IV. Das erste „stellvertretende Leiden“

Im Leben der Therese Neumann verdient ein Ereignis eine besondere Beachtung, das sich in Konnersreuth abgespielt hat beziehungsweise abgespielt haben soll, als sonst noch kein Wunder geschehen war; gemeint ist ihr erstes stellvertretendes Leiden. Darüber verbreiten sich acht Autoren; einer davon beruft sich auf den Bericht, den er von Pfarrer Naber erhalten hat; die anderen sieben stützen sich auf die entsprechende Schilderung durch Therese Neumann selbst. Keine zwei Berichte stimmen vollständig überein; zum Teil unterscheiden sie sich wesentlich.

Gerlich schildert im Jahre 1929 den Beginn und Verlauf des Leidens: „Seit Weihnachten 1922 - der Zeit des Auftretens eines Halsleidens, das uns jetzt beschäftigen muss - hat sie überhaupt nichts Festes mehr gegessen. Ein Gymnasiast aus der Pfarrei, der Theologie studieren wollte, hatte ein Halsleiden bekommen, das ihn zur Aufgabe des Theologiestudiums zu zwingen drohte. Therese flehte darum, statt seiner das Halsleiden übernehmen zu dürfen. Denn ,ich taug eh nichts mehr in meinem Leben'. So geschah es auch. Der Student konnte sein Studium fortsetzen; Therese Neumann aber bekam ein Halsleiden, das noch heute besteht. Sie fühlt noch immer ihren Hals wund und hustet manchmal Blut aus. Zumeist ist dies, wie sie mir sagte, morgens der Fall, wo auch Blutbrocken mit Schleim vermischt auftreten. Beim Gurgeln erscheinen Blutfetzen. Damals, zu Weihnachten 1922, konnte sie zunächst zwölf Tage lang keinen Tropfen schlucken. Dr. Seidl erklärte als Ergebnis seiner Halsuntersuchung, die Schluckmuskeln seien gelähmt. Eine Schwellung des Halses bestreitet Therese Neumann und erklärt, sie habe nur nicht schlucken können. Der Hals sei wund gewesen. Am Dreikönigstag 1923 konnte sie das erste mal wieder kommunizieren.“

Therese Neumann behauptet, Dr. Seidl habe aufgrund einer Halsuntersuchung erklärt, die Schluckmuskeln seien gelähmt. Was hat der Arzt wirklich vorgefunden? Seine Diagnose lautete: „Für die angebliche Schluckstörung ist eine organische neurologische Grundlage nicht aufzufinden.“ Als wahrscheinliche Ursache bezeichnete er: „Neurose, nervöse (hysterische) Spasmen im Schlund oder in der Speiseröhre.“ Eine Klarheit, so hat er versichert, konnte nicht erbracht werden, „weil die Erlaubnis zu einer Röntgenaufnahme nicht gegeben wurde“.

Wann hat das Halsleiden begonnen? Einmal nennt Therese Weihnachten 1922, das andere Mal sagt sie, „drei Tage vor Nikolaus“. Eine weitere Frage: Wie hat sie von dem Leiden des Gymnasiasten erfahren? Zwei Berichterstatter, Bischof Sebastian von Speyer und Anni Spiegl, behaupten, der Student habe sich in seiner Not persönlich an sie um Hilfe gewandt; die anderen erwähnen davon nichts.

Nach Gerlich hat Dr. Seidl Schluckmuskellähmung festgestellt. Friedrich von Lama beruft sich auf den Pfarrer von Konnersreuth und spricht von Tuberkulose. Therese selber berichtete kurze Zeit vor ihrem Tod ihrer Freundin Anni Spiegl, der Student sei von einem tuberkulösen Halsleiden geheilt worden. Dem Bischof von Speyer erzählte sie jedoch, der junge Student sei von der bischöflichen Behörde „zurückgewiesen“ worden, „weil seine Mutter an einem Halsleiden erkrankt war“. Ähnlich drückt sich Erzbischof Teodorowicz aus; er erklärt aber, die Mutter sei bereits an einem Halsleiden verstorben. „Aus dem“, so schreibt er, „ was mir Therese über die Sache sagte, wurde mir nicht ganz klar, ob der Kandidat bereits erkrankt war, oder aber, ob man die Erblichkeit des Falles befürchtete.“ - Warum hat sich der Bischof nicht erkundigt?

