X. Pseudomystik und Okkultismus

Therese Neumann war eine schwerhysterische Person. Die ihr zugeschriebenen, angeblich natürlich unerklärbaren Phänomene haben nichts mit dem zu tun, was von verschiedener theologischer Seite als Mystik bezeichnet wird. Die Mystik einer hysterischen Person kann gar nichts anderes sein als Pseudomystik.

Hysterische sind egozentrisch; sie drängen sich vor und drängen sich auf; sie vertragen es nicht, wenn ihnen die erwartete Anerkennung versagt wird. Dieser bei Therese Neumann offensichtliche Wesenszug hat so manche bereits beim ersten Zusammentreffen abgestoßen. Als Heinrich Muth im Jahre 1942 die Benefiziumsstelle in Konnersreuth antrat, tat er, als ob er von Therese Neumann nichts wüßte. Diese aber drängte sich ihm förmlich auf. Sie hielt ihm beim ersten Zusammentreffen ihre Hände mit den sichtbaren Wundmalen derart auffällig vor die Augen, daß er sie nicht übersehen konnte. Ein ähnliches ,Verhalten der Stigmatisierten schilderte am 10. Dezember 1936 der Jesuit Richstätter dem Lippstadter Chefarzt Dr. Deutsch; er schreibt: "Ein einziger Zug allein genügt, um vom Standpunkt der Mystik aus die Stigmatisation als nicht von Gott gewirkt darzutun. Als Therese Neumann bei der Ausstellung des Heiligen Rockes zusammen mit dem Bischof von Speyer und ihrer Begleitung den Bischof von Trier besuchte, fragte sie plötzlich, während dieser sich mit der Begleitung unterhielt, ganz aus sich: ,Wollen Sie nicht einmal meine Wundmale sehen?` Allen, denen ich das vorlegte, meinten übereinstimmend, das kann unmöglich von Gott sein. Der Bischof meinte nachher, als er es erzählte, Therese Neumann scheint sehr egozentrisch zu sein

Hysterische werden gehässig, wenn sie auf Widerstand stoßen. Feindseligkeit und Gehässigkeit ist auch ein Kennzeichen vieler, die sich als Anhänger einer pseudomystischen Person bekennen. Dies haben alle zur Genüge erfahren müssen, die es wagten, sich kritisch zu den Vorgängen in Konnersreuth zu äußern. Von der Redaktion der Zeitschrift "Stimmen der Zeit" aufgefordert, hat Pater Richtstätter einen Artikel über den heiligen Johannes vom Kreuz verfaßt. Über die Reaktion darauf schrieb er am 5. Januar 1933 an Dr. Deutsch: "Da manches seiner Grundsätze zu Konnersreuth nicht stimmen wollte, sah man sich dadurch getroffen, und ich wurde in solcher Leidenschaftlichkeit, mit so viel Unwahrheit, Verdrehung, Entstellung und Lüge angegriffen, wie man es als Priester sonst nur noch in kirchenfeindlichen Skandalblättern erlebt 135." Ähnlich erging es Prof. Mayer, Paderborn. Als er im Jahre 1930 einen kritischen Aufsatz über die Vorgänge in Konnersreuth veröffentlicht hatte, brach »eine Flut von Schmähungen" über ihn herein 136. Nicht anders waren die Erfahrungen des Lippstadter Chefarztes Dr. Deutsch. Über seinen Kampf gegen Konnersreuth schrieb er am 7. Juni 1938 an Dr. Schillgen in Münster: "Ich habe ihn begonnen 1931 zu einer Zeit, wo jeder, der Kritik zu üben wagte, in der übelsten Weise angegeifert und beschimpft wurde." Den Haß der Pseudomystiker hat Dr. Deutsch bis an sein Lebensende erfahren müssen. "Ich erhalte", so heißt es in dem erwähnten Brief, "von der Konnersreuther Seite eine ganze Reihe von Zuschriften, fast alle schwerbeleidigenden Inhaltes, sehr häufig anonym. Mich mit allen diesen Leuten auseinanderzusetzen, verbietet schon mein Befinden. Ich kann nicht jeden bekehren, der an Konnersreuth zum Narren geworden oder es schon vorher gewesen ist

