Die stigmatisierte Seherin Anna Katharina Emmerick

VI. Stigmatisation

1. Dornenkrone

Wie es bei den Stigmatisierten die Regel ist, so traten auch bei Anna Katharina Emmerick die Wundmale nicht gleichzeitig auf; sie hatten auch jeweils ihre Vorgeschichte. Den Anfang machten bei ihr die Wunden der Dornenkrone. Diese „äusseren Zeichen ihrer besonderen Begnadung, die Spuren der Dornenkrone“, empfand sie zum erstenmal im Jahr 1799, als sie im Alter von 24 Jahren stand. Sie schildert den Vorfall selber: „Etwa vier Jahre ehe ich ins Kloster ging, war ich einmal um die Mittagszeit in der Jesuitenkirche zu Coesfeld und kniete auf der Orgelbühne vor einem Kruzifix in lebhaftem Gebet. Ich war ganz in Betrachtung versunken, da wurde mir so sachte und so heiß, und ich sah vom Altar der Kirche her, aus dem Tabernakel, wo das heiligste Sakrament war, Jesus als meinen himmlischen Bräutigam in Gestalt eines leuchtenden Jünglings vor mich hintreten. Seine Linke hielt einen Blumenkranz, seine Rechte eine Dornenkrone; er bot wir beide zur Wahl an. Ich griff nach der Dornenkrone; er setzte sie mir auf den Kopf, worauf er verschwand und ich mit einem heftigen Schmerz rings um das Haupt wieder zur Besinnung kam. Ich mußte gleich darauf die Kirche verlassen; denn der Küster rasselte schon mit den Schlüsseln zum Schließen derselben. Am folgenden Tage war mir der Kopf über den fangen stark geschwollen und ich hatte sehr große Schmerzen. Die Schmerzen und die Geschwulst kehrten oft wieder und währten ganze Tage und Nächte. Ich richtete meine Kopfbinde so ein, daß ich das Bluten glücklich verbarg; später im Kloster hat es auch nur eine Person entdeckt und redlich geschwiegen“ (138). Diese wörtliche Aussage hat P. Wegener überliefert. Etwas anders wird der Hergang im Buch „Im Banne des Kreuzes“ erzählt. Demnach befand sich zusammen mit Katharina Emmerick auf dem Chor der Jesuitenkirche in Coesfeld Klara Söntgen. Diese sagte später aus, beim Verlassen der Kirche habe Katharina Emmerick ausgesehen, „als sei sie ohnmächtig“. Auf dem Rückweg in die Wohnung erklärte sie: „Als ich vor dem Kruzifixbild betete, war mir, als daß jemand einen Kranz von spitzigen Dornen mit Gewalt auf meinen Kopf drückte. Das schmerzte mich so, daß ich meinte, ich müsse von Sinnen kommen.“ In der Wohnung angekommen, wünschte Anna Katharina, Klara Söntgen „sollte einmal ihren Kopf anschauen“. Sie tat dies, „fand aber nichts als eine starke Hitze beim Anfühlen“. Anna Katharina hatte von da an heftige Kopfschmerzen, „als wenn ein Kreis von Dornen um den Kopf herum säße, und als wenn alle ihre Haare Dornen wären, so daß sie nie ohne Schmerz ihren Kopf aufs Bettkissen legen konnte“. Im Widerspruch zu der wörtlichen Erklärung, wie P. Wegener sie bringt, heißt es in dem Buch „Im Banne des Kreuzes“: „Ausdrücklich verneint sie, daß sie damals irgendeine Erscheinung oder besondere Erleuchtung über etwas gehabt habe, sie sei vielmehr zu der Zeit in besonderen Leiden gewesen“. Die Kopfwunden bluteten, wie Katharina Emmerick versicherte, jeweils am Freitag, aber auch „nach stärkeren Arbeiten und Anstrengungen“ (139). Beide Berichte widersprechen sich offensichtlich in manchen Punkten. Anna Katharina gibt nicht an, was sie unter „besonderen Leiden“ versteht. Sie war ja zu der fraglichen Zeit nicht krank. Ihrer Darstellung nach hat sie zwar sehr oft „heftige Schmerzen“ gehabt, aber von jenen Blutungen habe sie nicht eher erfahren, als bis sie von ihrer Gefährtin aufmerksam gemacht worden sei, daß sich „Rostflecken“ auf ihrer Kopfbinde befänden. Dieses „Kopfbluten“ habe sie allezeit verheimlicht; im Kloster sei darauf nur eine einzige Person aufmerksam geworden; diese habe aber geschwiegen (140). Man muß sich nur fragen, wieso dann alles bekannt geworden ist. Der auffallendste Unterschied in den Darstellungen ist dieser: Katharina Emmerick, so heißt es, habe „ausdrücklich verneint“, daß sie damals irgendeine Erscheinung gehabt habe. Im Gegensatz dazu zitiert P. Wegener ihre wörtliche Erklärung, wonach ihr „Jesus, der himmlische Bräutigam, in Gestalt eines leuchtenden Jünglings“ erschienen sei; dieser habe ihr zur Wahl einen Blumenkranz und eine Dornenkrene angeboten. Die Aussagen, die ja beide von Katharina Emmerick stammen, widersprechen sich nicht bloß in Nebensachen!

Katharina Emmerick könnte die geschilderte Szene mit dem „leuchtenden Jüngling“, der ihr einen Blumenkranz und eine Dornenkrone zur Wahl stellte, aus einem Buch über Margareta Maria Alacoque entlehnt haben, in deren Leben wir ein ähnliches Ereignis finden. Eines Tages erschien ihr Jesus, „in jeder Hand ein Bild haltend. Auf dem einen war das glücklichste Leben dargestellt, das sich für eine Ordensperson nur denken läßt: Friede, innere und äußere Tröstungen, Gesundheit, Achtung und Liebe der Geschöpfe. Das andere Bild stellte ein ganz armes, verachtetes Leben dar, beständig gekreuzigt, Verdemütigungen, Verhöhnungen und Widerspruch aller Art, ein Leben unaufhörlicher Leiden an Seele und Leib.“ Christus sprach: „Wähle, meine Tochter, was dir am besten gefällt; ich werde dir, wie auch deine Wahl ausfallen mag, die gleichen Gnaden verleihen.“ Die also

Angesprochene überließ die Wahl Christus selbst; dieser überreichte ihr das Leidensbild (141). Auch Alacoque erhielt wie Emmerick eine Dornenkrene auf das Haupt gesetzt. Einmal vor dem Kommunionempfang erschien ihr „die heilige Hostie strahlend wie eine Sonne“. In ihrer Mitte „war Jesus und hielt eine Dornenkrone in den Händen, die er ihr auf das Haupt setzte“, wobei er sprach: „Empfange, liebe Tochter, diese Krone als Sinnbild jener anderen, die dir bald wird gegeben werden, um dich mir gleichförmig zu machen“ (142).

