Die stigmatisierte Seherin Anna Katharina Emmerick

VIII. Außerordentliche Gaben

1. Der "himmlische Bräutigam"

Alle außerordentlichen Gaben, an denen Katharina Emmericks Leben so reich war, schrieb sie ihrer vertrauten Verbindung mit Jesus zu. Immer wieder verbreitet sie sich über ihr inniges Verhältnis zu Jesus, den sie als ihren Bräutigam bezeichnet. Ihre "Verlobung" mit dem Jesusknaben fand bereits in ihrem zehnten Lebensjahr statt (353). Später erfolgte dann noch einmal eine Verlobung, und zwar in der Zeit, als sie bei der Näherin in Coesfeld beschäftigt war. In dieser Zeit pflegte sie "einen kindlichen vertrauten Umgang" mit Jesus "in zärtlicher Einfalt". Sie sagt: "Er erschien mir oft, und einmal verlobte ich mich mit ihm in einem Gesichte. Doch weiß ich nicht mehr, ob ich einen Ring erhielt" (354 ). Die "geistliche Hochzeit" vollends mit ihrem "himmlischen Bräutigam" schloß sie bei ihrer Einkleidung im Kloster.

Durch ihren Bräutigam erhielt sie Einsicht und ein Wissen, wie solches im gewöhnlichen Leben nicht zu erlangen wäre. "Mein Bräutigam", sagt sie, "zeigte mir die ungemeine Vermischtheit und innige Unlauterkeit aller Dinge und alle seine Handlungen zur Herstellung von Anfang" (356). Oder ein andermal: "Mein Bräutigam zeigte mir alles das ganz klar und verständlich, klar als man das tägliche Leben sieht" (357)

Wenn sie nirgendwo mehr Trost finden konnte, Gott half ihr. Er tröstete sie: "Gib Dich zufrieden, meine Gnade sei Dir genug! Darum suche künftig keinen Trost mehr bei den Merschen" (358) Oftmals kam es vor, daß ihr in ihrer "höchsten Verlassenheit und Dürre des Gemütes" die Stimme ihres "himmlischen Bräutigams Mut zusprach: "Meine Gnade ist Dir genug!" Solche Worte drangen "unendlich süß und erquickend in die Ohren" (359)

Auch in sichtbarer Gestalt erschien ihr Jesus. Durch seine Ermahnung erreichte er, daß sie auf jede Tanzbelustigung, an de sie sowieso nicht besondere Freude empfand, verzichtete. Wieder holt geschah es, wenn sie sich auf dem Tanzboden befand, daß ihr plötzlich war, als riefe sie ihr "Geliebter draußen". Unter dem Vorwand, es sei ihr nicht wohl, trat sie dann ins Freie und suchte ihren Bräutigam, Sie fand dann auch immer unter den Bäumen ihren "himmlischen Bräutigam, traurig und zürnend und mit ganz entstelltem Antlitz stehen". Er sprach sie vorwurfsvoll an: "Wie treulos bist Du! Wie vergißt Du mich! Wie hast Du mich mißhandelt! Pfui, wie zierst Du Dich! Kennst Du mich nicht mehr?" Aber es gelang Anna Katharina immer wieder, sich mit ihrem Bräutigam zu versöhnen

Im Alter von achtzehn Jahren nahm sie zum letzten Mal an einem Tanz, einer "üblen Lustbarkeit" teil. Sie blieb jedoch nicht lange auf dem Tanzboden. Da ereignete sich, wie sie berichtete, folgendes: "Kaum hatte ich das Stadttor verlassen, um nach Haus zu gehen, als sich eine schöne, wunderbare Frau zu mir gesellte." Anna Katharina wurde von dieser also angesprochen: "Was hast Du getan? Wie lebst Du? Du hast Dich meinem Sohn vermählt und willst nun keinen Anteil mehr an ihm haben!" In diesem Augenblick trat auch der "Jüngling" hinzu, "ganz entstellt und traurig". Er machte Katharina die "bittersten Vorwürfe", weil sie sich "so sündhafter Freude" hingegeben habe. Sie habe es gewagt, als "seine verlobte Braut", indes er leidend auf sie harre, "die Zeit in schlechter Freude" zu verbringen. Er drohte sogar, sie ganz zu verlassen. Nach solcher Rede verließen Jesus und Maria die Treulose. Katharina betont: "Ich war in vollem wachen Bewußtsein, sie hatten mit mir gesprochen, wie andere lebendige Menschen." Als sie ihr Erlebnis berichtete, betonte sie ausdrücklich, sie habe nie daran gedacht, daß derlei Erscheinungen eine besondere Gnade Gottes seien; sie habe sich vielmehr gedacht, ein jeder Mensch erhalte solche Weisungen und folge ihnen wie sie selber (361).

Vom "himmlischen Bräutigam" empfing Anna Katharina oftmals die Anregung, für die Schuld anderer Menschen zu sühnen. Sie mußte dann beispielsweise "in einen Winkel niederknien und mit ausgebreiteten Armen beten" oder sie mußte "durch irgendeinen Winkel streichen, um eine Unzucht zu zerstören, welche eben geschehen konnte (362).

Auch vom Kreuz herab neigte sich zuweilen Christus seiner Braut zu. Einige Male, als sie vor dem Coesfelder Kreuz betete, geschah es, "daß sich der obere Teil des gekreuzigten Heilandes" zu ihr herabneigte (363). Einmal betete sie nachts vor der Coesfelder Kirche; da kam "das Kreuz mit allem daran hängenden Opfersilber" aus der Kirche heraus; Katharina sah es "hell und klar" (364) Zu all dem nur die zu überlegende Frage: Wirklichkeit oder Phantasie? Die Antwort, möchte man meinen, könnte nicht schwer fallen.

2. Hellsehen

Anna Katharina Emmerick schrieb sich selbst die Gabe des Hellsehens zu, ein inneres Schauen entfernter oder zukünftiger Ereignisse. So erzählte sie dem Dechant Rensing, "wie sie in der Klosterzeit, aber auch schon vorher und nachher öfter die Stunde des Hinscheidens ihrer Bekannten in der Nähe und Ferne erfahren habe. Zuweilen sei ihr das bekannt geworden durch eine Erscheinung, die ihr das zu bedeuten schien, zuweilen sei es ihr auch gewesen, als wenn es ihr gesagt würde. Dann habe sie sich die Zeit gut gemerkt und hernach vernommen, daß jene gerade zu jener Zeit gestorben wäre" (356)

Ebenso nahm Anna Katharina für sich eine außerordentliche Herzenskenntnis in Anspruch. Als einmal Luise Hensel bei ihr weilte, sprach sie: "Glaube mir, wer zu mir kommt, dem sehe ich auf den Grund des Herzens; das hat mir Gott gegeben" 366) . Diese "Gabe" hat ihr während ihres Klosteraufenthaltes manche Anfeindung eingetragen. Weil sie "die Fehler und Sünden, ja selbst die geheimsten Gedanken der Menschen fast immer sah" und niemand hatte, dem sie solches Wissen mitteilen konnte, war sie zu schweigen gezwungen (367). Auch wenn sie abwesend war, wußte sie alles, was ihre Mitschwestern taten oder auch nur beabsichtigten. Über ihre Klosterzeit sagt sie später: "Ich hatte damals die Gabe, in den Seelen der Menschen zu lesen, was darin vorging, in viel höherem Grade als jetzt" (368). Von ihren Mitschwestern im Kloster behauptet sie: "Bald hielten sie mich gar für eine Hexe, weil ich alles wußte und hörte, was im Kloster geschah und gesprochen wurde, obschon ich nicht zugegen und am anderen Ende des Hauses krank lag oder beschäftigt war, und weil ich manchmal, ohne es zu wissen, daß ich nicht zugegen gewesen, von solchen Ereignissen und Reden sprach, die sie mir notwendig verborgen glaubten. ... Sie waren in Angst, ich wisse alle ihre Gedanken, weil ich manchmal plötzlich getrieben wurde, eine der Mitschwestern um Verzeihung zu bitten, in der gerade die Versuchung, mich zu hassen, aufstieg" (369)