Pseudomystiker sind immer auch Fanatiker. Fanatiker sind unbelehrbar und unbekehrbar. "Wer sich einmal in pseudomystische Sachen verstrickt hat", so schrieb der Jesuit Richstätter am 8. April 1935 an Dr. Deutsch, "ist verloren; das zeigt die Geschichte der Mystik 138." Ähnlich äußerte er sich am 16. Juli 1936: "Ich habe gefunden, wer sich einmal in solche Sachen verstrickt hat, ist nicht mehr zu belehren . . . Denn bekehren wird man in solchen Sachen niemand. Das kann nur die Wucht der Tatsachen, wenn eine Sache ein böses Ende nimmt. Und auch dann weiß man manchmal Gründe, daran festzuhalten. Es ist das eben auch ein Kennzeichen der Pseudomystik 139."

Die Pseudomystik und ihre Anhänger haben sehr vieles gemeinsam mit dem Okkultismus. Die Okkultisten sind ungeheuer Ieichtgläubig. Sie halten das Unglaubliche für möglich, ja tatsächlich, während sie das Einfachste, ja Alltägliche als wunderbar bezeichnen. Denken wir nur an die Unzahl von Wundergeschichten, die im Zusammenhang mit Therese Neumann berichtet werden; was immer diese an Phantasiegeschichten aufgetischt hat, ihre Anhänger haben es nie auch nur mit einem kleinen Fragezeichen versehen. Hier sei bloß ein "Jugenderlebnis" der Therese Neumann angeführt; es ist jene "Stiergeschichte", die sie erstmals im Jahre 1953 erzählt hat, und zwar unter Eid:

Als sie im siebten Schuljahr war, hütete sie auf dem Gut Fockenfeld das herrschaftliche Vieh auf der Weide. Während sie, ihrer Angabe gemäß, den Freudenreichen Rosenkranz betete, überfiel sie ein Tagelöhner, knebelte und fesselte sie; als er sie vergewaltigen wollte, kam ihr wunderbare Hilfe: "In diesem Augenblick kam der Stier der Herde herbeigestürzt und verjagte den Tagelöhner mit den Hörnern. Der Stier kam auf mich zu, tat mir aber, wie ich befürchtete, nichts, wartete, bis ich mich selbst mühsam von Knebel und Handfessel befreit hatte, neigte dann seinen Kopf bis zum Boden und zog mich, am ganzen Körper Zitternde, nachdem ich die Hörner erfaßt hatte, langsam in die Höhe; dann ließ er mich nach dem Schrecken an sich ausruhen, indem ich mich an ihn anlehnte." Therese hat ihrer Versicherung gemäß den Übeltäter weder bei ihren Eltern noch beim Arbeitgeber angezeigt, weil sie der Tagelöhner eingeschüchtert habe140. Im Jahre 1977 veröffentlichte Steiner in seinem Buch über Therese Neumann den angeführten Text und spricht dabei von einem "ergreifenden Erlebnis". Dieses "ergreifende Erlebnis" hat sich jedoch nie abgespielt, schon deshalb nicht, weil der "Stier der Herde", also der Zuchtstier, bekanntlich nie mit auf die freie Weide gelassen wird. Wer ein derart offensichtliches Märchen als wirkliches Erlebnis ansieht, würde auch gläubig hinnehmen, wenn Therese Neumann geschildert hätte, ihre Unschuld sei von einem Dinosaurier verteidigt worden. Zu diesem "erhebenden Erlebnis" sei noch angeführt, was der Arzt und Theologe Gerd Schallenberg in seinem 1979 erschienenen Buch "Visionäre Erlebnisse" gesagt hat. Er schreibt, dieses "Erlebnis" trage "auch bei Abzug aller Ausschmückungen kindlicher Phantasie den Charakter eines psychischen Traumas sexueller Natur". Man muß nur bedenken, daß Therese ihr Kindheitserlebnis erst im Alter von 55 Jahren entdeckt hat.