Schmerzempfindungen, wie sie Katharina Emmerick oftmals äußerte, eine übermäßige Sensibilität oder Insensibilität gegenüber Berührungen, auch Empfindungen äußerster Hitze und Kälte, solche Dinge finden sich ebenfalls nicht selten bei den Mystikern, die keine Wundmale tragen. Die 1510 verstorbene Katharina von Genua beispielsweise litt eines Tages „unter großer Kälte im rechten Arm, und ein starker Schmerz folgte“. „Zu Zeiten war sie in einem solchen Grade empfindlich, daß es unmöglich war, ihre Laken oder ein Haar auf ihrem Haupt zu berühren; wenn man das tat, schrie sie auf als wäre sie schmerzhaft verwundet“ (143).

2. Brustmal bzw. „Magenkreuz“

Erst zwölf Jahre nach der „Dornenkrönung“ traten bei Katharina Emmerick weitere Wundmale auf, und zwar in Abständen. Ein Stigma auf der Brust wurde im August 1812 sichtbar. Aber bereits zehn Jahre vorher kündigte sich dieses Wundmal an. Am Weihnachtsfest des Jahres 1802, also zu Beginn des Noviziatsjahres, so erzählte Anna Katharina später, empfand sie zum erstenmal in der Herzgegend einen stechenden Schmerz; dieser blieb ihr, „bis die Kreuze auf der Brust hervorgekommen“ (144). Dem Auftreten der „unsichtbaren Herzwunde“ war eine Erkältungskrankheit vorausgegangen, bei der zum ersten Mal der Arzt Dr. Krauthausen zu Rate gezogen wurde. Kaum war diese Krankheit verschwunden, da stellte sich um die Weihnachtszeit „ein Gallenbrechen mit sehr schmerzhaften und krampfhaften Zuständen ein. Die eigentliche Erkrankung zog sich bis Mitte Februar des folgenden Jahres hin. Emmerick blieb von der Zeit an meist schwach und kränklich“. Dr. Krauthausen glaubte den Grund für die Krankheit in einem „großen Verdruß“ zu sehen, den die Kranke hatte. Sie selber sagte später aus: Bald nach dem Beginn des Noviziates habe sie „einen großen Verdruß“ gehabt, „wobei sie Schmerzen im Herz bekommen, die ihr geblieben, bis sie die Wunden gekriegt“ (145). Die „Herzbeschwerden“ waren offensichtlich allein die Folge von psychischer Erregung; sie haben mit irgendeinem übernatürlichen Charakter nicht das mindeste zu tun; das gleiche gilt für die später aufgetretenen sichtbaren Male.

Zehn Jahre nach jenen „Herzbeschwerden“ trat die sichtbare Brustwunde auf. Es geschah dies am 28. August 1812, am Fest des hl. Augustinus, des Ordenspatrons des Klosters, dessen Mitglied Katharina Emmerick war. An diesem Tag wurde „am unteren Teil der Brust Anna Katharinas ein Mal in Kreuzesform“ sichtbar, das auch als „Magenkreuz“ bezeichnet wurde (146). Dies geschah, während sie „mit ausgebreiteten Armen betete“. Plötzlich nahte sich ihr der Heiland in Gestalt eines leuchtenden Jünglings. Er drückte ihr mit einem Kreuzchen aus weißem Wachs ein wundes Kreuzzeichen auf den Leib, „in der Nähe des Herzens“ bzw. in der „Magengegend“. Sofort empfand Anna Katharina einen Schmerz, „als sei Feuer auf die Stelle gefallen“; die Schmerzen dauerten auch in der Folgezeit an. Nur durch Zufall erfuhr kurze Zeit später ihre Umgebung von der Auszeichnung. Beim Besuch eines Gotteshauses wurde Anna Katharina „ekstatisch“. Die Anwesenden dachten an Ohnmacht und öffneten ihr über dem Herzen die Kleider, „wo sie dann das wunderbare Kreuzzeichen sahen und diese Kunde verbreiteten“ (147). So schildert P. Wegener den Hergang. Der Bericht erregt Bedenken. Wenn Katharina Emmerick während des Gebetes „ekstatisch“ wurde, dann konnte sie nicht den Eindruck einer Ohnmächtigen machen; Ohnmächtige verharren nicht in Gebetshaltung, sondern fallen zu Boden. Auffallend ist auch, daß Katharina Emmerick nicht gemerkt haben soll, was die Leute um sie herum taten. Es leuchtet auch nicht ein, warum ihr die Leute die Brust bis zur Magengegend entblößt haben sollen. Katharina Emmerick hatte offenbar eine pyknoleptische Absence, die in Verkennung des Krankheitsbildes als religiöse „Ekstase“ interpretiert wurde. Pyknoleptiker vermögen ihre Absencen durch verstärkte Atmung (Hyperventilation) zu provozieren und dadurch selber auszulösen. Der Verdacht, daß Katharina Emmerick ein Interesse daran hatte, ihre Sache an die Öffentlichkeit zu bringen, liegt nahe.

Auch die Brustwunde erschien nicht unerwartet. Bereits in der Zeit, als Katharina Emmerick auf einem Bauernhof als Magd arbeitete, also im Alter zwischen zwölf und fünfzehn Jahren, „betete sie in heißer Sehnsucht zum Herrn, er möge sein Kreuz ihrem Herzen einprägen“, damit sie niemals auf sein Leiden vergäße. „Immer tiefer prägte sich diese Andacht in ihre Seele ein, so daß ihr gewöhnliches Gebet die Betrachtung des Leidens Christi war. Und all ihr Denken hatte das eine Ziel: Verähnlichung ihrer Seele mit Jesu dem Gekreuzigten“ (148).

Etwas genauer wird die Brustwunde in einer 1814 von Bernhard Overberg verfaßten Schrift geschildert: „Am Fest des heiligen Augustinus (28. August 1812) bekam sie auf dem unteren Teile der Brust eine Blase, welche die Form eines Kreuzes hatte, sehr häufig Wasser von sich gab und die Empfindung machte als wenn ihr, wie sie sagte, Feuer auf die Brust träufle“ (149).

Es handelt sich bei diesem Mal um eine typische Erscheinung. „Das Stigma als Exkoriation entwickelt sich in typischer Weise derart, daß es zunächst zum Aufschießen eines weißlichen, mit seröser Flüssigkeit gefüllten Epidermisbläschens kommt. Alsbald wird der Blaseninhalt zunehmend blutig. ... Die Blase platzt dann infolge der zunehmenden Spannung auf, der Inhalt fließt aus, und von dem im Bereich der Blasenbasis freiliegenden Corium tropft mehr oder weniger reichlich Blut“ (150 ). Wiederum sei erwähnt, daß es sich bei solchen Dingen um zwar seltene, aber rein natürliche Vorgänge handelt.