Der Gabe des Hellsehens wegen konnte Anna Katharina auf die Lektüre von Büchern verzichten. Ein Grund hierfür war ihrer Aussage nach ihre Gewohnheit, ohnedies allezeit das Rechte zu tun. "Ich habe", so lautet ihr Selbstzeugnis, "in meinem Leben sehr wenig, und anderes als Gebete und Erbauungsbücher gar nie gelesen. Wenn ich zu lesen begann, fühlte ich mich sogleich gestört, darum ließ ich es ganz sein und betrachtete statt dessen. Selbst der Thomas a Kempis störte mich, wenn ich darin las, und wenn ich doch zusah, was dann in diesem Buche gesagt werde, so fand ich, daß ich das tue und daß ich von selbst verstände, was da geschrieben stand. Auch erschienen mir immer die meisten Bücher so weitläufig. Mir ist die Wahrheit immer so klar, so einfach und so kurz erschienen. Wenn ich ein Buch in die Hand nehme und habe kaum ein paar Zeilen gelesen, so bin ich bei dem ersten Punkte, der etwas in sich hat, gleich abwesenden Geistes und sehe alles viel klarer, als es in dem Buche steht" (370). In solchen Worten steckt eine ganz gehörige Portion von Selbstgefälligkeit.

Katharina Emmerick gesteht, in ihrem Leben "sehr wenig" gelesen zu haben. Ihre Vorbildung macht dies verständlich. Man liest aber auch anders. So wird behauptet, sie habe aufgrund ihres Schulunterrichtes "die Bücher lieben gelernt". "Ihr Geist drängte nach Wissen, nach Ergänzung und Selbstbestätigung. Sie sitzt nun fast den ganzen Tag draußen bei der Herde und liest und lernt. ... Wo sie konnte, enteilte sie flüchtig an ein stilles Eckchen und da saß sie versunken und las; oft war ihr der Tag zu kurz". Oftmals stahl sie ihren Eltern "kleine Endchen Licht", um auch nachts heimlich in einem Eckchen lesen oder beten zu können (371).

Die Gabe des Hellsehens erstreckte sich bei Katharina Emmerick, wiederum nach ihrem eigenen Zeugnis, auch in die Zukunft. Sie selber will die im Jahr 1804 erfolgte Kaiserkrönung Napoleons vorausgesehen haben: "Als ich einst im Kloster vor dem heiligsten Sakrament für das Heil der Kirche im Gebete lag, sah ich mich auf einmal in eine große, ausgeschmückte Kirche entrückt und sah, wie das Oberhaupt der Kirche, der Statthalter Christi, einen kleinen, gelben, finsteren Mann zum König salbte und wie eine große Feierlichkeit dabei war. ... Auch wurde mir gezeigt, wieviel Leid dieses gekrönte böse Haupt dem Heiligen Vater antun und wie entsetzlich vieles Blut er vergießen werde" (372). Daß es sich hier nicht um eine Prophezeiung handelt, liegt auf der Hand. Prophezeiungen müssen vor dem Eintritt des Ereignisses klar und deutlich ausgesprochen werden. Einmal jedoch hat Katharina Emmerick tatsächlich ein künftiges Ereignis vorausgesagt. Am 20. Januar 1814 versicherte sie, Kaiser Napoleon "würde sich entweder umbringen oder umgebracht werden" (373). Die Prophezeiung hat sich jedoch nicht erfüllt.

3. Hierognosie

Zu den außerordentlichen Fähigkeiten, die Katharina nachgesagt werden, gehört die Hierognosie; sie vermochte echte und unechte Reliquien, geweihte und ungeweihte Gegenstände zu unterscheiden, und zwar "im wachen wie im ekstatischen Zustand". Ja, Gott selber, so wird behauptet, habe sie "belehrt, daß sie. diese Gabe wie kein anderer erhalten habe" (374). Sie soll sich an Orten, "wo Heidengräber waren, unheimlich und zurückgestoßen" gefühlt haben; zu den Gebeinen der Seligen hingegen fühlte sie sich "auf eine wunderbare Weise hingezogen". "Sie erkannte die Reliquien der Heiligen in einem Maße, daß sie nicht bloß kleine, ganz unbekannte Züge aus dem Leben der Heiligen erzählte, sondern auch öfters die ganze Überlieferungsgeschichte dieses oder jenes heiligen Gebeines, und alle Verwechslungen derselben bestimmte" (375). Diese Angaben gleichen ähnlichen Erzählungen über Therese Neumann von Konnersreuth (376).

Eine Reihe von Beispielen für die genannte Fähigkeit finden wir in dem Buch "Im Banne des Kreuzes" (377). Einen "Beweis" erbrachte P. Limberg mit mehreren kleinen Reliquien und zwei ziemlich bedeutenden Partikeln des hl. Kreuzes". Der Pater trat mit dem Reliquienkästchen zum Bett der Kranken, die gerade in Ekstase lag, und hielt es ihr in einer Entfernung von wenigstens zwei Fuß vors Gesicht. Sofort sprang die Kranke auf und griff mit beiden Händen gierig nach dem Kästchen. P. Limberg zog es wieder zurück und näherte sich damit immer wieder von einer anderen Richtung der Kranken. "Sie aber wußte mit verschlossenen Augen immer, wo er es hatte, und griff ganz gerade und richtig danach". Auf die Frage Limbergs, um was es sich handle, gab Katharina zur Antwort: "Etwas vom hl. Kreuz" (378)

Einmal hielt ihr P. Limberg ein Reliquienkästchen vor. Sofort ergriff sie es und drückte es an ihre Brust. Auf die Frage, was sie in Händen halte, sprach sie: "Etwas sehr Schönes, Reliquien". Auf eine weitere Frage, von wem diese stammten, antwortete sie: "Ei sieh doch, da sind sie in großem Glanze und zwei Apostel obenan beisammen und mehrere Jungfrauen." Tatsächlich, so heißt es, waren in dem Kästchen "Reliquien vom hl. Petrus und Paulus, der heiligen Agnes, Barbara und andere darin" (379). - Nun, die Frage von Echtheit und Unechtheit läßt sich in solchen Fällen natürlich nicht beantworten. Ohne Zweifel haben die Beteiligten an die Echtheit der Reliquien geglaubt, was nicht ohne Einfluß auf die Kranke geblieben ist, die in ihrem hypnoseähnlichen Schlaf die erwartete Auskunft abgab. Daß ihren Aussagen nicht der mindeste Beweiswert zu kommt, zeigt folgende Überlegung: Die Märtyrerakten über die hl. Agnes sind ohne Zweifel unecht; Reliquien von ihr existieren nicht. Nicht anders verhält es sich mit Reliquien der hl. Barbara. Hätten kritisch eingestellte Menschen ähnliche Versuche unternommen, wie es in Konnersreuth gelegentlich geschehen ist, ohne Zweifel wären die Ergebnisse entsprechend negativ ausgefallen (380).

Einmal überreichte man Katharina Emmerick eine Reliquie "worin Blut Christi sein sollte". Sofort sprach sie: "Es ist wirklich vom Blut Christi darin. Zwar ist das wesentliche Blut Christi nicht auf Erden geblieben, sondern nur die Gestalt der Farbe. Ich habe die Engel das Blut auflesen sehen, das bei der Passion des Herrn auf die Erde geflossen ist" (381). Es müßte klar sein, wie über die Frage der Echtheit der Reliquien und den Erklärungsversuch zu urteilen ist.