Auch darüber, wann das übernommene Leiden bei Therese Neumann verschwunden ist, besteht keine Einigkeit; Therese hat sich in verschiedenen Varianten geäußert. In dem Brief, den sie am 27. Mai 1923 an eine Freundin geschrieben hat, heißt es, das Leiden habe drei Tage vor dem Nikolausfest begonnen und fährt dann fort: „Dieser Zustand wurde allmählich wieder besser.“

Therese Neumann hat wiederholt versichert, sie sei im Jahre 1931 plötzlich von ihrem Halsleiden befreit worden. Als sie aber im Jahre 1953 in Eichstätt von einer bischöflichen Kommission vernommen wurde, hat sie unter Eid erklärt: „Das Schlucken macht mir schon seit Weihnachten 1922 bis heute (vom Verfasser hervorgehoben) ... größte Beschwerden.“

Wir müssen uns noch mit einer sehr wichtigen Frage beschäftigen, nämlich: Wann hat Therese Neumann selber das erste mal von ihrem „stellvertretenden“ Leiden gesprochen? In ihrem bereits erwähnten Brief vom 27. Mai 1923 spricht sie lediglich von einer Halslähmung, die allmählich wieder verschwunden sei. Auch dem Pfarrer Leopold Witt gegenüber, der im Jahre 1927 sein Buch über die Stigmatisierte veröffentlicht hat, weiß sie noch nichts von einem stellvertretenden Leiden.

Ein weiteres Thema ist zu klären: Wer war der Geheilte? Erst im Jahre 1927 beginnt die Mystifikation des angeblichen Halsleidens; erst jetzt erfahren wir etwas von einem Wunderkandidaten. Therese Neumann selber hat dessen Namen verraten; sie nannte einen Primizianten des Weihekurses 1927, der am 12. Juli 1927 einem Konnersreuther Neupriester beim feierlichen Gottesdienst levitiert hat. Pfarrer Naber verbreitete im Vertrauen auf das Wort der Stigmatisierten die Kunde von dem „wunderbaren Geschehen“, ohne sich bei dem „Geheilten“ zu erkundigen. Dies tat erst der Vorsitzende des Katholischen Priestervereins Bayerns; er befragte ihn brieflich, wie er sich zu der Wundergeschichte stelle. Der „Geheilte“, der nun erst von seinem großen Glück erfuhr, wies die Zumutung eines Wundergeschehens schroff zurück. Wie reagierte nunmehr der Pfarrer von Konnersreuth? Er wandte sich unverzüglich an sein Orakel, an Therese Neumann: er fragte sie während ihres Zustandes der „gehobenen Ruhe“ und erfuhr den Namen eines anderen Wunderkandidaten! Es war der aus der Pfarrei Konnersreuth stammende Josef Siller, der damals noch Theologiestudent war. Siller verfügte zwar über eine schwache Stimme, aber von einem besonderen Leiden und von einer wunderbaren Hilfe wusste niemand etwas, er selber am allerwenigsten. Bezeichnenderweise hat ihn bis kurz vor seiner Priesterweihe nie jemand gefragt, wie er sich selber zu der Frage stelle, auch Pfarrer Naber nicht. Siller ist auf die ihm zugedachte Rolle erst aufmerksam geworden, als Gerlich im Jahre 1929 seine beiden Bücher über Therese Neumann veröffentlicht hatte; von da an war ihm klar, dass das „Wunder“ an ihm hängen bleiben sollte. Josef Siller wurde am 29. Juni 1931 zum Priester geweiht. Ein paar Tage zuvor hat der Regensburger Theologieprofessor Dr. Waldmann von der Angelegenheit erfahren. Er begab sich zu dem Weihekandidaten und befragte ihn. Diesem war die Sache aus begreiflichen Gründen äußerst peinlich, „aus Furcht und Scheu vor Pfarrer Naber und der Konnersreuther Umwelt“. Siller lehnte ebenso entschieden wie der erste Wunderkandidat ein Wunder an seiner Person ab. - Da wurden also zwei Theologen wunderbar geheilt, ohne davon etwas zu wissen; sie wurden von einer Krankheit befreit, an der sie nicht gelitten hatten; dabei hatte Therese Neumann den zweiten Kandidaten im Zustand der „gehobenen Ruhe“ benannt, in einem Zustand, in dem nach Erzbischof Teodorowicz die Auskünfte irrtumslos waren!

Am Primiztag Sillers, am 30. Juni 1931, wurde Therese Neumann, so sagt wenigstens ein Teil der Autoren, von ihrem langjährigen Halsleiden befreit. Am 1. Juli 1931 schilderte Pfarrer Naber dem Erzbischof von Lemberg den Vorgang. Dieser erfuhr, dass nunmehr Therese wieder eine ganze Hostie zu schlucken vermochte. Dies sei nach vielen Jahren wieder möglich geworden, als der Primiziant bei seinem ersten Gottesdienst die Wandlungsworte sprach, so wie sie es zuvor „während ihres Zustandes der Ruhe“ ihrer Umgebung gegenüber angekündigt hatte.