3. Doppelkreuz auf der Brust

Im selben Jahr 1812, am 25. November, dem Fest der hl. Katharina, bekam Katharina Emmerick auch „am oberen Teil der Brust ein weiteres kreuzförmiges Mal, das sich zu Weihnachten verdoppelte“ (151). Das Mal zeigte sich, als Anna Katharina „mit ausgebreiteten Armen in ekstatischer Erstarrung“ betete. Plötzlich nahte sich ihr „dieselbe Erscheinung“ wie am 28. August. Christus reichte ihr ein kleines, etwa drei Zoll hohes Kreuz von der Gestalt eines Y dar (152). Das „blutige Kreuzzeichen auf dem Brustbein“ hatte „die Gestalt des Coesfelder Kreuzes mit schrägen Armen und zugleich des lateinischen Kreuzes mit einem geraden Balken“. Die Art des Kreuzes erklärt dessen Entstehungsursache. Katharina Emmerick „hatte von Jugend an vor dem Kreuze gebetet, Gott möge sein heiliges Kreuz in ihr Herz drücken, damit sie seine Liebe nicht vergäße“ (153). Die Form des Kreuzes auf der Brust erschien genau in der Gestalt des Kreuzes, vor dem Anna Katharina ihre Andacht zu verrichten pflegte. Der Zusammenhang zwischen Geist und Leib ist klar.

Wir haben gehört, wie die Öffentlichkeit sehr bald auf das Brustmal aufmerksam wurde; dies geschah, als Katharina Emmerick in einer Kirche „ohnmächtig“ wurde. Auch von dem neuen Mal erfuhr die Umgebung der Stigmatisierten alsbald; Anna Katharina selber sorgte dafür. „Einige Tage“ nach dem Fest der hl. Katharina besuchte Klara Söntgen ihre Freundin. Als sich die Besucherin über die Aufhebung ihres Klosters beklagte, wurde sie von Anna Katharina mit den Worten „aufgeheitert“: „Ach, mir ist etwas Wunderbares begegnet; ich will es mal sagen, aber niemand darf es wissen. Ich habe zwei Kreuze untereinander auf der Brust bekommen.“ Nach diesen Worten entblößte sie ihre Brust. Die Male „schienen dunkelrot durch die Haut beinahe in Form des Coesfelder Kreuzes“ (154). In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf: Wie kommt Anna Katharina dazu, ihre Freundin dadurch „aufzuheitern“, daß sie ihre Wundmale herzeigt?

Katharina Emmerick hatte also auf der Brust zwei Male; das erste zeigte sich am 28. August 1812 „auf dem unteren Teile ihrer Brust“ als „Blase, welche die Form eines Kreuzes hatte“. Dazu kam am 25. November „auf dem oberen Teile der Brust ein blutiges Kreuz, welches am Weihnachtsfest verdoppelt wurde“ (155).

4. Hand-, Fuß- und Seitenwunde

Die eigentliche „Stigmatisierung“ soll im Jahr 1812, vier Tage nach dem Weihnachtsfest, am 29. Dezember, eingetreten sein, Katharina Emmerick erzählt: „Es geschah in der Stube Roters, etwa um drei Uhr nachmittags. Ich hatte eine Betrachtung der Leiden Christi und flehte ihn an, mich doch sein Leiden auch mitempfinden zu lassen, und betete fünf Vaterunser zu Ehren der heiligen fünf Wunden. Ich kam, mit ausgebreiteten Armen im Bette liegend, in eine große Süßigkeit und einen großen Durst nach den Schmerzen Jesu. Da sah ich ein Leuchten über mich niederkommen, es kam schräg von oben. Es war ein gekreuzigter Körper, ganz lebendig und durchscheinend, mit ausgebreiteten Armen, aber ohne Kreuz. Die Wunden leuchteten heller als der Körper, sie waren fünf Glorienkreise, aus der ganzen Glorie hervortretend. Ich war ganz entzückt und mein Herz war mit großem Schmerze und doch mit Süßigkeit vor Verlangen nach dem Mitleiden der Schmerzen meines Heilandes bewegt. Und indem mein Verlangen nach dem Leiden des Erlösers im Anblick seiner Hände, Seite und Füße nach seinen heiligen Wunden hinflehte, stürzten zuerst aus den Händen, dann aus der Seite, dann aus den Füßen des Bildes dreifache leuchtende rote Strahlen, unten in einem Pfeile sich endend, mir nach Wänden, Seite und Füßen. Ich lag lange so, ohne etwas um mich zu wissen, bis mir von einem Mädchen der Hauswirtin, welche zufällig in die Stube gekommen war, die Arme niedergebeugt wurden. Das Mädchen erzählte dann den Seinigen, ich hätte mir die Hände blutig geschlagen. Ich bat die Leute zu schweigen“ (156).

Zu den zwei Malen auf dem oberen und unteren Teil der Brust trat also am 29. Dezember 1812 noch ein drittes Zeichen, die „Seitenwunde“ (157) . Die zeitlichen Angaben über den Empfang der Wundmale stimmen nicht überein. Das eine Mal erklärt Katharina Emmerick, sie habe die fünf Male an Wänden und Füßen sowie an der Seite am 29. Dezember 1812 erhalten 158) ; das andere Mal versichert sie davon abweichend, sie habe die Wunden an den Händen und Füßen „etwas vor Neujahr des laufenden Jahres“, die Wunde an der Seite „einige Tage später“ bekommen (159).

Auch diese Male hatten wie die anderen ihre lange Vorgeschichte. Bereits im Jahr 1807 kündigten sich die Wunden an. Damals war Katharina Emmerick gerade zu Besuch bei ihren Eltern. Während sie vor dem Coesfelder Kreuz in der St. Lambertikirche betete, fühlte sie zum erstenmal die „Wundschmerzen an Händen und Fäßen“ (169). Ihr Gebet damals hatte zum Inhalt „Gottes Erbarmen über sich und ihr Kloster“. „Dabei bot sie sich ihrem Blutbräutigam zur Sühne an und bat ihn, er möchte sie doch seine Leiden mitempfinden lassen“ (161) „Seit diesem Gebet fühlte sie ein stetes Brennen und Schmerzen in den Wänden und Füßen, und wie in einem ununterbrochenen Fieber, für dessen Folge sie jene Schmerzen hielt“ (162)

Die Wundmale, sagt Dr. Brieger, empfing Anna Katharina, ohne daß sie sich selbst dessen anfänglich bewußt wird' (163). Die Worte aber, mit denen sie das Erlebnis schildert, lauten so, daß man an ein bewußtes Erleben denken muß.

Am 22. März 1813 wurde Katharina Emmerick durch eine Ärztekommission eidlich vernommen. Auf die erste Frage, woher das Kreuz auf der Brust stamme, gab sie die Antwort: „Das kann ich nicht sagen, ich weiß es selbst nicht, woher.“ Ähnlich lautete die Auskunft auf die zweite Frage, woher die Wunden an den Wänden und Füßen und an der rechten Seite kämen: „Da kann ich auch nicht mehr sagen als das vorige“ (164) . Es fällt auf, daß die verschiedenen Berichterstatter nicht übereinstimmen. Würden diese Unstimmigkeiten lediglich darauf zurückgehen, daß die Biographen bloß aus dem Gedächtnis zitierten oder auf die Berichte anderer sich stützten, wäre die Sache verständlich; aber es werden ja wörtliche Aussagen der Stigmatisierten angeführt, und diese lauten ganz anders als die eidliche Versicherung. Katharina Emmerick wußte doch beispielsweise anzugeben, daß ein „leuchtender Jüngling mit einem Kreuzzeichen aus weißem Wachs ein wundes Kreuzzeichen auf den Leib in der Nähe des Herzens“ gedrückt habe. Sie selber schildert doch auch eingehend, wie sie die weiteren Wunden am 29. Dezember 1812 bekam.

