IX. Die Diagnose: Hysterie

Wiederholt war bereits die Rede davon, daß es sich bei Therese Neumann um eine "hysterische Person" handelte. Der Ausdruck " Hysterie" wird in der deutschen Psychopathologie heute nicht mehr als eigenständiger Terminus verwendet; allerdings spricht man noch vom sogenannten "hysterischen Charakter" als Ausdruck für unecht, theatralisch-egozentrisch, suggestibel usw. . Organisch nicht begründete "Krankheitssymptome" solcher Persönlichkeiten werden als "psychogen" bezeichnet. Die Diagnose "Hysterie" wurde für Therese Neumann bereits vor Jahrzehnten gestellt, zum ersten Mal vor ungefähr siebzig Jahren, zu einer Zeit also, da der Begriff in der Medizin noch allgemein üblich war. Dies ist zu bedenken, wenn in dieser Schrift von "Hysterie" die Rede ist; die Diagnose stützt sich auf eine Reihe fachärztlicher Bekundungen.

In der Schrift "Ärztliche Kritik an Konnersreuth" schreibt Dr. Deutsch im Hinblick auf die Krankheiten und "wunderbaren Heilungen" der Therese Neumann: "Über die genannten Fragen hat im Falle Konnersreuth kein Theologe, und sei er Erzbischof und Kardinal, eine Entscheidung zu treffen, sondern ganz allein der Fachmann, also der Arzt. Kann aber der Arzt nachweisen, daß die Angaben der Untersuchten auf Hysterie beruhen und lügnerisch und unwahr sind, so wird kaum ein vernünftig denkender Mensch sich bereit finden, nun noch die Frage aufzuwerfen, ob hier wirklich Gottes unmittelbares Walten im Menschen sichtbar wird124."

Der erste Mediziner, der auf Hysterie erkannt hat, war der Tirschenreuther Arzt Dr. Göbel, der im Jahre 1918 in Vertretung des Waldsassener Krankenhausarztes Dr. Seidl Therese Neumann längere Zeit ärztlich betreut hat. Seine Diagnose lautete: "hochgradig hysterische Person." Im selben Jahr 1918 urteilte auch Dr. Seidl: "traumatische Hysterie, zu 100 Prozent erwerbsbeschränkt"; und: "Die erwähnte Blindheit und Lähmung der Beine, hysterische Blindheit und hysterische Lähmung, also rein funktionelle Störung ohne nachweisbare organische Erkrankung 125~"

Auf das entsprechende Gutachten des Dr. Seidl hin hat Therese Neumann eine Rente erhalten. An der Diagnose Hysterie hat damals weder sie noch haben ihre Eltern Anstoß genommen; erst etliche Jahre später wurde sie als peinlich empfunden. Was taten nun die Konnersreuther"? Sie behaupteten einfach, Dr. Seidl habe sein Urteil widerrufen. So schreibt Kosubek im Jahre 1947: "Auch über die ursprüngliche Hysteriediagnose des Dr. Seidl sind einige interessante Bemerkungen zu machen. Nach einem Gespräch mit diesem Arzt vom 7. November 1929 schrieb Dr. Bergmann dem Bischof von Regensburg, daß Dr. Seidl nicht unbedingt an der Hysteriediagnose festhalte (nach Boniface). Dem Herrn Boniface gegenüber hat Dr. Seidl sich einige Jahre später noch stärker geäußert und sagte, daß er sich in seinem Zeugnis getäuscht habe, was er auf das lebhafteste bedauere... . Pater Gemelli OFM, der Arzt war, bevor er in den Franziskanerorden eintrat, sagte, daß die Hysterie nicht bewiesen sei 126."

Diese Aussagen sind insgesamt falsch. Dr. Gemelli hat am 28. Mai 1928 nach seinem Besuch in Konnersreuth einen Bericht abgefaßt. Darin erklärt er, der ekstatische Zustand der Therese Neumann weise eine " auffallende, ja erschütternde Ähnlichkeit" mit dem "Trancezustand bei spiritistischen Sitzungen" auf. Er sagt weiterhin: "Wer mit Psychoasthenischen und Hysterischen lange verkehrt hat, der kann sich nicht dem Eindruck entziehen, als daß Therese Neumann unter dem Einflüsse des Herrn Pfarrers spreche, ja, sie sei nur dessen Echo." Weiterhin stellt er fest, "die Diagnose der Hysterie" dränge sich "sofort dem Geiste auf"; er habe aber in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit für diese Diagnose nur "ungenügende Elemente" sammeln können. "Die Diagnose der Hysterie muß auf klinische Untersuchung begründet werden, die zum Beweis führen kann, daß die Persönlichkeit der Therese Neumann und deren ganze Tätigkeit nur im Lichte einer hysterischen Constitution begriffen werden kann 127." Was Gemelli gesagt hat, bringt zum Ausdruck, daß er selber nicht die erforderlichen Untersuchungen habe vornehmen können; daß Hysterie nicht bewiesen sei, das hat er weder gesagt noch auch nur angedeutet.