Auch der Zeitpunkt, an dem das Halsleiden zu Ende gegangen ist, trägt etwas Wunderbares an sich. Josef Siller hat nicht in seiner Heimatpfarrei Konnersreuth Primiz gefeiert; er wollte verständlicherweise möglichen Verlegenheiten und Unannehmlichkeiten aus dem Wege gehen. Bedenken wir nur, mit welcher Reaktion, nicht zuletzt von Seiten der Therese Neumann, er hätte rechnen müssen, wenn er das ihm zugedachte Wundergeschehen in Abrede gestellt hätte. Darum wollte er in aller Stille sein erstes Messopfer in der Obermünsterkirche zu Regensburg feiern, und zwar bereits um 6.30 Uhr. Der von Siller geplante Termin war in Konnersreuth bekannt. Dementsprechend erwartete man dort, dass Therese gegen sieben Uhr wieder gesund würde. Aber das geschah nicht. Im Gegenteil, ihr Leiden steigerte sich in einem Ausmaß, dass der Leidenden kaum mehr das Sprechen möglich war. Erst um 9.30 Uhr geschah das Erwartete. Jetzt hörten die Halsschmerzen schlagartig auf; Therese fühlte sich vollständig gesund; die kranke Kehle war ausgeheilt. Das geschah zu der Zeit, als Josef Siller im fernen Regensburg die Wandlungsworte sprach. Also wieder ein Beweis für die außerordentlichen Gaben der Stigmatisierten von Konnersreuth! Sie selber hat sich jedenfalls damit gebrüstet, und zwar bereits am 1. Juli 1931 in ihrem Gespräch mit Erzbischof Teodorowicz. Ihm versicherte sie, ihr sei „über die äußeren Umstände ihrer Genesung“ nichts bekannt gewesen, sie habe auch nichts davon erfahren, was sie im Zustand der „gehobenen Ruhe“ vorausgesagt habe; nur den Primiztag habe sie gekannt.

Wie war es in Wirklichkeit? Die Bevölkerung von Konnersreuth war darüber informiert worden, dass Siller den Gottesdienst um 6.30 Uhr beginnen wollte. Von der kurzfristig vorgenommenen Änderung des Termins haben nur wenige erfahren; aber Pfarrer Naber war informiert und ebenso Therese Neumann. Der damalige Seminardirektor in Obermünster, Max Köppl, war weder mit dem frühen Termin noch mit einer stillen Messe einverstanden und setzte durch, dass ein feierlicher Primizgottesdienst stattfand, und zwar erst um 9.00 Uhr. Der Termin wurde also nicht, wie Therese Neumann dem Erzbischof von Lemberg erzählte, eines „unvorhergesehenen Hindernisses“ wegen von 6.30 auf 9.00 Uhr verschoben. Das Wundergeschehen findet eine durchaus natürliche Erklärung.

Damit ist die Wundergeschichte immer noch nicht zu Ende. Zwei Monate nach dem Primizgottesdienst Josef Sillers in Regensburg erklärte Pfarrer Naber in seinem Brief an den Bischof von Regensburg: „Das Halsleiden, das sie für den neugeweihten Priester Josef Siller, dass er sein Ziel erreichte, achteinhalb Jahre getragen, ist unmittelbar, nachdem dieser sein erstes heiliges Messopfer gefeiert, plötzlich verschwunden.“ Drei Jahre später wiederholte der Pfarrer dieselbe Behauptung; er machte aber nun dem „Geheilten“ den Vorwurf, er habe sich „der Hilfe geschämt und nicht gedankt“. Dem fügt der Pfarrer noch hinzu: „Exzellenz wissen, wie es jetzt um ihn steht.“ Damit kann nur das eine zum Ausdruck gebracht sein, dass der „Geheilte“ zur Strafe für seine Undankbarkeit wieder am alten Übel erkrankt war.

Während Therese Neumann bei der eidlichen Vernehmung in Eichstätt zwar von ihrem Halsleiden erzählte, aber nichts davon wusste, dass es sich um ein „stellvertretendes Leiden“ handelte, versicherte sie ein Jahr darauf wieder in der alten Art der Schriftstellerin Luise Rinser, sie habe für den Gymnasiasten gelitten; dies sei ihr erster Versuch gewesen für andere stellvertretend zu leiden18.

Für die ganze Episode gibt es nur ein gültiges Urteil: von Anfang bis zum Ende frei erfunden. Das geschilderte „wunderbare Ereignis“ allein schon gibt die einzig richtige Antwort auf die Frage, wie all die „Konnersreuther Phänomene“ zu bewerten sind.


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Letzte Änderung: 7. Januar 2002