5. Schulterwunde

Schon frühzeitig verspürte Katharina Emmerick die Schmerzen einer Schulterwunde; ein sichtbares Zeichen war allerdings nie zu sehen. P. Wegener schreibt: „Sie hatte von Jugend auf die Schulterwunde des Herrn, welche ihm das Tragen des Kreuzes verursacht hat, verehrt. Sie erhielt auch später die Offenbarung, daß diese ihm außerordentliche Schmerzen verursacht habe, weshalb ihre Verehrung ihm sehr lieb sei“ (165). Um 1800 erzählte Anna Katharina einer ihrer Freundinnen, „daß sie eine besondere Andacht zu den heiligen fünf Wunden hätte und zu den drei Wunden, die Christus auf der Schulter gehabt, weil diese unter andern ihn am meisten geschmerzt“ (166). Solches erfuhr sie, wie sie versichert, in einer Vision; sie erzählt: „Als ich noch im Kloster war, hat der Heiland einmal mir geoffenbart, daß die Schulterwunde, an welche so wenig gedacht würde, ihm sehr große Schmerzen verursacht habe, und daß es ihm so lieb sei, wenn man sie verehrt, als es ihm würde gewesen sein, wenn ihm damals, als er das Kreuz trug, jemand aus Mitleiden dasselbe abgenommen hätte, um es für ihn nach dem Kalvarienberg zu tragen“ (167).

6. Entwicklung der Wundmale

“Anfangs bluteten alle Zeichen fast an jedem Tag, dann beschränkte sich die Blutung der Dornenkrone und der fünf Wunden auf die Freitage und die der Brustkreuze auf die Mittwoche; außerdem aber bluteten alle an den besonderen Gedächtnistagen des Leidens und des Kreuzes des Herrn im Kirchenjahr. Die Blutungen waren sehr stark, daß sie unter der Kopfbinde wie Strahlen auf ihr Gesicht niederrannen und aus den anderen Wunden mehrfach Kleidung oder mehrfach gefaltetes Leinen durchdrangen (168).

Im Jahr 1816 waren offenbar die Blutungen geringer als in den vorausgegangenen Jahren. Am meisten sonderten die „Male der Dornenkrone“ Blut aus. Hier empfand Anna Katharina auch die „empfindlichsten Schmerzen“. Sie fühlte die Dornenkrone „breit und schwer ihr Haupt umgeben. Ihre Haare waren gleichsam Dornen und sie vermochte nicht ohne die heftigsten Schmerzen ihren Kopf an ein Kissen zu lehnen. Die Peinen nahm sie wahr um Stirn, Schläfen und Augen bis hinab in die Mundhöhle und den Schlund; so sah sie ja auch bei der Dornenkränung Christi einen langen Dorn in seine Mundhöhle dringen“ (169 ). Gerade diese letzte Angabe beweist, wie wenig all das mit dem wirklichen geschichtlichen Ablauf am Karfreitag zu tun hat.

An manchen Tagen, zum Beispiel am Karfreitag 1817, bluteten sämtliche Wunden sehr stark (170). Im Jahr 1818 werden die Stigmen als sehr schmerzempfindlich bezeichnet. Aber um Weihnachten desselben Jahres bluteten die Wundmale nicht mehr; sie vertrockneten und am 28. Dezember waren „die Wundkrusten abgefallen“. Im Jahr 1819 verloren sich die „äußeren Zeichen der Wundmäle weitgehend, die Blutungen hörten fast ganz auf“ (171).

Auch P. Wegener berichtet, „seit Ende 1818“ hätten sich die Wunden an den Händen und Füßen geschlossen; „die anderen, durch die Kleidung verdeckten Male der Seite, der Brustkreuze und der Dornenkrone“ seien „in ihrem Verhalten verblieben wie früher“. Die Rückbildung der sichtbaren Wundmale führt Wegener auf „das schon seit sechs Jahren beständige Gebet der Dulderin“ zurück, der Herr möge ihr die äußeren Zeichen der Stigmatisation nehmen. Demnach müßte Katharina Emmerick von Anfang an um das Verschwinden der Wundmale gebetet haben. In den Jahren 1818 und 1820 bluteten die Hand- und Fußstigmen nicht, mit einer einzigen Ausnahme; „an den Karfreitagen der folgenden Jahre brachen auch die Hand- und Fußmale wieder auf und bluteten, um sich am folgenden Tag wieder zu schließen“ (172).

Am Karfreitag des Jahres 1821, dem 20. April, trat ein überraschendes Ereignis ein. Anna Katharina wurde wider Erwarten nicht krank; seit sie die Wundmale besaß, war dies nie der Fall gewesen. Sie blutete auch nicht am Karfreitag an den Händen und Füßen, „und die vor einigen Tagen noch sehr sichtbaren Male waren wie ganz verschwunden. Sie konnte dies nicht begreifen, und siehe da!: Der Bürgermeister kam in der Minute, als sie Christum ans Kreuz geschlagen sah, nach seinem Ausspruch auf höhere Ordre, glatt, kalt, lauernd, treulos, höflich, gaffte und fragte und ging“ (173) . Hier wird man an einen Fall aus dem Leben der stigmatisierten Hemma Galgani erinnert. Der zuständige Bischof Volpi hatte eine Untersuchung durch einen Arzt angeordnet. „Aber als dieser kam, waren sofort alle Phänomene verschwunden“ (174). Wer kann glauben, daß Gott die Stigmen habe verschwinden lassen, damit man ihre Echtheit nicht nachprüfen konnte? Außerdem waren ja bei Katharina Emmerick schon einmal, nämlich im Jahre 1818, die Wunden verschwunden, ohne daß ein neugieriger Bürgermeister schuld daran war.

Im Buch „Im Banne des Kreuzes“ liest man, Katharina Emmerick habe „beim Empfang der Male keine Erscheinung“ gehabt. Sie selber sei zu dieser Zeit nach ihren eigenen Angaben „in besonderen Leiden“ gewesen. „Diese ganz bestimmten Angaben“, so wird gefolgert, gäben zu erkennen, daß die Berichte, welche von besonderen Offenbarungen oder Erscheinungen beim Empfang der Male redeten, nicht der Wirklichkeit entsprächen. Die Schuld an der falschen Berichterstattung wird Clemens Brentano zugeschoben (175). Dies ist jedoch offensichtlich nicht richtig. Als Termin für den „Empfang der Male“ wird offenbar allein die Stigmenbildung nach dem Weihnachtsfest 1812 angesehen. Katharina Emmerick hatte jedoch bereits vorher die Male auf der Brust eimpfangen; damals war sie den Berichten entsprechend nicht krank. Außerdem hatte sie an den verschiedenen Terminen, als sie die Stigmen erhielt, tatsächlich „Erscheinungen“, auch Ende 1812.