In den Schriften Über Katharina Emmerick fehlen nicht die Berichte über ihre telepathischen Fähigkeiten im Zusammenhang mit dem Segen eines Priesters und mit geweihten Sachen. Dechant Rensing berichtete am 25. März 1813 an das Bischöfliche Ordinariat: "Wenn man ihr (in der Ekstase), sei es auch, daß sie das Kopfkissen oder eine Bettdecke vor dem Gesichte habe, wenn ich mich so ausdrücken darf, verstohlenerweise den priesterlichen Segen erteilt, so hebt sie die Hand auf, welche sonst wie ein Stein unbeweglich daliegt, und macht das heilige Kreuzzeichen". Im Tagebuch notierte Rensing, er habe eines Tages "unter dem Mantel das Kreuzzeichen" gemacht; "gleich geriet ihre Hand in Bewegung". Als Rensing fragte, was sie mit ihrer Hand vorhabe, antwortete sie: "Da war etwas Übernatürliches." Auch dann machte Anna Katharina das Kreuzzeichen, wenn Limberg "weit von ihr den Segen gab" und die Segensformel "bloß dachte" (382).

In gleicher Weise reagierte Katharina Emmerick, wenn man ihr etwas in die Nähe brachte oder in die Hand gab, worauf eine religiöse Weihe ruhte, zum Beispiel Weihwasser oder "die gesalbten Priesterhände".

Für "geweihtes Wasser" hatte sie ein "besonderes Gefühl". Als Limberg die Kranke während einer Ekstase mit Weihwasser besprengte, "seufzte sie tief und segnete sich". Sie gab auch bei entsprechender Frage an, daß es sich um Weihwasser handle (383). Aber auf etwas anderes konnte eigentlich Anna Katharina gar nicht schließen; wer hätte sie denn sonst mit gewöhnlichem Wasser anspritzen wollen?

Einmal machte P. Limberg ein Experiment mit seinen "gesalbten Fingern". Er brachte sie in die Nähe des Mundes der Kranken, die in Ekstase lag. Da "bog sich sogleich der steife Körper, wie sich das Eisen zum Magneten zieht, zu den Fingern und küßte sie". Nun versuchte dies auch der Arzt Dr. Wesener; aber Anna Katharina "rührte sich nicht". Es wird betont, daß während des Vorganges die Augen der Kranken ständig geschlossen waren. Auch Overberg, "auf dieses Gefühl für die geweihten Priesterhände" aufmerksam gemacht, hielt der Patientin Daumen und Zeigefinger vor ihren Mund. "Alsbald beugte sie ihr Haupt nach vorn über und küßte die Finger". Aber offenbar gefielen die Experimente der Kranken nicht recht; denn nach mehrmaligen Versuchen "schüttelte sie unwillig den Kopf" (384).

Die angegebenen Reaktionen ähneln entsprechendem Verhalten in der Hypnose. Die Reaktionen wurden nicht ausgelöst durch die geweihten Gegenstände oder durch den priesterlichen Segen, sondern auf telepathischem Weg. Außerdem erscheint Anna Katharinas Verhalten nicht als folgerichtig. Sie segnete sich, wenn P. Limberg ihr von weitem seinen Segen erteilte, aber sie reagierte nur, wenn ihr ein geweihter Gegenstand oder die Hände eines Priesters "ganz nahe" gebracht wurden. Aber Abbé Lambert war doch als Zimmerherr neun Jahre hindurch andauernd in ihrer Nähe. Da reagierte sie in ihrer Ekstase nicht. Dies geschah nur, wenn ein Priester ganz bewußt mit seiner Hand das Experiment vollführte. Das entsprechende Verhalten bei Anna Katharina war demnach eine Antwort auf das, was man wollte und erwartete.

In dieser Weise erklärt sich auch die Reaktion bei einem äußerst zweifelhaften Experiment, das P. Limberg angestellt hat. Er wußte, daß Lambert in seinem Zimmer "in einem Krankenbuche, um welches er eine Stola gewickelt hatte", in ein Korporale eingehüllt, die "heilige Hostie" aufbewahrte. Mit diesem Buch ging Limberg in das Zimmer der Kranken. "Sogleich richtete sie sich mit großer Hast und Anstrengung auf, breitete die Arme aus und setzte sich auf die Knie". Sie rief: "Ach, da kommt mein Herr Jesus mit dem Tabernakel zu mir!" Mit "fest verschlossenen Augen" zeigte sie auf das versteckte Buch und sagte. "Da ist er!" Auf Befehl Limbergs legte sich die Kranke wieder ins Bett zurück (385). Die Reaktion bei Emmerick erscheint als eine Folge ihrer telepathischen Veranlagung.

Wie es bei derartigen Fähigkeiten normalerweise der Fall ist, so gingen auch bei Katharina Emmerick zuweilen entsprechende Versuche fehl. So versicherte Limberg, "daß er schon mehrere Male getäuscht worden sei, wenn er Versuche an ihr habe machen wollen". Dr. Wesener schreibt das Mißlingen "leichtfertigen Versuchen" zu. Die Experimente sollen auch dann mißlungen sein, wenn Katharina Emmerick "im natürlichen Schlafe lag" (386). So ist zu lesen im Buche "Im Banne des Kreuzes". P. Wegener hingegen behauptet das glatte Gegenteil; er spricht von der Gabe der Hierognosie "im wachen wie im ekstatischen Zustand" (387) .

Beim bischöflichen Informativprozeß berichtete ein Zeuge: "Meine Brüder hatten aus einem alten Heidengrabe eine Urne mit Knochenresten ausgegraben. Der Vater nahm einen Knochen heraus, wickelte ihn in Papier und steckte ihn zu sich, um bei seinem Besuch Katharina Emmerick zu fragen über die Herkunft dieses kleinen Knochens. Bevor mein Vater nur anfing, sein Anliegen vorzubringen, sagte Anna Katharina Emmerick: 'Lassen Sie das nur sitzen, ich weiß schon, was Sie wollen; Sie wollen wissen, woher der Knochen ist, den Sie in der Tasche haben. Vergraben Sie den Knochen, daß ihn niemand mehr zu sehen bekommt, weil er von einem nichtswürdigen Mann herrührt, von dessen Schlechtigkeit ich nicht sprechen mag" (388). Die Kranke befand sich bei diesem Experiment offenbar nicht in Ekstase. Ihr Wissen, soweit es mit dem des Besuchers zusammenfällt, erklärt sich als telepathische Fähigkeit. Was sie über den "nichtswürdigen Mann" geäußert hat, entspricht sicherlich ihrer Auffassung, daß eben ein Heide ein schlechter Mensch sein müsse.