Im Okkultismus sind die Medien selber für die eigene Person Kronzeugen. Nimmt man ihr Zeugnis weg, dann bleibt nichts mehr übrig, was unerklärlich erscheint. Im Falle Konnersreuth ist es nicht anders. Therese Neumann ist für die Unmenge angeblich wunderbarer und unerklärlicher Phänomene die Hauptzeugin; für das meiste ist sie sogar die einzige Zeugin. Dazu kommt, daß die einzelnen Zeugen auch nicht mehr an Beweisen vorzubringen imstande waren, als was ihnen von Therese selbst oder ihrer nächsten Umgebung vorgetragen wurde. Denken wir bloß an ihre Visionen, an die Auskünfte, die sie über das Los Verstorbener abgab, an ihre "Erlebnisse" mit dem Schutzengel und dem Teufel!

Okkultisten halten fanatisch fest an ihrer Meinung. Sie sind unzugänglich für logische Einwände und Gegengründe; ja sie wollen so etwas gar nicht hören; sie informieren sich nicht; aber den kritisch Urteilenden werfen sie unwissenschaftliches Vorgehen vor. Der Nürnberger Regierungsmedizinalrat Dr. Stöcker, Facharzt für Neurologie, schreibt: "Wer. . . okkultistische Dinge glaubt, glaubt daran, ob Beweise vorliegen oder nicht; er ist auch Gegenbeweisen für seinen Glauben unzugänglich. Denn die Ursache.. . liegt in einer eigenartigen psychischen Verfassung . . . (mit) . . . einer hohen affektiven Stärke . . ., die jedem logischen Einwand gegenüber Trotz bietet. Daher hat es auch nicht viel Zweck, solche Dinge aufzudecken oder auszureden zu versuchen 141." Dies gilt ohne Einschränkung für die "Konnersreuther".

Der Okkultismus wehrt sich gegen jede exakte wissenschaftliche Untersuchung. Kritische Beobachter sind den Okkultisten nicht genehm; sie werden sogar auf Anordnung der »Kontrollgeister" aus der jeweiligen Sitzung entfernt. In Konnersreuth trat an die Stelle der Kontrollgeister das Christusorakel. Wenn offenbar irgendetwas zu verbergen war, wurden die Anwesenden aus dem Zimmer gewiesen. Wie beim Okkultismus ein wissenschaftliches Arbeiten mit den als Medien bezeichneten Personen nicht möglich ist, so wurde es auch in Konnersreuth nicht gestattet, den Dingen auf den Grund zu gehen. Welchem Arzt, von dem man kein günstiges Urteil zu bekommen glaubte, wurde denn ein wirkliches, gründliches, wissenschaftliches Arbeiten erlaubt? Da hinderte die Stigmatisierte oder der "Heiland", oder es hinderten die Eltern, oder es tat dies der Pfarrer. Wie sehr Therese Neumann selber kritisches, wissenschaftliches Denken gefürchtet hat, verraten die immer wieder von ihr vorgebrachten verächtlichen Äußerungen gegen die »Wissenschaft". »Auf die Wissenschaft", so sagte sie zu Prof. Killermann, "kommt es nicht an; da wird nicht eine Seele bekehrt; großenteils ist die Wissenschaft ungläubig - der Heiland hat's gesagt 142." Wer war in ihren Augen ein Wissenschaftler? Die Antwort gibt Erzbischof Teodorowicz: »Wenn aber ihrer Überzeugung nach keine ehrliche Absicht in Bezug auf die Konnersreuther Vorgänge vorliegt, wird sie streng und hart gegen Zweifler, wie auch gegen solche, die diese Vorgänge nicht glauben. Sie behandelt solche Leute mit Widerwillen 143." Dr. Seidel weist in seinem Bericht vom 10. Oktober 1931 darauf hin, daß nur Personen aus dem Konnersreuther Kreis und solche, die z~ keinem kritischen Urteil fähig waren, Zeugen bei den "mystischen" Erscheinungen sein durften. »Sie haben jedenfalls unbehindert Zutritt zu jeder Stunde... Nur wer widerspruchslos alles annimmt, kann im Hause Neumann verkehren. Sie nehmen rücksichtslos Stellung gegen jeden, der nur die leiseste Kritik übt. Sie dürfen an allem teilnehmen, zum Beispiel an der mystischen Kommunion. Ich wurde trotz wiederholten Versuches nie dazu zugelassen, angeblich, weil sie das vorher nie wisse 144"

Der Okkultismus beruft sich gerne auf Personen mit Rang und Namen, auch wenn sie zur Klarstellung der Sache überhaupt nichts beitragen können. Im Falle Konnersreuth erfüllten diese Aufgabe einzelne leichtgläubige Ärzte, Männer, die sich »bekehrt" haben wie Dr. Gerlich, vor allem aber Theologen der höheren Ränge, wie Bischöfe und Kardinäle. Die Autorität ersetzt das Wissen und Denken.