So geschah es um das Jahr 1799, als ihr die „Dornenkrone“ aufs Haupt gesetzt wurde. Als sie „ganz in Betrachtung versunken war“, trat nach ihrer eigenen Erzählung ihr „himmlischer Bräutigam in Gestalt eines leuchtenden Jünglings“ vor sie hin und bot ihr an, zwischen einem Blumenkranz und einer Dornenkrone zu wählen. Jesus setzte ihr die Dornenkrone auf den Kopf und verschwand dann (176).

Ähnliches ereignete sich am 28. August 1812, als Katharina Emmerick die Brustwunde erhielt. Während sie betete, nahte sich ihr plötzlich der „Heiland in Gestalt eines leuchtenden Jünglings; er drückte ihr mit einem Kreuzzeichen aus weißem Wachs ein wundes Kreuzzeichen auf den Leib“ (177).

Fast denselben Verlauf nahm die Erscheinung am 25. November 1812. Während Anna Katharina „mit ausgebreiteten Armen in ekstatischer Erstarrung betete, erschien ihr wiederum aus der Höhe, von der rechten Seite kommend“ ihr „himmlischer Bräutigam“ in Gestalt eines „leuchtenden Jünglings“ und „überreichte“ ihr ein Y-förmiges Kreuz (178).

Auch die letzte Stigmatisation Ende 1812 war von einer „Erscheinung“ begleitet. Katharina Emmerick erzählt dies selber: „Ich hatte eine Betrachtung der Leiden Christi und flehte ihn an, mich doch auch sein Leiden empfinden zu lassen. ... Da sah ich ein Leuchten auf mich niederkommen, es kam schräg von oben. Es war ein gekreuzigter Körper, ganz lebendig und durchscheinend, mit ausgebreiteten Armen, aber ohne Kreuz. Die Wunden leuchteten heller als der Körper, sie waren fünf Glorienkreiselt (179). Die Beschreibung der „strahlenden Erscheinung“ erinnert an Erkrankungen des epileptischen Formenkreises, bei denen es ebenfalls Anfallsgeschehen mit einer „Aura“ gibt, das heißt optische Wahrnehmungen von unbeschreiblich hellen Lichteffekten, die auch die Gestalt oder den Schatten einer Person zum Inhalt haben können.

Als Katharina Emmerick die unsichtbare Schulterwunde verliehen wurde, war das Ereignis ebenfalls mit einer „Erscheinung“ verbunden. In einer „Vision“ offenbarte ihr nämlich Jesus unter anderem sein Verlangen, daß man seine Schulterwunde verehren (180) möge

Es ist demnach so, daß jedesmal das Auftreten von Wunden mit einer Erscheinung verbunden war. Kein Grund ist ersichtlich, weshalb man die Angaben der Katharina Emerick als Falschmeldungen des Clemens Brentano hinstellen sollte.

7. Untersuchung der Wunden

Im März des Jahres 1813 wurden die „Malzeichen“ zum erstenmal untersucht. Das am 22. März abgeschlossene Protokoll, das von Dechant Rensing und Dr. Wesener aufgenommen wurde, gibt darüber Aufschluß: „Auf dem Rücken beider Hände bemerkten wir Krusten eines geronnenen Geblütes von der Größe eines Zweigroschenstückes, unter diesem war die Haut wund. In der Fläche beider Hände waren ebensolche Blutkrusten, nur kleiner, und die Haut unter ihnen ebenfalls 'wund. Dieselben Blutkrusten fanden wir auf dem Rücken der Füße und in der Mitte der Fußsohlen. Diese Krusten schmerzten bei der Berührung und die am rechten Fuße hatte noch vor kurzem geblutet. In der rechten Seite sahen wir ungefähr auf der vierten wahren Rippe, von unten gezählt, eine Wunde von etwa drei Zoll in der Länge, wie mit einer Nadel mehrere Male nebeneinander geritzt. Auf dem Brustbein sahen wir ebensolche geritzte Striche, die ein Gabelkreuz bildeten. Eben über dem Nabel aber sahen wir ein gewöhnliches Kreuz von halbzollbreiten Strichen. Am oberen Teil der Stirne sahen wir viele Punkte wie Nadelstiche, die bis in die Haare auf beiden Seiten gingen. In dem Tuche, welches sie um die Stirne trug, sahen wir blutige Punkte“ (181)'

Dr. Krauthausen schildert seine Beobachtung so: „Ich sah auf dem Rücken beider Hände und Füße eine ovale Wunde, ungefähr einen halben Zoll lang, die Wunden aber in den Flächen beider Hände und in den Fußsohlen waren kleiner; jedoch drangen alle bis in die Fetthaut; sie waren rein, die Peripherie aber etwas entzündet, aber es war kein Eiter darin zu bemerken“ (182).

Ein andermal wusch der Arzt nach einer starken Blutung des Kopfes die Stirne der Patientin. Da bemerkte er auf dieser „unzählige kleine Öffnungen, durch welche das Blut auf vielen Punkten von neuem hervorkam“ (183)

Dr. Wesener hat einmal nach einer Blutung das Kreuz auf der Brust abgewaschen, „um die Grundfläche oder den Quell des Blutes zu untersuchen“. Er fand „gar keine Hautwunde, sondern viele dunkelrote Knötchen“, die er für „Blutkügelchen“ hielt, die seiner Vermutung nach „in den Mündungen der aushauchenden Gefäße“ steckten (184).

Weiter gibt Dr. Wesener an: „An der Stirn und rund um den Kopf, wo das Blut in Form einer Krone hervorkam, konnte ich nach völlig beendeter Blutung nichts mehr sehen, alles hatte die natürliche Hautfarbe, während das Kreuz auf dem Brustbein und auch das Seitenmal auch im untätigen Zustande längliche Furchen zurückließen, die größte Ähnlichkeit mit den natürlichen Furchen in den Händen hatten. Die Male an den Wänden und Füßen waren wirkliche Wunden, sie drangen aber nur bis in die Fetthaut, und ich hatte mit der Lupe im Sonnenlichte, nachdem ich die Blutkruste losgeweicht und eine Wunde auf dem Rücken der Hand ausgewaschen hatte, die feinen Fettklümpchen in den Zellen deutlich liegen sehen“ (185)

Dechant Rensing betont: „Das Kreuz und die Seitenwunde liegen, nach dem Zeugnis der Ärzte, in der gar nicht verletzten Haut, und das Blut dringt daraus hervor wie der Schweiß aus den. Schweißlöchern“ (186).

Im Juni 1815 erwogen kirchliche Kreise den Plan, Katharina Emmerick neuerdings überwachen und untersuchen zu lassen; zu diesem Zweck wollte man sie nach Münster transportieren. Rensing äußerte sich: „Ich bleibe mit allen Gutgesinnten bei dem Wunsche, daß eine neue, bis auf den Grund durchgreifende Untersuchung vorgenommen werden möge“. Katharina Emmerick aber erklärte, sie würde sich nicht freiwillig fortbringen lassen (187).