4. Schweben und Bilokation

Nur wenige Berichte sind überliefert, die von Katharina Emmericks Gaben Schweben und Bilokation sprechen. Schwebend soll sie nur über ihrem Bett angefunden worden sein. Frau Pelster-Dülmen, eine geborene Roters, erzählt, daß sie als Mädchen bei Anna Katharina Emmerick nach Aufhebung des Klosters der Annunziaten in ihrem elterlichen Hause an der Münsterstraße geschlafen habe. "Öfters habe Katharina Emmerick über dem Bette geschwebt; sie habe ihr dann zugerufen, sich doch in acht zu nehmen, damit ihr Körper keinen Schaden nehme." Im bischöflichen Informativprozeß gibt Ludwig von Noel einen Bericht wieder, den er vom Hauswirt Anna Katharinas, nämlich von Franz Limberg, erhalten hatte. Demnach habe dieser seinem Bruder, dem Beichtvater der Kranken, seine Zweifel ausgedrückt bezüglich der merkwürdigen Dinge, die über die Nonne erzählt wurden. Eines Tages sei er in das Zimmer der Kranken gerufen worden; dort habe er dieselbe "in liegender Haltung über dem Bette schwebend" gefunden. Der Pater habe seinen Bruder aufgefordert, er möge sich überzeugen daß keine Täuschung vorliege. Franz Limberg habe dies auch getan und sei "mit der Hand zwischen dem Bette und der schwebenden Person hindurch" gefahren

Weitere Berichte über die Gabe des Schwebens stützen sich bloß auf das Zeugnis der Katharina Emmerick unmittelbar. Sie berichtet hierüber im Januar 1820: Einmal sollen sie "zwei Geister" aus dem Bett gehoben und in der Mitte der Stube "ein paar Fuß über der Erde in die Luft gelegt" haben; "schwebend wie auf einem Lager" sei sie eine Zeitlang über dem Boden geblieben. Auch der nächste überlieferte Fall geht auf Katharina Emmerick unmittelbar zurück. Sie erzählt: "Einmal ward ich in einer Krankheit von zwei Klosterfrauen aus dem Bett gehoben und in der Mitte der Stube ganz weich niedergelegt. Ich glaubte, zu Bett gegangen zu sein. Da kam in der Nacht eine alte Nonne unseres Klosters, ich weiß nicht mehr, aus welcher Ursache, in meine Zelle, vielleicht, um nach meinem Befinden zu sehen. Als sie mit der Lampe hereintrat, sah sie mich mitten in der Stube im ekstatischen Zustand auf dem Rücken liegend über dem Boden in der Luft schweben. Beim ersten Augenblick mochte sie glauben, ich läge an ungewohnter Stelle im Bett. Da sie aber nahte und nichts sah, worauf ich lag, erhob sie ein heftiges Angstgeschrei und stürzte mit solchem Geräusch bei der Türe hinaus, daß ich, erwachend, hart und schmerzlich an den Boden fiel und nach meinem Bette ging" (390). Irgendeine Beweiskraft kommt keiner dieser Aussagen zu. Es muß auch darauf hingewiesen werden, daß doch angeblich Katharina Emmerick dauernd bettlägerig war und sich mit eigener Kraft kaum umzudrehen vermochte. Nach ihrem angeblichen Schweben vermochte sie jedoch anstandslos zu gehen.

Auch bei den Fällen von "Bilokation" , von denen Anton Brieger berichtet, handelte es sich lediglich um Erdichtungen der Stigmatisierten von Dülmen. In dem einen Fall drehte es sich um ein Bauernmädchen, das eine Liebschaft mit einem Knecht unterhielt. Katharina Emmerick schließt es in ihr Gebet ein; da bekommt sie einen Traum, in dem sie den Knecht bei des Mädchens Bett vorfindet. Katharina fährt in dem Bericht fort: "Am anderen Morgen war das Mädchen sehr scheu und blöd. Es wich mir überall aus und sah mir nicht ins Gesicht, und ich konnte gar nicht begreifen, warum. Später gestand es mir ohne meine Aufforderung die ganze Geschichte, und wie ich in seine Kammer gekommen sei und den Burschen vertrieben hätte, wofür es mir herzlich dankte" (391).

Einmal, im Januar 1820, gibt Katharina Emmerick eine Erklärung für ihre Gabe der Bilokation ab. Sie sagt: "Wenn ich selbst, während ich in meiner Arbeit war oder krank im Bette lag, zugleich hie und da bei meinen Mitschwestern zu sein glaubte und wirklich sah und hörte, was sie taten oder sagten, oder wenn ich mich in der Kirche vor dem heiligen Sakrament zu befinden glaubte, so war dieses wahrscheinlich eine lebhafte Art von Traum, aber es ist wohl auch geschehen, daß mich eine von meinen Mitschwestern in der Küche sah, und zwar essend, und daß blitzschnell die Oberin nach meiner Zelle lief, um den Betrug zu entdecken, und mich sterbend krank in derselben liegen fand, da ich nicht imstande war, dieselbe zu verlassen" (392). - Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit eines lebhaften Traumes gibt Katharina Emmerick die naheliegende Erklärung für die geschilderte Art "wunderbarer Ereignisse". Ein Versuch, die Angaben der Kranken auf ihre Richtigkeit nachzuprüfen, ist offenbar nicht unternommen worden; er konnte auch gar nicht gemacht werden, da außer Anna Katharina Emmerick niemand etwas von einer Bilokation gemerkt hat.

5. Nahrungslosigkeit

Wenn von Anna Katharina Emmerick die Rede ist, taucht regelmäßig die Behauptung auf, sie habe Jahre hindurch ohne Nahrungsaufnahme gelebt. Diese Behauptung wurde auch vom Bischof von Münster anläßlich ihres 200. Geburtstages aufgestellt, indem er von "jahrelanger Nahrungslosigkeit" sprach (393).

Wie liegen die Dinge in Wirklichkeit?

Für das Jahr 1812 bemerkt Dr. Brieger in seinem 1974 veröffentlichten Buch, damals sei der "Übergang zur Nahrungslosigkeit der folgenden Jahre" erfolgt (394). Aber er schreibt auch ein paar Seiten weiter: "Sie lebt von nun an, vom Frühjahr 1813 bis Ende 1816, ohne jede feste Nahrung, fast nur von reinem Wasser" (395). Damit widerruft Brieger seine vorausgehende Behauptung; denn wer sich mit Flüssigkeit ernährt, lebt nicht nahrungslos. Außerdem sagt die Feststellung Briegers nichts darüber aus, was und wieviel flüssige Nahrung außer Wasser Katharina Emmerick zu sich genommen hat.

Die Behauptung, sie habe in den Jahren 1813 bis Ende 1816 nahrungslos gelebt, stützt sich hauptsächlich auf die Aufzeichnungen, die Dr. Wesener vom Frühjahr 1813 an bis Ende 1819 gemacht hat. Dabei muß beachtet werden, daß sich der Arzt bei seinen Angaben in erster Linie auf die Aussagen der Patientin selbst stützt. Diese hat regelmäßig Tag für Tag reichlich Wasser.getrunken; vom Arzt wurde ihr auch immer wieder Medizin gereicht. Aber wenn man von wunderbarer Nahrungslosigkeit spricht ' so erwartet man, daß auch auf Wasser und Medizin verzichtet wird. Aber abgesehen davon, Katharina Emmerick hat in den fraglichen Jahren auch Nahrungsmittel, und zwar flüssige und feste, zu sich genommen. Dies läßt sich sogar aus den Aufzeichnungen Dr. Wesener belegen, der als Hauptzeuge für die Nahrungslosigkeit seiner Patientin gilt.

