Konnersreuth als Testfall

XI. Normal oder hysterisch?

Die Anhänger von Konnersreuth haben sich begreiflicherweise immer wieder mit allem Nachdruck und Eifer gegen die ärztliche Diagnose, Therese Neumann sei hysterisch, gewendet. Sie haben sich dabei auf den Eindruck berufen, den sie im persönlichen Umgang gewonnen haben. So meint Dr. Mayr:

"Wer dieses Bauernmädchen voll gesundem Menschenverstand und gesundem Urteil, mit hellem Geist und offenem fröhlichen Lachen als hysterisch bezeichnet, kennt es entweder nicht, oder weiß nicht, was er sagt." (1)

Man muß doch wohl erfahrenen Ärzten soviel zutrauen, daß sie wissen, was sie sagen. Das gilt sowohl von den Ärzten, die Therese Neumann persönlich kennengelernt haben, als auch von den anderen, die sich ihr Urteil bildeten auf Grund der reichhaltigen Literatur und der praktischen Erfahrung in der Ausübung ihres Berufs. Die Frage, ob jemand Züge der Hysterie offenbart ist in erster Linie eine medizinische, keine theologische. Ebenso obliegt die Prüfung, ob eine Wunde künstlich erzeugt wurde oder nicht, ob Wundmale echt sind oder nicht, vorwiegend dem Arzt und nicht dem Theologen. Der Nachweis, ob jemand nahrungslos lebt oder ob er aus geheimen Quellen sich zu ernähren weiß, kann nie durch theologische Betrachtungen gewonnen werden. Man muß medizinischen Fachleuten die volle Möglichkeit gewähren, einwandfreie Untersuchungen durchzuführen. So bezeichnet die Kirche beispielsweise erst dann eine Krankenheilung als wunderbar, wenn die prüfenden Ärzte einhellig zum Urteil kommen, daß jede natürliche Erklärbarkeit ausgeschlossen ist.

Dr. Deutsch schreibt:

"Über die genannten Fragen hat im Falle Konnersreuth kein Theologe, und sei er Erzbischof und Kardinal, eine Entscheidung zu treffen, sondern ganz allein der Fachmann, also der Arzt. Kann aber der Arzt nachweisen, daß die Angaben der Untersuchten auf Hysterie beruhen und lügnerisch und unwahr sind, so wird kaum ein vernünftig denkender Mensch sich bereit finden, nun noch die Frage aufzuwerfen, ob hier wirklich Gottes unmittelbares Walten im Menschen sichtbar wird." (2)

Das Buch Echte und falsche Mystiker ist eine Frucht der Zusammenarbeit des Verfassers, des Neurologen und Psychiaters Jean Lhermitte, mit zwei gelehrten Karmelitermönchen. Dieser hervorragende Arzt und Wissenschaftler urteilt über Therese Neumann:

"Es kann ohne Übertreibung behauptet werden, daß es keinem mit den Gegebenheiten der Psychopathologie vertrauten Menschen schwer fallen dürfte, in den vielerlei Erscheinungen, an denen Therese Neumanns Leben so reich war, die Züge der hysterischen Neurose zu erkennen." (2a)

Wir erinnern uns an die Vielzahl der Leiden und Gebrechen, die sich bei Therese Neumann seit 1918 einstellten. Von Anfang an lautete die ärztliche Diagnose "Hysteria maior", das heißt schwere Hysterie traumatischen Ursprungs. René Biot spricht von Kranken,

"die den eigenartigen Hang haben, in und mit ihrem Leib Anomalien der organischen Funktionen zu verwirklichen, deren Gedanke sich in ihnen eingenistet hat. Sie unterliegen so sehr seiner Gewalt, daß sie ihn leben. Es beherrscht sie dermaßen, daß sie ihn verkörpern." (3)

Das Urteil über Thereses Krankheiten seit 1918 ist klar, wie Biot feststellt:

"Wir müssen festhalten, daß bei Therese Neumann so klar wie nur irgendwie möglich die Diagnose der Hysterie gestellt worden ist, um damit medizinisch die Kette von Krankheitserscheinungen zu charakterisieren, die sie bereits vor dem Auftreten der Wunden zeigte." (4)

Als Zeuge für die Echtheit der Konnersreuther Phänomene wird gern Prof. P. Gemelli von Mailand angeführt. Er war im Frühjahr 1928 zweimal in Konnersreuth und soll das Urteil abgegeben haben:

"Von Hysterie ist keine Spur, und natürlich sind solche Zustände wissenschaftlich nicht zu erklären." (5)

Therese selber versicherte dem Arzt Dr. Witry, sie habe mit eigenen Ohren gehört, was Gemelli gesagt habe.