Im Jahr 1818 kam es zur „staatlichen Untersuchung“. Katharina Emmerick wurde gegen ihren Willen am 7. August in das Haus des Hofkammerrates Mersmann zu Dülmen gebracht, wo sie wiederholt untersucht und verhört wurde. Der Versuch, aus ihr ein Betrugsgeständnis herauszupressen, mißlang. Die Untersuchung und Bewachung dauerte bis zum 29. August. An diesem Tag kehrte die Kranke in ihre frühere Wohnung zurück (188).

8. Blutungen

Dr. Wesener beschreibt den Hergang der Blutungen, wie er ihn „hundertfältig beobachtet und mit einer Lupe untersucht hatte“: „Kurz vor dem Bluterguß bemerkte man eine Turgeszenz (Anschwellung) in den Hautgefäßen, es entstand ein roter Hof um die Stellen auf den Rücken der Hände und Füße. Wenn die Kranke bei sich war, so zuckte sie und wand sich oft vor dem heftigen Stechen, welches sie jetzt in den Malen empfand. Nun hob sich die Kruste und ich sah eine seröse Feuchtigkeit hervorquellen, der röteres und röteres und endlich ganz dunkelrotes, klebriges Blut nachfolgte“ (189).

Den Verlauf der Blutungen hat auch Overberg beschrieben. An einem Freitagmorgen gegen 9 Uhr beobachtet er: „Da begannen die Male auf den Händen aufzuschwellen und dadurch anzudeuten, daß sie bluten würden“. Alle Wunden bluteten an diesem Tage ziemlich stark. Das Brustkreuz blutete nicht, es war aber „hochgerötet“. Diese Röte pflegte immer zu erfolgen, wenn keine Blutung eintrat (190).

Ein anderes Mal, an einem Donnerstag, bat Overberg Katharina Emmerick, sie möchte ihn auf jede Veränderung an den Malen aufmerksam machen. Bald nach Mittag bekam sie „große Hitze und Schmerzen in den Hand- und Fußwunden; inwendig waren die Hände heiß anzufühlen“. Um 16 Uhr machte die Kranke darauf aufmerksam, „daß die Hände zu schwellen begannen“. Je später es gegen Abend ging, „desto mehr nahmen der Brand und die Schmerzen zu“.

An einem Freitag, dem 9. Juni, brachte Overberg der Kranken die hl. Kommunion und blieb bei ihr bis zum Mittag. Die Schmerzen in den Händen steigerten sich. Als Overberg gegen 11 Uhr die Wände betrachtete, „waren die Wundmale aufgeschwollen und auf der einen Hand war ein Blutstropfen halb durchgedrungen“. Nachmittags um 16 Uhr war auch auf der anderen Hand ein Blutstropfen. Die Kranke klagte über heftige Kopfschmerzen. Die Brust- und Seitenmale bluteten nicht, die Wunden waren aber „rot“ geworden (191).

9. Blutungstage

Eine Regelmäßigkeit hinsichtlich der Tage und Stunden, an denen die Wunden bluteten, läßt sich nicht feststellen. Dr. Wesener berichtete einige Jahre nach dem ersten Auftreten der Wundmale in einem Rückblick: „Im ersten Jahr nach meiner Bekanntschaft (1813) bluteten die Hand- und Fußmale meistens alle Nachmittage zwischen 3 und 5 Uhr. Das doppelte Kreuz auf dem Brustbein blutete aber meistens nur an Mittwochen, das Seitenmal und der Kopf endlich nur am Freitag“ 192) .

Bereits im Herbst 1813 bluteten die Male an den Händen und Füßen nur noch jeweils am Freitag. „Am Ende des Jahres 1816 wurden die Blutungen geringer.“ In einem Bericht Dr. Weseners heißt es: „Zwei Tage der Woche zeichneten sich bedeutend aus. Dies waren der Mittwoch, wo auf dem Brustbein in der Form eines doppelten Kreuzes Serum, welches sich röter und röter färbte, hervorschwitzte, und zweitens der Freitag, wo die Male Blut ergossen.“ Im Februar des Jahres 1814 blieb die Stelle auf dem Brustbein, die sonst regelmäßig Blut absonderte, trocken; sie blutete aber am Freitag mit den anderen Wundstellen. Das Jahr 1815 brachte keine wesentliche Änderung. Sehr starke Blutungen wechselten von Zeit zu Zeit mit weniger starken und schwachen ab. Am 7. Juli bemerkte Dr. Wesener: „Die Hand- und Fußmale schwitzten seröses Blut aus; der Kopf blutete gar nicht merkbar.“ Nur ganz selten bluteten alle Wundzeichen gleichzeitig.

Im Jahr 1816 zeigten sich lediglich am Kopf stärkere Blutungen. Die übrigen Male bluteten „oft nur sehr schwach und kaum merklich“. Am Samstag, dem 28. Dezember, dagegen bluteten die Fußwunden sehr stark. Von den Brustwunden sagt Dr. Wesener: „Das Doppelkreuz auf dem Brustbein färbt sich für gewöhnlich des Freitags um Mittag und erscheint feurig rot; die Kranke wird dann sehr still und matt, gegen 4 oder 5 Uhr verliert sich diese Röte allgemach und die Kranke erholt sich auch wieder.“

Am 24. Januar 1817 notierte Dr. Wesener: „Die Wunden bluteten wie gewöhnlich kaum merklich. Die Kranke hoffte am vorigen Freitag, daß die Male nun versiegen und heilen würden. Dieses ist aber für heute noch vereitelt.“ Ja, am Karfreitag bluteten alle Wunden wieder sehr stark; die Kranke litt „schreckliche Schmerzen“.

Über das weitere Verhalten der Wundmale schreibt Dr. Wesener: „Am Schluß des Jahres 1818 ereignete sich noch eine merkwürdige Veränderung in den Erscheinungen an der Kranken; denn um Weihnachten dieses Jahres blieben an einem Freitage alle Male an Händen und Füßen, welche nun über 6 Jahre regelmäßig alle Freitage mit Ausnahme von etwa 5 oder 6 Freitagen in dieser ganzen Zeit geblutet hatten, trocken. Nach 2 oder 3 Tagen fiel der auf dem Rücken der Hände klebende eingetrocknete Cruor (Blut) ab und man sah an dem Ort dieser Male eine mit einer sehr zarten Haut bedeckte linsengroße Stelle. Die von Zeit zu Zeit von selbst entstehenden Schmerzen und eine außerordentliche Empfindlichkeit behielt sie indessen bis auf den letzten Tag meiner Beobachtung (August 1819) an diesen Stellen. Die Kranke war sehr froh über das Verschwinden dieser äußeren Zeichen.“ Erhalten blieben aber die Blutungen des Brustkreuzes, des Kopfes und des Seitenmales. Am Karfreitag allerdings traten die Handund Fußmale wieder in Tätigkeit. Dr. Wesener notierte: „Die Male an den Händen und Füßen sind wieder aufgegangen. Ich fand sie morgens gegen 10 Uhr gerade bluten. Die Kranke zeigte es mir mit Betrübnis und bat mich, es geheim zu halten.“ Sonst aber bluteten die früheren Male nicht mehr. Erst am 3. November ngtiert Dr. Wesener wieder: „Heute abend bemerkte ich auf dem Rükken beider Füße einen kleinen länglichen, gelbbräunlichen Schorf wie von eingetrockneter Lymphe. Um diesen Schorf zeigte die Oberhaut einen strahlenförmigen Bau. In den Fußsohlen und in den Händen aber war nichts zu sehen.“