Sehen wir uns einmal die einzelnen in Frage kommenden Jahre an! Am 13. Mai 1813 notiert Dr. Wesener: "Seit Neujahr 1813 hat sie nichts Solides gegessen. Nicht einmal so viel als eine halbe Erbse groß hat sie seit dieser Zeit Solides bei sich behalten können, auch keine Schokolade, keinen Apfel, keinen Wein, auch keine Suppe, als etwa einen kleinen Löffel voll" 396) Ein anderes Gutachten Dr. Weseners über diese Zeit lautet: "Wein, Kaffee, Schokolade, alle Nahrungsmittel und selbst die Arzneien gingen unverdaut wieder ab, und so fand ich sie im März 1813 "auf kaltes, klares Wasser und ein wenig von einem gebratenen Apfel reduziert, welches letztere aber auch bald nicht mehr vertragen wurde, wo sie dann ganze drei Jahre hindurch von bloßem Brunnenwasser allein lebte" (397). Was Dr. Wesener bezeugt, stützt sich auf die Schilderung, die er unmittelbar von Katharina Emmerick erhalten hatte und auf die er sich bedenkenlos verließ. Anna Katharina schilderte ihm nämlich am 19. April 1813: "Mit ihrer Nahrung sei es wunderlich hergegangen. Sie habe schon lange keinen rechten Appetit mehr gehabt, ihre beste Nahrung sei Kaffee gewesen. Bei dieser letzten Krankheit (1812) nun sei ihr der Kaffee auf einmal zuwider geworden und sie habe schon im Anfang des Winters angefangen, denselben wieder auszubrechen. Hierauf habe sie einige Tassen Schokolade getrunken, indessen auch diese habe sie ausgebrochen. Nun habe man ihr Wein gegeben, welchen sie nach einigen Tagen auch nicht mehr habe vertragen können; darauf habe man den Wein mit Wasser zur Hälfte verdünnt, aber

auch den habe sie nach einigen Tagen weggebrochen, und so sei sie nun auf bloßes kaltes Wasser gebracht" (398). Auch der Bericht des Dechants Rensing vom März 1813 stützt sich offensichtlich bloß auf die Aussagen der Kranken 399 ). Die Berichte sind jedoch nicht ganz korrekt. Dies zeigen die Aufzeichnungen, welche Dr. Krauthausen an einigen Tagen im April 1813 gemacht hat. Am 2. April nahm Anna Katharina außer einem halben Schoppen Wasser noch "zwei gekochte Zwetschgen und etwas Weniges von einem gebratenen Apfel" zu sich; am 3. April genoß sie "außer einem Schoppen Wasser noch "zwei Eßlöffel voll Fleischbrühe und ein wenig von einem gebratenen Apfel"; außerdem trank sie einen "halben Schoppen Wasser"; am 10. April bestand die Tagesnahrung aus eineinhalb Schoppen Wasser, zwei gekochten Zwetschgen, zwei Eßlöffel Zwetschgenbrühe und einem Eßlöffel Fleischbrühe; am 13. April nahm Anna Katharina außer Wasser eine gekochte Zwetschge und ungefähr zwei Eßlöffel Zwetschgenbrühe zu sich (400).

Vom 10. bis 19. Juni 1813 wurde Katharina Emmerick in ihrer Wohnung überwacht. In dieser Zeit kam niemand zur Kranken außer denen, die Erlaubnis hatten. Im Abschlußprotokoll vom 23. Juni wird Nahrungslosigkeit "bis auf reines Brunnenwasser während der Tage der Untersuchung" und "das völlige Fehlen von Ausscheidungen dieser Tage" bestätigt (401) "Einmal hat sie eine Kirsche in den Mund genommen, solche ein wenig gesauget, das Fleisch aber wieder zurückgegeben" (402). Katharinas Schwester Gertrud versicherte dem Dechant Bernhard Overberg, daß die Kranke "nicht das geringste Solide weder vom Apfel noch Pflaumen niederschlucke, sondern es nur aussauge " (403). Am 23. Juli stellt Dr. Wesener fest: "Den ganzen Winter und Frühling bestand ihre ganze Nahrung in einem Glas Wasser des Tages, und in dem Safte eines Stückchens Apfel oder einer getrockneten Pflaume, gewöhnlich aus Wasser allein. Zur Zeit, da die Kirschen anfingen, sog sie zuweilen eine Kirsche aus. Alle andere Nahrung oder Getränke bricht sie gleich mit Heftigkeit wieder aus. Wegen ihrer Fußwunden kann sie weder stehen noch gehen, liegt immer im Bette." Weiter spricht der Arzt von der zehntätigen Beobachtung, die in ihrem Zimmer stattfand: "Während dieser Zeit hat sie keine Nahrung als Wasser zu sich genommen. Stuhlgang hat sie seit Anfang Februar nicht gehabt" (404). - Aus den Angaben geht hervor, daß Katharina Emmerick nicht ohne Nahrung gelebt hat. Außerdem muß die Behauptung, sie habe seit Anfang Februar keinen Stuhlgang gehabt, angezweifelt werden. Selbst wenn sie nur geringe Mengen von fester Nahrung zu sich genommen hat, muß eine Ausscheidung erfolgt sein.

Es heißt, von 1813 bis Ende 1816 sei der Zustand gleichgeblieben, d.h. Katharina Emmerick habe bloß von Wasser gelebt. "Hatte sie wirklich einmal bei einem Nahrungsversuch oder sonst irgendwie etwas Festes zu sich genommen, dann erfolgte stets Erbrechen, das ihre schwachen Kräfte sehr mitnahm". In dieser Zeit hatte sie während ihrer "wachenden Träume große Anfechtungen zum Essen". Overberg gegenüber erklärte sie einmal: "Wenn sie von sich gewesen, seien ihr Speisen zum Essen vorgehalten worden. Habe sie dagegen protestiert, so wären diese Anfechtungen vorübergegangen; hätte sie aber einen Geschmack an diesen Speisen genommen, so wäre ihr übel geworden, als habe sie wirklich etwas gegessen. Zweimal habe sie, als sie außer sich gewesen, von ihrer Schwester zu essen begehrt. Diese habe ihr auch etwas Wein gegeben, worauf ihr beidemal wieder so übel geworden, daß man geglaubt, sie würde sterben." Ihrem Arzt erklärte die Kranke, "sie hätte nicht den mindesten Hunger und auch keinen Geschmack als allenfalls zu saueren Sachen" (405). Abgesehen davon, daß sich die Angaben in erster Linie auf Katharina Emmerick unmittelbar stützen, zeigen die Berichte, daß von einer völligen Nahrungslosigkeit nicht geredet werden kann. Ohne Zweifel haben die "Versuche feste Nahrung aufzunehmen, nicht jedesmal zu einem Erbrechen geführt, so daß gar nichts im Magen geblieben wäre. Das geht auch aus den Aufzeichnungen Dr. Weseners in der zweiten Hälfte des Jahres 1813 hervor. Am 5. Juli hatte Katharina Emmerick von ihrer Schwester Salat erhalten, der mit einer Brühe aus Mehl und Essig zubereitet war. Sie versicherte dem Arzt, sie habe die Salatblätter wieder ausgespuckt "und nur die Brühe hinuntergeschluckt". Die Schwester ergänzte: "Sie hat auch ein Stückchen Käse gegessen" (406). Am 6. Juli bereitete Dr. Wesener der Kranken "einen Sagoschleim von mittlerer Konsistenz"; die Patientin mußte sich ein paarmal erbrechen. Sechs Tage darauf verlangte sie "gedämpfte Stachelbeeren". Dr. Wesener machte ihr einige Beeren mit Zucker und Zimt zurecht, wovon sie des Morgens zwei bis drei Teelöffel voll zu sich nahm; die Haut und Kerne der Beeren spuckte sie aus. Am Nachmittag desselben Tages bereitete ihr der Arzt einen Schleim aus Perlgerste zu, der mit etwas Zimt und Weinessig vermischt war. Sie genoß davon zwei Teelöffel voll (407) . Am 4. August brachte man ihr eine Aprikose; von dieser sog sie "etwas Saft" aus (408). In dem am 2. September Erbrochenen waren "einige wenige Stückchen von einem Apfel und etwas Gefärbtes, worin einige Fleischfäserchen waren", zu erkennen. Die Schwester erzählte, daß Anna Katharina am Nachmittag etwas von einem zubereiteten Ragout genossen habe; wie sie aber zu dem Apfel gekommen sei, wisse man nicht (409).

