyknoleptiker während des Anfallgeschehens ansprechbar ist, auch relativ vernünftige Antworten auf Fragen erteilt, sich aber später an nichts mehr erinnern kann. In diesem Zusammenhang muß wiederum auf Anna Katharinas Nachahmerin Therese Neumann hingewiesen werden; bei ihr finden wir dieselbe Erinnerungslosigkeit, die ihr Analogon in dem posthypnotischen Zustand hat, wie er nach der Hypnose vorhanden zu sein pflegt 124.

Eine der Personen, der Katharina Emmerick ihre Hilfe angedeihen ließ, war die Schwester P. Limbergs; diese litt an Schwindsucht. Die Kranke ließ sich auf das Zimmer Anna Katharinas bringen, weil sie glaubte, sich dort besser auf den Tod vorbereiten zu können. In dieser Zeit litt Anna Katherina viele Schmerzen. Brentano bemerkt zu dem entsprechenden Eintrag im Tagebuch Dr. Weseners vom 18. August 1814: „Mitleiden mit der schwindsüchtigen Hauswirtin, Schwester des Beichtvaters, die auf ihrer Stube krank liegt.“ Tatsächlich, so heißt es, traten bei Anna Katharina „alle Zeichen der langen Krankheit auf, wie Schmerzen auf der Brust und Blutbrechen“. Aber geholfen haben diese Leiden nichts; denn die Schwester P. Limbergs starb bald darauf 125.

Wenn Katharina Emmerick für andere litt, „erhielt sie genau dieselbe Krankheit und dieselben Folgen der Gefahr, wovon die anderen befreit wurden“. Ein Bürger Dülmens, welcher ihr näher bekannt war, litt an „heftigen Gichtschmerzen“. „Auf ihr Flehen erhielt sie die Schmerzen, jener aber war frei“. Ein andermal erbat sie sich die Schmerzen einer Person, „welcher ein Stück aus dem Schenkelknochen geschnitten werden mußte“.

Sie klagte von da an „über arge Schmerzen im linken Schenkelknochen“ 126. Es wird allerdings nicht behauptet, daß die operierte Person keine Schmerzen mehr verspürte.

Nicht selten freilich erwirkte Anna Katharina durch ihr stellvertretendes Leiden unmittelbare Hilfe. Ein Kupferschmied war „an einer Seite schmerzhaft gelähmt“, so daß er lange Zeit nicht mehr seinem Beruf nachgehen konnte. Eines Tages schickte er seine Frau zu Katharina Emmerick und ließ sie bitten, sie möge ihn doch in ihr Gebet einschließen, damit er wieder arbeiten könne. „Als die Frau kaum eine halbe Stunde weggewesen war“, bemerkte der Kupferschmied, „daß Schmerz und Lähmung plötzlich verschwunden waren“. Sofort verließ er sein Bett und begab sich in die Werkstatt, „wo er dem Gesellen einen Kessel, den derselbe eben bearbeitete, und den Hammer wegnahm“. Der Geheilte hatte viel Mitleid mit Anna Katharina, als er erfuhr, daß sie nunmehr „an derselben Seite längere Zeit dieselben Leiden litt, die sie ihm abgenommen“ 127.

Beim bischöflichen Informativprozeß wurde folgender Fall erzählt: Eine Frau, welche von Gicht gekrümmt und gelähmt war, klagte Anna Katharina ihre Not. Diese sicherte der Patientin ihr Gebet zu, forderte sie aber auf, sie solle auch ihrerseits um Genesung beten. „Kurz darauf wurde die Frau von Schmerz und Krümmung geheilt; Anna Katharina mußte drei Tage lang die heftigsten Gichtschmerzen leiden“ 128. Clemens Brentano notiert zusammenfassend: „Wir haben sie für Schwindsüchtige, betend und mitleidend, schwindsüchtig, für Wassersüchtige wassersüchtig, für Angefechtene angefochten werden sehen“ 129.

Falls man die Aussagen der Stigmatisierten von Dülmen als mit den Tatsachen übereinstimmend annehmen will, dann erheben sich die Fragen: Hätte beim Vorliegen solcher „freiwillig übernommenen Leiden“ die Verwendung von Arzneimitteln noch einen Sinn? Kann ein Arzt dann noch helfen oder muß nicht vielmehr sein Eingreifen abgelehnt werden? Katharina Emmerick beteuert, die Ärzte seien angesichts ihrer Krankheiten vor Rätseln gestanden, die von ihnen verordneten Arzneien hätten ihr nicht helfen können, sondern zusätzlich Pein verursacht: „Alle diese Zustände mit dem schnellen Wechsel der widersprechendsten Krankheitszeichen stellten sich an mir dar als meine Krankheit und waren als diese dem Arzte und seiner beschränkten Wissenschaft preisgegeben, der das auf alle Weise zu heilen strebte, was ich zu leiden lebte. ... So hatte ich denn durch Arzneimittel zur Unzeit mein ganzes Leben hindurch und besonders im Kloster unendlich gelitten. Oft war ich dadurch dem Tode nahe, und dann erbarmte sich Gott meiner oft auf übernatürliche Weise und sandte mir wunderbare Heilmitte“ 130. - Aber warum hat bei solcher Lage Anna Katharina Emmerick einen Arzt vorgelassen? Ähnliche Dinge wie in Dülmen haben sich auch in Konnersreuth abgespielt. Auch Therese Neumann wurde von einer Unzahl von „übernatürlichen“ Krankheiten geplagt. Die hl. Theresia hatte ihr eröffnet: „Kein Arzt kann dir helfen.“ Trotzdem beschäftigte sie einen „Leibarzt“, nämlich Dr. Mittendorfer aus München, „der immer mehr Hausarzt der Familie Neumann geworden war und öfter nach Konnersreuth kam, um der Resl sein Auto zur Verfügung zu stellen und ihr zugleich ein erfahrener ärztlicher Beistand zu sein für sie selbst und für die Leidenden, die sie oft zu besuchen hatte“ 131.


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Letzte Änderung: 26. Januar 1998