In den drei letzten Lebensjahren hörte das Bluten „fast ganz“ auf. Nur jeweils am Karfreitag schwitzte Anna Katharina während ihrer Schauungen „aus Angst und Entsetzen aus allen Malen und am Kopf Blut“. Dies geschah aber nicht mehr am Karfreitag 1823 (193).

10. Beurteilung

Dr. Wesener beruft sich auf das Urteil anderer Ärzte über die Wundmale der Anna Katharina Emmerick: „Sie sagen, es sei unmöglich, solche Wunden im gleichen Zustand durch Kunst zu erhalten, da sie weder eitern, noch auch sich entzünden noch heilen“ (194). Das stimmt offensichtlich nicht; denn in den letzten Tagen des Jahres 1818 sind ja die Wundmale eingetrocknet und die Wundkrusten abgefallen. Für das Jahr 1819 wird festgestellt: „Die äußeren Zeichen der Wundmale verlieren sich weitgehend, die Blutungen hören fast ganz auf“ (195). Auch daß die Wunden nie eiterten, stimmt offenbar nicht. Anton Brieger bringt eine Beschreibung der Wunden, welche am 4. April 1813 die zwei Ärzte Dr. Wesener und Dr. Krauthausen gemacht haben. Sie lautet: „Wir beschrieben ihre Wunden und stellten ihren von anderen Wunden abweichenden Charakter dar. Krauthausen nahm den Verband von der rechten Hand ab, und es zeigte sich die Wunde auf dem Rücken der Hand ganz rein und deutlich als allein in die Fetthaut eindringend. In der Kompresse war eine Spur von Eiter. In der Handfläche war die Wunde trocken, mit trockenem Blut bedeckt. Die anderen Wunden waren ebenso, nur in der rechten Fußfläche etwas mehr Eiter, so daß bei einigem Druck sich zwei Tropfen weissen Eiters von guter Beschaffenheit zeigten“ (196). Also um ein wunderbares Ereignis handelt es sich bei den Wundmalen bestimmt nicht.

Daß bei Stigmen eine gewisse Gesetzmäßigkeit vorliegt, zeigt ein Vergleich mit P. Pio von Pietrelcina. Ähnlich wie bei Katharina Emmerick haben sich auch bei ihm die Wunden in den letzten Lebensjahren zurückgebildet, bis sie schließlich vollkommen, ohne Narben zu hinterlassen, verschwunden sind. Die Wunden konnten demnach nicht tief gewesen sein.

Eine andere Gesetzmäßigkeit zeigt sich dain, daß jeweils vor dem Auftreten der sichtbaren Male an den bestimmten Stellen Schmerzen empfunden werden.

Eine weitere Parallele besteht zwischen der Stigmenbildung und dem Inhalt der vorausgegangenen innigen Betrachtung. Diese hatte sich bei Katharina Emmerick vor der Stigmatisation regelmäßig auf die Wunden Jesu konzentriert. Die Dornenkrone wurde ihr „aufgedrückt“, während sie vor einem Kreuz in Betrachtung versunken war. Bereits von früher Jugend an betete sie „in heißer Sehnsucht zum Herrn, er möge sein Kreuz ihrem Herzen einprägen“. „Ihr gewöhnliches Gebet war das Leiden Christi.“

Den Einfluß von Suggestion erkennt man ganz deutlich in der Form des Kreuzes auf der Brust, das die Gestalt des „Coesfelder Kreuzes“ zeigte. Die Schmerzen an den Händen und Füßen empfand Katharina Emmerick wiederum erstmals, als sie vor dem Coesfelder Kreuz betete. Damals bat sie Christus, er möge sie „seine Leiden mitempfinden lassen“. Die sichtbaren Male traten dann auf, als Anna Katharina gerade das Leiden Christi betrachtete; dabei bat sie wiederum Jesus, „er möge sie sein Leiden mitempfinden lassen“. Sie bekam die Male, als sie dabei war, fünf Vaterunser zu Ehren der fünf Wunden Jesu zu beten.

Katharina Emmerick erhielt zwar kein sichtbares Mal auf der Schulter, aber die entsprechenden Schmerzen spürte sie. Dies war eine Folge davon, daß sie „von Jugend auf“ die Schulterwunde des Herrn verehrt hat.

Es besteht bei Katharina Emmerick kein Grund zur Annahme, daß sie Wundmale durch absichtliches eigenes Zutun erzeugt oder zum Bluten gebracht hat. Wenn Betrug ausgeschlossen erscheint, heißt dies noch lange nicht, daß die Stigmatisation eine übernatürliche Verursachung haben müsse.

In den Veröffentlichungen wird regelmäßig betont, wie sehr Katharina Emmerick darauf bedacht war, daß niemand von ihren Malen etwas erfahre. Den Empfang der fünf Wunden Ende 1812, so wird behauptet, habe sie „mehr als zwei Monate“ geheimzuhalten vermocht. „Durch bloßen Zufall“ soll dann eine frühere Mitschwester „die seltsame Erscheinung“ entdeckt haben (197). mit derlei Behauptungen wird freilich bloß ein Bild gezeichnet, wie man es gerne haben möchte. In Wirklichkeit war Katharina Emmerick gar nicht so sehr auf die Wahrung ihrer Geheimnisse bedacht.

Am selben Tag noch, als sie auf dem Kopf die Schmerzen der Dornenkrone verspürte, hat sie ihre Freundin Klara Söntgen eingeweiht. Kurze Zeit nach Empfang des „Magenkreuzes“ wurde sie in einem Gotteshaus „ohnmächtig“; bei dieser Gelegenheit entdeckten Kirchenbesucher die Wunde, und zwar kaum gegen den Willen der „Ohnmächtigen“. „Einige Tage“ nachdem das Doppelkreuz auf der Brust erschienen war, zeigte sie dieses ihrer Freundin Klara Söntgen. Am 29. Dezember 1812 schließlich stellten sich die „fünf Wund6n“ ein; noch am selben Tag wurde eine Tochter der Hauswirtin „zufällig“ darauf aufmerksam. Zugleich wird aber betont, diese Wunden seien erstmals „durch bloßen Zufall“ am 28. Februar 1813 von Klara Söntgen entdeckt worden. Wie kann dies aber stimmen, wenn P. Limberg, der Beichtvater der Stigmatisierten, die Bemerkung niederschreiben konnte, er habe die „blutenden Wundmale zuerst am 31. Dezember 1812 nach seiner heiligen Messe“ bemerkt? Zudem weihte P. Limberg noch am selben Tag Abbé Lambert ein (198).