Wie 1813 so nahm Katharina Emmerick auch im Jahr 1814 sowohl flüssige wie auch feste Nahrung zu sich. Wie groß die Mengen an Wasser waren, das sie trank, zeigen wiederholt gemachte Angaben Weseners. In der Nacht vom 17. zum 18. Mai hat die Patientin "wohl zwei Maß Wasser" und am 5. Juni "eine Kanne Wasser" erbrochen 410) . Am 21. Juli litt sie großen Durst und trank viel"; in der darauffolgenden Nacht hat sie kaum geschlafen, "aber viel getrunken" (411); am 21. August erzählte die Schwester der Kranken, diese habe "einen unauslöschlichen Durst" gehabt und habe "wohl eineinhalb Maß Wasser schnell getrunken" (412) . Daß Anna Katharina auch anderes genossen hat, zeigen gelegentliche Hinweise. So schreibt Dr. Wesener am 13. Juni, P. Limberg habe in den drei vergangenen Tagen jeweils am Mittag versucht, ihr einen Eßlöffel voll Fleischbrühe einzuflößen, was aber wieder erbrochen worden sei (413). Am 31. Mai schreibt Dr. Wesener nieder: "Die Schwester hatte ihr gestern abend, da sie ganz verstandlos und irre war, wohl eine Obertasse voll Sauerkraut zu verschlingen gegeben, wider unser ausdrückliches Gebot, ihr so etwas zuzumuten. Sie war darauf sehr krank Gewordene ... Nach dem Erbrechen war sie ruhig geworden" (414). Es ist anzunehmen, daß Gertrud auch sonst ihrer kranken Schwester Nahrungsmittel gereicht hat. Wie hätte sie sonst am 31. Mai gleich mit einer ganzen Obertasse Sauerkraut kommen können, die noch dazu "verschlungen" wurde? Das Verbot, "ihr so etwas zuzumuten", läßt erkennen, daß Katharina Emmerick regelmäßig Speisen erhalten hat; das Verbot bezog sich offenbar auf schwer verträgliche Nahrungsmittel.

Die gelegentlichen Anmerkungen Weseners zeigen, daß Katharina Emmerick auch im Jahr 1815 nicht allein von bloßem Wasser gelebt hat. Der Eintrag im Tagebuch des Arztes vom 28. Mai lautet: "Sie ließ ein Stück weißen Zucker auf der Zunge zergehen und schluckte dieses hinunter. Gleich entstand weißes Erbrechen, wodurch viel zäher Schleim ausgeleert wurde. Sie nahm noch ein Stück und erbrach sich wieder, aber nur Wasser" (415). Am 24. Juli versuchte die Kranke "einen Eßlöffel sauere Molken, die sie erfrischten und bei ihr blieben". Auch süße Molke, die sie früher zu sich genommen hatte, wurde von ihrem Magen angenommen (416). Am 2. Oktober erhielt sie von ihrer Schwester "ein Stückchen von einem Apfel", welches sie aussog; gut drei Wochen später reichte ihr ihre Schwester "Salat, der mit einer Brühe von Essig, Eier, etwas Butter und Mehl übergossen" war. Sie mußte sich später erbrechen; in dem Erbrochenen waren etwas von der eingenommenen Brühe und "ein paar unbedeutende Fäserchen .von dem Salat"; nach einiger Zeit erbrach sie nochmals "eine große Menge grünes, geruchloses, aber sehr bitteres, etwas schleimiges Wasser aus" (417).

Die im Jahr 1816 gemachten Eintragungen im Tagebuch Dr. Weseners sprechen zwar wiederholt davon, daß Katharina Emmerick Wasser getrunken und Medizinen eingenommen hat, sonst aber kommt der Arzt auf die Ernährungsfrage nicht zu sprechen. Dies beweist aber in keiner Weise Nahrungslosigkeit seiner Patientin. Beispielsweise hat Dr. Krauthausen bei seinen Aufzeichnungen in der ersten Hälfte des Monats April 1813 nicht weniger als sieben Tage bezeichnet, an denen Anna Katharina leichte Kost zu sich genommen hat, während Dr. Wesener nichts davon in seinem Tagebuch erwähnt; ja dieser betont sogar am 10. April ausdrücklich: "Die Leidende hatte heute viel Wasser getrunken,... gegessen hatte sie aber gar nichts" (418). Dr. Krauthausen aber schreibt, die Kranke habe an diesem Tag "eineinhalb Schoppen Wasser, zwei gekochte Zwetschgen, zwei Eßlöffel Zwetschgenbrühe und einen Eßlöffel Fleischbrühe" zu sich genommen. (419).

Brieger erwähnt, Katharina Emmerick habe um Weihnachten 1816 eine "eigenartige Veränderung des Gesundheitszustandes" erfahren. Der Besserung ging eine wesentliche Veränderung der Blutungen aus den Wundmalen voraus; "die Kranke schien etwas mehr Körperkräfte zu bekommen". Am 8. Dezember, dem Fest der Unschuldigen Kinder, stellte sie während einer Vision eine Frage ihrer Nahrungslosigkeit wegen. Sie erhielt zur Antwort: "Speise selbst sollst du wieder etwas genießen." Aber erst am 8. Januar 1817 konnte Dr. Wesener den ersten Versuch "mit Milch und Wasser" machen (420). Die Patientin trank ein halbes Glas Milch, das mit Wasser verdünnt war. Am 6. Februar ließ Dr. Wesener "zur Abwechslung des Getränks" eine Kruste Schwarzbrot in Wasser kochen und ließ dann "dieses Brotwasser mit einer Zitronenscheibe kalt trinken"; der schwache Magen behielt das Getränk (421). Eine weitere Abwechslung fügte der Arzt am 1. März hinzu; er reichte der Kranken eineinhalb Löffel voll Sagoschleim und zwei Teelöffel voll weißen Weines; auch dies wurde vertragen. Acht Tage darauf nahm Anna Katharina ebenfalls Nahrung zu sich, ohne daß sie sich erbrechen mußte (422). "Die Aufregungen beim Tod ihrer Mutter", welcher am 12. März 1817 erfolgte, "brachten einen Rückschlag" (423) ; die Kranke nahm aber auch in dieser Zeit und in der Folge Nahrung zu sich.

Anton Brieger meint: "Die Nahrungslosigkeit scheint in einem mystischen Zusammenhang mit der Stigmatisation zu stehen" (424) . Demnach müßte Katharina Emmerick vom Jahr 1812 an nahrungslos gelebt haben. Dies ist jedoch nicht der Fall gewesen. Anna Katharina äußert sich ihrerseits im Februar 1819 Dr. Rave gegenüber über den Zusammenhang zwischen Stigmatisation und Hungergefühl: "Beim Erscheinen der Wunden verlor sich der Appetit, doch genoß ich anfangs noch einige leichte Speisen, als Pflaumen, Äpfel, Haferschleim. Dieser Zustand des Appetits dauerte fast das ganze Jahr hindurch. Hierauf verlor sich das Verlangen nach Speisen gänzlich, so daß ich in vier Jahren nichts als Wasser zu mir genommen habe, und es mir auch widerlich war, wenn andere Menschen in meiner Gegenwart aßen. Nach diesen vier Jahren - vom Unschuldigen Kinder-

tag an - versuchte ich zuweilen den Genuß von Milch und Gerstenschleim, welchen letzteren Dr. Wesener zubereitet hatte" (425). Demnach dürfte Katharina Emmerick von 1813 bis Ende 1816 außer Wasser nichts zu sich genommen haben. Dies trifft jedoch nicht zu.