Ebenso ist die Behauptung, Dr. Seidl habe seine ursprüngliche Diagnose widerrufen, aus der Luft gegriffen. Boniface, auf den sich Kosubek beruft, hatte im Herbst 1931 eine Unterredung mit Dr. Seidl. Dieser soll sich damals so ausgedrückt haben: "Hätte ich damals Therese Neumann gekannt, wie ich sie später nach so vielen Untersuchungen kennenlernte, mit ihren Krankheiten und Heilungen, die medizinisch unbegreiflich waren, und besonders nach meiner Untersuchung über das ewige Fasten, im Jahre 1927, so hätte ich diese Dummheit niemals begehen können." Dr. Seidl soll überdies ausdrücklich betont haben, der Beweis sei erbracht worden, daß Therese Neumann " auf keinen Fall hysterisch war", der übernatürliche Charakter der " augenblicklichen Heilungen Thereses" sei nicht zu leugnen. All diese Dr. Seidl in den Mund gelegten Äußerungen sind frei erfunden. Wer sich eingehender mit der Pseudomystik beschäftigt, wundert sich nicht mehr über so etwas, über die Unverfrorenheit, mit der sich Boniface auf einen Arzt beruft, der genau das Gegenteil von dem bezeugt hat, was behauptet wird. Wann hat denn je Dr. Seidl das Verschwinden der Krankheitserscheinungen bei Therese Neumann als medizinisch unerklärbar bezeichnet? Gerade er ist es gewesen, der gesagt hat, daß sich Therese Neumann niemals eine Wirbelverrenkung zugezogen hat, daß sie nie Aufliegewunden hatte, daß sie niemals organisch blind war. Im August 1931 soll Dr. Seidl erklärt haben, Therese Neumann sei "auf keinen Fall" hysterisch gewesen. Aber drei Monate nachher, nämlich am 10. Oktober 1931, hat er ein Gutachten für den Bischof von Regensburg zusammengestellt. Darin bestätigt er nicht nur ausdrücklich sein wiederholt abgegebenes Urteil, sondern bekräftigt es mit einer Reihe von neuen Argumenten; unter anderem spricht er klar aus, daß "auch jetzt noch" hysterische Züge bei Therese Neumann zu entdecken seien. Er hat im Jahre 1931 nur bestätigt, was er Ende 1928 geschrieben hat: »Ich stelle ein für allemal fest, daß ich an der bei der Abfassung des Unfallgutachtens und nach meiner wissenschaftlichen Überzeugung gestellten Diagnose festhalte 128."

Der Lippstadter Chefarzt stand bis zu seinem Tod im Jahre 1938 mit Ärzten in Verbindung, die Therese Neumann aufgesucht hatten; er kannte auch die von diesen abgegebenen Gutachten. Dieser Kontakt mit seinen Kollegen wie auch seine eigene Erfahrung berechtigte ihn, ein stichhaltiges medizinisches Urteil zu fällen. Er hat dies oft in Veröffentlichungen wie auch in persönlichen Briefen getan. So schrieb er am 13. November 1936 an seinen Vetter Bernhard Hapig S.J., es stehe zweifelsfrei fest, daß Therese Neumann in den Jahren von 1918 bis 1923 sehr häufig "Anfälle von allgemeinen Krämpfen" hatte; solche Krämpfe kämen aber nur bei zwei Krankheiten vor, nämlich bei Epilepsie und bei Hysterie; im Falle Therese Neumann komme nur Hysterie in Frage. Er verweist auf die ärztlichen Gutachten jener Zeit; die Gutachten von vier Ärzten waren gleichlautend. Über die Art von Thereses Hysterie sagt er: "Eine Hysterie von dieser Schwere und Dauer ist immer eine Kernhysterie, die den Charakter erfaßt. Verschwinden tut sie nicht, weil sie den Kern der Persönlichkeit ergriffen hat. Für jeden Erfahrenen sind die verschiedenen kleinen Szenen, die mit den ,unwürdigen Schwestern`, mit der Schnapsmystik, mit der erbrochenen Hostie etc. Zeichen, daß auch jetzt noch Hysterie vorliegt und daß auch sie nur darauf lauert, wieder in Erscheinung zu treten, sobald die Verhältnisse sich ändern129."

Wie Dr. Deutsch hat eine Reihe von anderen Medizinern geurteilt. Im Hinblick auf Thereses Krankheiten von 1918 an schreibt Biot: "Wir müssen festhalten, daß bei Therese Neumann so klar wie nur irgendwie möglich die Diagnose der Hysterie gestellt worden ist, um damit medizinisch die Kette der Krankheitserscheinungen zu charakterisieren, die sie bereits vor dem Auftreten der Wunden zeigte 130."

Bei der Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit der Therese Neumann urteilt der Neurologe Professor Jean Lhermitte im Jahre 1953: "Es kann ohne Übertreibung behauptet werden, daß es keinem mit den Gegebenheiten der Psychopathologie vertrauten Menschen schwer fallen dürfte, in den vielerlei Erscheinungen, an denen Therese Neumanns Leben so reich war, die Züge der hysterischen Neurose zu erkennen131." Lhermitte sagt auch: "Wir brauchen nicht alle Beweise für eine Hysterie anzuführen; sie sind überwältigend, und wie Dr. Poray-Madeyski in lichtvollen Ausführungen dargetan hat, genügt die Neurose bei weitem, um alle Phänomene zu erklären, die Therese Neumann zu einer der beachteten Persönlichkeiten des Jahrhunderts gemacht haben` 32~"

Am 16. Dezember 1937 hat Dr. Deutsch an den Päpstlichen Protonotar Giere in Paderborn geschrieben: "Es ist für jeden Kenner der Hysterie absolut klar, daß die ganze Sache ein Schwindel, ein ganz typischer Fall von Pseudologia phantastica ist, wie nur irgend etwas sein kann. Die Beobachtungen von Ewald und Martini, auch die von P. Gemelli genügen vollständig, besonders aber das Buch Gerlichs, der in seiner Unbefangenheit wirklich ein Verdienst sich erworben hat, die Sache möglichst naiv zu schildern. Es ist untragbar, in dem Gedanken leben zu müssen, daß ein geradezu greulicher, wenn auch vielleicht krankhafter Betrug hier fortgesetzt verübt wird unter langjähriger Duldung und Förderung kirchlicher Instanzen - Das hat Dr. Deutsch vor 50 Jahren gesagt!


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Letzte Änderung: 22. August 1997