Im Buch „Im Banne des Kreuzes“ wird so argumentiert: „Emmerick betont ausdrücklich, daß bei ihrer Sehnsucht nach Leidensverähnlichung mit Christus niemals der Wunsch in ihr aufgetaucht sei, durch äußere Male ihm ähnlich zu werden. Das Wesentliche in ihrer Sehnsucht war das Mitfühlen der Schmerzen des leidenden Erlösers und so blieb es auch nach dem Empfang der blutenden Male. Diese Konstatierung ist sehr wichtig. Anna Katharina wurde beim Empfang der blutenden Male auch nicht durch ein äußeres Ereignis, eine Vision oder Offenbarung, besonders beeinflußt“ (199). Ob man das, was den Angaben der Katharina Emmerick entsprechend beim Empfang der blutenden Male geschehen ist, als Vision oder Offenbarung bezeichnen will, ist nebensächlich; jedenfalls wird jeweils ein solches „Ereignis“ erwähnt, wie wir gesehen haben. Auch das andere Argument, Katharina Emmerick habe niemals den Wunsch nach sichtbaren Wundmalen gehabt, bedeutet nichts. Entscheidend ist der suggestive Einfluß, der aus ihrer ganzen Lebenshaltung ausgegangen ist; „die Sehnsucht nach Leidensverähnlichung“ führte eben zu den äußeren Malen.

Gefragt über die ersten Eindrücke nach dem Empfang der Wundschmerzen, antwortete Katharina Emmerick, sie habe gemeint, „ein beständiges Fieber zu haben, wovon der Schmerz herkäme“. Oft sei ihr auch der Gedanke gekommen, „daß es wohl Erhörung ihrer Bitte sein sollte“. Diesen Gedanken aber habe sie auszuschlagen versucht, weil sie gedacht habe, dieser Gnade sei sie nicht würdig. Sie habe also zunächst nicht gewußt, was die Schmerzen zu bedeuten hätten 200). Mit „Empfang der Wundschmerzen“ sind offenbar die fünf Wunden an den Wänden und Füßen sowie an der Seite gemeint. Die Darstellung Emmericks steht im Widerspruch zu dem wirklichen Geschehen. Daß die Schmerzen eines „beständigen Fiebers“ anders geartet sind als typische lokal begrenzte Schmerzen, das hat sicherlich auch Katharina Emmerick gewußt. Sie hat doch beispielsweise dann, wenn ihre Handwunden schmerzten, gewußt, ja geradezu sehen können, woher der Schmerz kam. Außerdem hatte sie bereits seit vielen vorausgegangenen Jahren ihre „Kopfschmerzen“, die sie selber auf eine „Dornenkrönung“ zurückführte; damals hat sie auch nicht an ein „beständiges Fieber“ gedacht. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den Wunden auf der Brust, die Monate vor der „Stigmatisation“ vorhanden waren. Wir haben gehört, daß Katharina Emmerick behauptete, sie habe ihre Schmerzen als Folge eines „beständigen Fiebers“ angesehen. Genau umgekehrt wird argumentiert, wenn man sagt, seit dem Gebet im Jahr 1807, Jesus möge sie „einen Teil der Marter mitfühlen“ lassen, habe sie „ein stetes Brennen und Schmerzen in den Händen und Füßen“ gefühlt. Sie habe sich „wie in einem ununterbrochenen Fieber“ gefühlt, für dessen Folge sie jene Schmerzen hielt (201). Wenn dann noch Katharina Emmerick selber von „Erhörung ihrer Bitte“ spricht, so gibt sie den richtigen Hinweis an. Als sie 1813 durch eine Kommission eidlich vernommen wurde, lautete eine Frage: „Haben Sie es sich als eine ausgezeichnete Gnade von unserem Heiland erbeten, daß er Sie auch körperlich, d.h. durch seine 5 Wunden ihm ähnlich mache?“ Die Gefragte antwortete mit einem klaren „Ja“. In einer Anmerkung dazu werden beschwichtigend Frage und Antwort als ungenau bezeichnet; es wird gesagt, Katharina Emmerick habe nur um die Wundschmerzen, nie um äußere Zeichen gebetet“ (202). Aber wie soll man sich dann erklären, daß sie angeblich gemeint hat, sie leide an einem „beständigen Fieber“, wenn sie doch die gewünschten Wundschmerzen fühlte? Sie hat doch selber ihren Wunsch eingestanden, daß sie Christus „durch seine 5 Wunden ähnlich werden“ wollte!

In erster Linie geht die Ausbildung von Wundmalen auf eine entsprechende Anlage des betreffenden Menschen zurück, verbunden mit der inneren Einstellung zu dem, was mit der Passion Christi zusammenhängt. Wie Katharina Emmerick selber bekennt, hatte sie „von ihrer Kindheit an immer das Leiden Christi im Kopfe“; bereits als Kind von 6 bis 7 Jahren hat sie „viel an das Leiden Jesu gedacht“; wenn sie allein im Freien beim Hüten des Viehes war, lud es sich „zuweilen ein Stück Holz oder sonst etwas, was es kaum zu tragen fähig war“, auf die Schultern und schleppte es „anstatt des Kreuzes herum“; ihr Bestreben war es, „auch in anderen Stücken unserem leidenden Heiland nachzufolgen“; weilte sie im Kreis anderer Kinder, dann „erzählte sie gerne von Jesu Leidensliebe und Leidensgröße“ (203). Wir können nicht alles, was Katharina Emmerick behauptet hat, als bare Münze hinnehmen; aber die Richtung er Gedanken zeigen ihre erwähnten Worte doch deutlich an. Alles, was wir über sie erfahren, offenbart, daß die Stigmenbildung und was damit zusammenhängt, Dinge sind, die sich im rein natürlichen Bereich abspielen.

Daß Wundmale, wie sie Katharina Emmerick getragen hat, mit Wundern nichts zu tun haben, ist von Fachleuten, die mit der Materie vertraut sind, oft genug nachgewiesen worden. An Betrug braucht bei solchen Dingen nicht ohne weiteres gedacht zu werden, wenn auch ein solcher in nicht wenigen Fällen festgestellt werden konnte. Dabei bleibt häufig die Frage offen, inwieweit sich die betreffenden Personen ihres Betrugs bewußt waren. Es ist auch möglich, daß sich eine Person aus einer Art von Nachahmungstrieb selbst Wunden beibringt, wobei zunächst gar kein Gedanke an eine Irreführung anderer auftaucht. So wird berichtet, daß Maria Margareta Alacoque mit einem Federmesser den Namen Christi über ihrem Herzen eingeritzt hat. Die Wunde war nicht tief; denn bei ihrem Tod konnte man keine Narbe sehen (204).


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Letzte Änderung: 27. Januar 1998