Die dem Okkultismus eigene Logik kann man als verschmierte Art des Denkens bezeichnen. Die Beschäftigung mit okkultistischen Dingen bedeutet eine große Gefahr; sie führt leicht zum Verlust des klaren Denkvermögens. Dies ist bei den " Konnersreuthern" geradezu ein besonderes Kennzeichen. Denken wir nur an ihre Überzeugung, Christus habe unmittelbar aus Therese Neumann gesprochen, und deren Aussagen seien irrtumslos gewesen.

Die okkultistische Literatur findet reißen den Absatz; nüchterne, warnende Stimmen finden kaum Beachtung. Weil kritische Schriften nur von ganz wenigen gelesen werden, ist für solche kein Verlag zu gewinnen. Ein Beispiel: Im Jahre 1935 gab es 26 deutsche Zeitschriften für den Okkultismus und nur eine einzige kritische Zeitschrift; diese mußte zudem bald aufgeben, weil sich zu wenige Leser fanden. Ebenso liegen die Dinge im Falle Konnersreuth. Die pseudomystische Literatur findet reißend Absatz; die Verlage verdienen sehr gut daran. So war es in Konnersreuth von Anfang an und ist so geblieben. Die Bücher für Therese Neumann fanden eine hohe Auflage; Dr. Deutsch hingegen war gezwungen, im Eigenverlag zu veröffentlichen.

Die "außergewöhnlichen Erscheinungen" beim Okkultismus sind nicht wirkliches Geschehen, sondern eine Folge der Suggestion. Bei Therese Neumann bestand die Nahrung ihrer ekstatischen Zustände in ihrer eigenen Veranlagung und in dem suggestiven Einfluß, den sie aus ihrer Umgebung empfangen hat, vor allem von Pfarrer Naber.

Dem Okkultismus geht es darum, verborgene Dinge aufzudecken, Zukünftiges vorauszusehen und vorauszusagen und ähnliche geheimnisvolle Dinge. Erinnern wir uns, in welchen Fragen Therese Neumann als Orakel in Anspruch genommen und wie kritiklos ihren Auskünften Glauben geschenkt wurde! Da besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen dem " Konnersreuther Orakel" und dem Okkultismus.

Wie bei den Pseudomystikern ist auch bei den Okkultisten ein besonderes Kennzeichen Angriffslust gegen Zweifler. "Sehen Sie, ich habe schon 1927 gewarnt, wurde aber dafür angepöbelt, nicht wiederzugeben"; so schrieb Prof. Mayer von Paderborn am 27. April 1937. Zur gleichen Zeit hat Dr. Deutsch an Prof. Mayer geschrieben: "Ich weiß, daß Sie deshalb angepöbelt wurden. Wem ist dies nicht geschehen, der den Mut aufbrachte, seine Bedenken gegen diesen Unfug vorzubringen? Sie, Wunderle, Mager, Richstätter, Abt Zeller und Bischof Bares und ich auch; wir alle sind solchen Pöbeleien ausgesetzt gewesen. Leider mußten die meisten dieser Angegriffenen aus Rücksicht auf ihren Stand schweigend alles ertragen. Ich habe es lange geduldet im Interesse der Kirche145."

Es wurde eben Prof. Wunderle erwähnt. Ein Arzt, der um 1930 Medizinstudent in Würzburg war, hat mir am 18. Oktober 1972 mitgeteilt, "daß auch Prof. Wunderle nicht gegen Argumente, sondern Emotionen kämpfen mußte, und daß er uns Briefe von kirchlichen Würdenträgern zeigte, in denen er mit Ausdrücken beschimpft wurde, die, wie er meinte, Hamburger Hafenarbeitern alle Ehre gemacht hätten". Ein Bischof sprach Prof. Wunderle "wegen seiner kritischen Einstellung sogar das Recht ab, weiter die Messe zu lesen".


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Letzte Änderung: 22. August 1997