"Ich habe", so beteuert sie, "ganz genau gesehen, wie er da beim Fenster mit der Hand: Nein - gewinkt und gesagt hat: Non hysterica." (6)

Hier handelt es sich jedoch nicht um wirkliche Aussagen, sondern um Wunschäußerungen. Schon die Tatsache, daß Gemelli in seinem Bericht vom 26. Mai 1928 die Ausdrücke "Stigmata" und "Ekstasen" in Anführungszeichen gesetzt hat, gibt Aufschluß, wie er hierüber gedacht hat. Freilich, Gemelli war erfahrener Wissenschaftler, dem ein zweimaliger Besuch in Konnersreuth nicht zur Abgabe eines endgültigen Urteils genügte. Darum betont er auch, er wolle sich "jeder erklärenden Hypothese oder Behauptung über den Charakter der beobachteten Erscheinungen enthalten". Aber was er schreibt, ist deutlich genug:

"Ich muß endlich den Leser auf die auffallende, ja erschütternde Ähnlichkeit aufmerksam machen zwischen Therese Neumann in diesem Zustand und Subjekten im ,Trancezustand' bei spiritistischen Sitzungen. ... Der Herr Pfarrer übt zweifellos einen bedeutenden Einfluß auf Therese Neumann aus. ... Mein Eindruck ist, daß er, sozusagen, die ,Heiligkeit' der Therese Neumann ,pflegt'. Ich will damit den Herrn Pfarrer keineswegs tadeln oder mißbilligen und noch weniger seine Redlichkeit beargwöhnen; ich spreche einen Eindruck aus, dem man sich nicht entziehen kann, und wer mit Psychoasthenischen und Hysterischen lange verkehrt hat, der kann sich nicht dem Eindrucke entziehen, als daß Therese Neumann unter dem Einflusse des Herrn Pfarrers spreche, ja, sie sei nur dessen leises Echo ... Obgleich die Diagnose der Hysterie sich sofort dem Geiste aufdrängt, muß man jedoch bemerken, daß ich ungenügende Elemente zu einer solchen Diagnose gesammelt habe. ... Die Diagnose der Hysterie muß auf eine klinische Untersuchung begründet werden, die zum Beweis führen kann, daß die Persönlichkeit der Therese Neumann und deren ganze Tätigkeit nur im Lichte einer hysterischen Constitution begriffen werden kann."

Zu der von Gemelli geforderten klinischen Untersuchung ist es leider nicht gekommen.

Das gleiche, was über die ersten Krankheiten und die Heilung derselben zu sagen ist, gilt auch für die späteren Gesundheitsstörungen und die sogenannten Sühneleiden, ja für sie erst recht, denn es handelt sich ja gar nicht um Krankheiten im normalen Sinn. Vor allem die Begleitumstände in den Krankheitssymptomen deuten klar auf eine Neurose.

Im Blick auf die Ekstasen verweist Lhermitte auf andere Pseudomystiker. Er spricht von ihren Visionen, vom Hören fremder Sprachen, von ihrem Sprechen in der Ekstase und fährt dann fort:

"Offenbar handelt es sich bei alldem um eine auffällige Zusammenfassung der Phänomene, die wir als psychische Halluzinationen mittels einer Automatisierung der inneren Sprache (gewöhnliche psychomotorische Halluzinationen) gekennzeichnet haben und die sich, wenn sie allzu lebhaft werden, in verbale Impulse verwandeln, wobei das Gefühl einer fremden Gegenwart durch eine visuelle Verkörperlichung noch gesteigert wird." (7)

Die Diagnose "Hysterie" drängt sich ebenfalls auf, wenn man Äußerungen aus dem Munde der Therese Neumann genauer betrachtet. Sehr aufschlußreich sind ihre Gespräche während der Ekstasen, aber auch im Normalzustand mit dem Heiland oder dem "Jesulein". Ebenso klar sprechen ihre Briefe.

."Wir brauchen nicht alle Beweise für eine Hysterie Thereses anzuführen; sie sind überwältigend, und wie Dr. Poray-Madeyski in lichtvollen Ausführungen dargetan hat, genügt die Neurose bei weitem, um alle Phänomene zu erklären, die Therese Neumann zu einer der beachtetsten Persönlichkeiten des Jahrhunderts gemacht haben." (8)

Dieses Urteil von Lhermitte ist sehr eindeutig.

Die Erkennung auf Hysterie bedeutet keineswegs eine Verurteilung des Menschen.

"In Wirklichkeit bezeichnet dieses Wort in der Medizin nur einen krankhaften Zustand des Nervensystems." (9)

Damit ist nicht gesagt, daß solch eine hysterische Person für ihre Handlungen nicht verantwortlich wäre, wenn auch eine Verminderung der Verantwortlichkeit zugestanden werden muß. Hysterische Personen zeichnen sich vor allem durch ein krankhaftes Geltungsbedürfnis aus, durch bewußte und unbewußte Verstellung, durch Unwahrhaftigkeit; sie üben einen schier unwiderstehlichen, faszinierenden Einfluß auf die Umgebung aus, dem sogar erfahrene Psychiater nach ihrem eigenen Geständnis bisweilen zum Opfer fallen. Wer auf das Zeugnis hysterischer Personen Häuser baut, der baut auf Flugsand.

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Letzte Änderung: 26. Dezember 2002