Die "Nahrungslosigkeit" hört mit dem Jahr 1817 auf. Am 9. Mai schreibt Dr. Wesener: "Sie bleibt fortwährend ohne Nahrungsbedürfnis und nimmt ein Weinglas voll Wasser, Milch und etwas Gerstenschleim täglich, bloß auf Mahnung, sonst nur reines Wasser. Auf Anraten des H. Christian Brentano benediziert Hr. Abbé, Lambert ihr immer das Getränk, wodurch sie es recht gut verträgt und wohlschmeckender zu fühlen glaubt" (426). Ungefähr vier Wochen später, am 13. Juni, bemerkt Dr. Wesener: "Der fortgesetzte Genuß des mit Milch und Wasser verdünnten Gerstenschleims bringt keine Änderung her vor" (427). Im September 1817 nahm Katharina Emmerick "fast nur mehr Wasser" zu sich. Da ersann Dr. Wesener "einen neuen Weg". Er hatte eine Frau in Behandlung, eine Verwandte Limbergs, die sechs Wochen zuvor geboren hatte. Diese Frau "konnte ihr Kind nicht stillen".

Darum ersuchte sie Dr. Wesener, fider Kranken täglich einigemal die Brust zu reichen". Die Frau war gerne damit einverstanden. Der Versuch begann am 18. Oktober 1817. "Zuerst konnte Emmerick vor Schwäche nicht viel nehmen, doch behielt sie die Milch gut und versicherte sie, daß sie dadurch allemal erquickt werde" (428). Die Gewohnheit, an der Brust der Amme zu saugen, behielt die Patientin ein volles Jahr über bei(429). Sie wußte auch sehr bald Bedenken anderer in der Sache mit einem Hinweis auf eine Vision zu zerstreuen, die ihr ihrer Angabe gemäß bereits während ihrer Klosterzeit zuteil geworden sein soll. Als sie während einer schweren Erkrankung "in größter Ermattung" gelegen habe, "sei ein schönes Kind gekommen und habe ihr seine von Milch strotzende Brust gereicht. Anfänglich habe sie ein wenig Ekel davor gespürt, sie habe sich aber überwunden, habe die Brust genommen und sich dadurch wunderbar gestärkt gefühlt. Geradeso sei es ihr jetzt in der Wirklichkeit widerfahren" (430).

An Weihnachten 1818 hörten die Wunden zu bluten auf. Von da an konnte Anna Katharina täglich "etwas Milch und Gerstenschleim als Nahrung aufnehmen" (431) "Bis zu ihrem Tode weiß weder Dr. Wesener in seiner kurzen Geschichte noch Brentano in seinen Berichten etwas anzuführen, wodurch die Art ihrer Ernährungsweise sich noch einmal geändert hätte". Zu Anfang Februar 1819 verträgt sie "zeitweilig etwas Kaffee oder Milch und Zucker, ein wenig Zwieback, leichte Fleischbrühe" (432). "Meistens jedoch erbrach sie das untertags Genossene am Abend" (433). Vom 7. bis zum 29. August 1819 weilte Katharina Emmerick während der "staatlichen Untersuchung" im Haus Mersmann. Während dieser Zeit bekam sie als Nahrung "gewöhnlich kleine Mengen Kaffee, Milch, ferner Suppe und Haferschleim. Einmal mußte sie heftig erbrechen, so daß sie zwei Tage nichts behalten konnte. Sie erzählte, daß man ihr allerhand in den Leib stopfte, obwohl sie fühlte, daß es ihr nicht wohltat. Doch wollte sie nicht widerspenstig sein und ließ sich das möglichste gefallen" (434). Nach ihrer Rückkehr in ihre frühere Wohnung erholte sie sich "bei ihrer gewohnten Diät, die bekanntlich aus Wasser bestand, ganz auffallend". Allmählich vertrug sie auch leichte Speisen (435).

Ebenso wie in den Vorjahren nahm Anna Katharina 1820 Nahrung zu sich. Ende August wird von ihr gesägt: "Sie muß oft brechen und kann nicht essen" (436). Von starkem Brechreiz ist auch gegen Ende des Monats Dezember die Rede. "Sie leidet oft heftigen Durst, um nicht erbrechen zu müssen, welches seit Lamberts Krankheit meistens abends und einen Teil der Nacht der Fall ist" (437)

Für den 28. und 29. Mai 1821 bemerkt Brentano: "Morgens das heftigste Erbrechen von Wasser und einem weißlichen Stoff, unter großen Schmerzen, ... Unfähigkeit zu trinken, Urinverhalten, großer Durst" (438). Für die Zeit des 1. und 2. November sagt Brentano: "Sie brach sich den Kaffee an und nahm auch sonst sehr wenig" (439).

In den ersten Tagen des Monats Januar 1822 wurde Katharina Emmerick im Schlaf gefragt, welche Hilfe man ihr bieten könne. Darauf "bestimmte sie Hühnersuppe, nicht mit eisernem Deckel gekocht, und die Haut an den Beinen, Flügeln und Hals als tranig nicht mitgekocht und die Suppe nie aufgewärmt, sondern eher kalt; in gewissen Zuständen der Kaffee schädlich, in gewissen heilsam" (440). Diese Auskunft wird man doch wohl

nicht als übernatürliche Erleuchtung deklarieren wollen.

Die Gewohnheit, sich in der Regel mit flüssiger Speise zu ernähren, behielt die Kranke bis zu ihrem Tod bei. Am 9. Februar 1824 bekam die "heftig Dürstende sehr häufig zu trinken; sie trank auf gewohnte Weise" (441). An demselben Tag abends um 1/2 9 Uhr verstarb sie.

Anton Brieger stellt für die Jahre von 1812 bis 1824 fest: "Sie bleibt nun bei fast völliger Nahrungslosigkeit, soweit dies jegliche feste Substanz betrifft, bis zu ihrem Tod durch zwölf Jahre an ihr Lager gefesselt" (442) . Er gesteht also, daß Katharina Emmerick flüssige Nahrung zu sich genommen hat, und im Hinblick auf feste Speise behauptet er "fast völlige Nahrungslosigkeit". Damit übertreibt er bereits. Es ist außerdem zu bedenken, daß die erwähnten Berichte für die einzelnen Jahre nur Hinweise auf einige wenige Tage sind. Was in der übrigen Zeit geschah, bleibt ungewiß. Aber ohne Zweifel steht fest, daß Katharina Emmerick nicht nahrungslos gelebt hat. Sie hat allerdings sehr viel gefastet. Die Folge davon war ja auch eine vollkommene Abmagerung. Zwei Jahre vor ihrem Tod spricht Clemens Brentano von einer unbegreiflichen Abmagerung, daß alle kleinen Eminenzen der Knochen sichtbar werden und unter dem Brustbein eine Vertiefung erscheint, in welche man einen Daumen einlegen könnte " (443).

Angaben zur eigenen Person entnehmen wir, daß Katharina Emmerick bereits während ihres Klosteraufenthaltes, also in der Zeit zwischen 1802 und 1812, für kürzere und längere Zeit auf Nahrung verzichtet haben soll. So berichtet sie am 2. September 1816 über eine Krankheit, die sie während ihrer Klosterzeit durchzumachen hatte: "Ich spürte Hindernisse beim Hinabschlucken; die Speisen, die mir in der Brust stecken blieben, mußte ich wieder auswürgen und ward so elend, daß man mich verlorengab. Hierauf lag ich neun Tage ohne Speise und Trank. In der Nacht bemerkte die wachende Schwester Schulz, daß blutige, übelriechende Jauche aus meinem Mund floß. Ich erwachte und erbrach diese Jauche mit Anstrengung. Die folgenden Tage erholte ich mich, konnte im Bett sitzen und essen und trinken. Dr. Krauthausen sagte, es sei ein Geschwür im oberen Magenmund gewesen" (444).

Auch im Januar 1802 erzählte die Kranke aus der Zeit ihres Klosteraufenthaltes: "Einmal war ich sieben Monate lang krank und konnte keine Art von Speise zu mir nehmen, so daß die Nonnen gar nicht begreifen konnten, wovon ich lebte. Die Krankenwärterin brachte mir täglich zu essen, nahm die Speise aber immer wieder mit, weil ich nicht essen konnte. Damals schon ward ich von den Nonnen, wie jetzt von der Welt, der Verstellung und Betrügerei beschuldigt und geschmäht. Aber ich hatte von einer Erscheinung der Muttergottes Speise erhalten. Sie hatte sie mir nachts in einer Vision gegeben und morgens fand ich sie in meiner Hand, wunderbar kräftig und wohlriechend. Es war größer als eine große Hostie und viel dicker, weicher und zäher, und hatte die Gestalt eines Jungfrauenbildes. Es waren auch Buchstaben darauf. ....Während sieben Monate habe ich, kleine Splitterchen davon essend, gelebt. Zuletzt verschwand es mir. ..-. Alle Arznei, die mich heilte, war übernatürlich. Die Medizin des Arztes brachte mich schier ums Leben, dennoch mußte ich sie einnehmen und sehr teuer bezahlen" (445). - Was Katharina Emmerick rückschauend erzählt, ist ein Märchen, an das sie selber geglaubt hat. Wenn sie übrigens Medizin aufzunehmen vermochte, ohne daß sie diese wieder ausbrach, dann hat sie auch Speisen vertragen. So wie sie sich eingebildet hat, eine "wunderbare Speise" erhalten zu haben, in gleicher Weise war ihre angebliche Nahrungslosigkeit Produkt ihrer Phantasie.

Gerüchte, Anna Katharina Emmerick sei in den Jahren ihrer angeblichen Nahrungslosigkeit beim Essen überrascht worden, lassen sich auf ihre Richtigkeit nicht mehr überprüfen. Solch ein Gerücht verbreitete sich in der Zeit, da sie im Hause der Witwe Roters wohnte (Mai 1812 bis 23. Oktober 1813). In dieser Zeit behauptete das jüngste Kind der Witwe, es habe Anna Katharina durch das Schlüsselloch beobachtet, "wie sie vom Bette aufgesprungen, vor den Schrank gegangen und Fleisch und Brot gegessen habe"; später will das Kind die Kranke "mit einem Butterbrot" gesehen haben. Als Anna Katharina des Gerüchtes wegen zur Rede gestellt wurde, erklärte sie die Sache so: Sie sei gewohnt, wenn sie bei annehmbarer Gesundheit sei, des Morgens ihrer Schwester bei der Küchenarbeit zu helfen, soweit es möglich sei. So schäle sie Äpfel und zerkleinere sie; sie verrühre auch in einem Napf Eier, Milch, Mehl und dergleichen und zeige ihrer Schwester, die keine geübte Köchin sei, wie man bestimmte Speisen zubereite. Bei solcher Arbeit sei sie einige Male von verschiedenen Besuchern, etliche Male auch von Dr. Wesener überrascht worden (446). Außerdem erklärte Katharina Emmerick, "sie hätte schon über zwei Monate nicht mehr ohne Hilfe aus dem Bette kommen können. Bevor Abbé Lambert an jenem Tage fortgegangen sei, habe sie sich ein Butterbrot von frischem Weizenbrot, das ihr Bruder aus Flamske geschickt hatte, geben und auf ihr Bett legen lassen. Sie habe dann die Tochter einer armen, alten und kränklichen Frau erwartet und.dieser habe sie es geben wollen" (447). Die Aussage des Mädchens stört weniger als die Selbstverteidigung durch die Beschuldigte. Sie weiß, daß das Mädchen zu Besuch kommen wird; sie läßt sich ein Butterbrot machen; sie läßt sich dieses ausgerechnet aufs Bett legen. Das klingt zu unglaubwürdig. Dazu kommt; daß der Hinweis auf die Hilflosigkeit der Kranken in dem angegebenen Ausmaß nicht zutrifft. Sie vermochte sich gar gut auch ohne fremde Hilfe zu bewegen. Während ihrer "Ekstasen" richtete sie sich "oft auf und sank in die Knie". Sie vermochte sich auch "auf die Knie zu werfen". Sie, von der gesagt wird, sie sei oft "todschwach" und nicht imstande gewesen, "sich allein umzudrehen", betete auch "eine halbe Stunde mit ausgestreckten Armen". Abwechselnd "warf sie sich auf ihr Angesicht nieder, richtete sich dann wieder auf, blieb mit ausgestreckten Armen sitzen" (448). Als Dr. Wesener am 13. Juni 1813 zu Besuch weilte, wurde die Kranke ohnmächtig; aber da "sprang sie auf einmal auf und betete auf ihren Knien mit ausgestreckten Armen eine halbe Stunde" (449) . Das gleiche Schauspiel erlebte am 23. Januar 1816 ein Kartäuserbruder als Zeuge. "Dieser erbaute sich recht an der frommen Dulderin; aber wie erschrak er, als die Kranke auf einmal rasch aufsprang, sich auf die Knie setzte und mit ausgestreckten Armen einige Minuten betete". Anna Katharina wäre noch länger in dieser Stellung verharrt, hätte ihr nicht P. Limberg befohlen, sie solle sich niederlegen (450). Solche Szenen spielten sich wiederholt ab. Wenn sie zu derartigen Leistungen fähig war, warum soll sie nicht auch ihr Bett verlassen haben?

Nicht weniger unglaubwürdig als die Selbstverteidigung der Kranken klingt, was Dechant Rensing an das Bischöfliche Ordinariat in Münster berichtet hat. Er schreibt, sie nehme "manches zu sich, um es vor den Menschen zu verbergen, daß sie bloß von Wasser lebt" (451) . Da drängt sich die Frage auf: Vor welchen Menschen wollte sie denn ihre Nahrungslosigkeit verbergen? Nicht minder fragwürdig ist die Behauptung, manchmal habe sich Anna Katharina bloß "Schaugerichte" vorsetzen lassen; so habe sie sich "einen gebratenen Apfel oder ein paar Pflaumen an das Bett stellen" lassen (452). Wenn sie tatsächlich so gehandelt hat, warum hat sie dann beteuert, daß sie nichts essen könne? Wollte sie mit den Schaugerichten ihre Hausgenossen irreführen? Außerdem hat sie ja tatsächlich, wie wir gesehen haben, Obst zu sich genommen.

Wenn man all diese Dinge kritisch erwägt, dann kann man nicht verstehen, wie in dem Buch "Im Banne des Kreuzes" glattweg behauptet werden kann: "Die absolute tatsächliche Nahrungslosigkeit Anna Katharinas in jenen Jahren (1813 - 1816) steht außer allem Zweifel" (453) . Es ist ebenfalls ein unbegründetes, oberflächliches Urteil, wenn der Bischof von Münster in seiner erwähnten Gedenkrede im Jahr 1974 erklärte: "Wir stehen verwundert vor der Tatsache ihrer jahrelangen Nahrungslosigkeit" (454). Der Bischof hat bei derselben Gelegenheit auch gesagt: "Die Kirche stellt an die Glaubwürdigkeit solcher außerordentlicher Geschehnisse schärfste Maßstäbe." Aber so schauen schärfste Maßstäbe nicht aus. Überlegen wir uns einmal: Was würde geschehen, wenn ein Staatsanwalt oder Richter mit derart unsicheren, widersprüchlichen, ja offensichtlich unrichtigen Argumenten operieren wollte?


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Letzte Änderung: 27. Januar 1998