Konnersreuth als Testfall

II. Krankheiten und Heilung

Es wurde bislang in einem ersten Schritt versucht, das Problematik und die Fragwürdigkeit der angeblichen Wunderheilungen und Gebetserhörungen ins Bewußtsein zu rücken, die auf die Fürbitte der Therese Neumann erfolgt seien. In einem zweiten Schritt sollen nunmehr anhand des chronologischen Krankheitsverlaufs weitere Bedenken und Vorbehalte angemeldet werden, die sich auf die Stigmatisierte von Konnersreuth direkt konzentrieren.

1. Zwischen Unfall und Stigmatisation

a) Krankheiten

Die Veröffentlichungen über Therese Neumann, die von ihren verschiedenen Leiden und ihren wunderbaren Heilungen berichten, stützen sich großenteils auf die Bücher von Fritz Gerlich. Dieser widmet bereits einen großen Teil seines ersten Bandes über die Stigmatisierte von Konnersreuth der Schilderung ihrer mannigfachen Krankheiten. Der zweite Band hat nur ihre Leiden zum Thema, wobei zu berücksichtigen ist, daß Gerlich nicht Arzt, sondern Historiker War. Die Kenntnis über das Leben der Therese Neumann und ihre Krankheiten verdankt Gerlich den Auskünften, die er in Konnersreuth eingeholt hat. Quellen seines Wissens sind vor allem die Familie Neumann und der zuständige Pfarrer Josef Naber. Hauptzeuge dagegen ist die Person, über die er schreibt: Therese Neumann selbst. Gerlich berichtet: „In Konnersreuth erfährt man vielerlei von Therese Neumann, wenn sie im gewöhnlichen Bewußtseinszustand ist. Man erhält aber auch manchen Aufschluß, wenn sie im Zustand der erhobenen Ruhe - gewöhnlich Ekstase genannt - spricht. So ist es auch mir ergangen. Auch über die Schicksale der Therese Neumann habe ich manches durch sie im Zustand der erhobenen Ruhe erfahren.“ Da Gerlich die Äußerungen der Stigmatisierten in der Ekstase für absolut richtig erachtete, weil nach seiner Meinung der Heiland aus ihr sprach, zog er keine der erhaltenen Auskünfte ernsthaft in Zweifel. Im Gegenteil, mögliche Zweifel unterdrückte er aufgrund seiner Überzeugung, der Heiland habe in Wirklichkeit gesprochen.

Bezeichnend ist der Umstand, daß Therese Neumann unentwegt behauptet hat, Gerlich habe Medizin studiert. Als Dr. Seidl ihr auf das bestimmteste versicherte, das sei nie der Fall gewesen, ließ sie sich trotzdem nicht von ihrer Ansicht abbringend.2 Dabei gesteht Gerlich selber, er habe sich „niemals mit den hier in Frage kommenden Krankheitsvorgängen befaßt“.3 Dennoch stellte er Diagnosen auf, wie sie auf Grund bloß mündlich vorliegender Berichte der Beteiligten kein Arzt in solcher Form wagen würde. ja, er übte schärfste Kritik am Urteil erfahrener Fachärzte wie ein Lehrer gegenüber seinen Schülern, obgleich er lediglich das Wissen eines medizinisch - interessierten Laien besaß, der erst im Zusammenhang mit Konnersreuth medizinische Bücher gelesen hat.

Aber auch als Historiker beging Gerlich schwerste Fehler. So hat er es versäumt, die Quellen kritisch auszuwerten. Er hat sich weder bei den Therese Neumann behandelnden Ärzten erkundigt, noch hat er sich um die Einsicht in die ärztlichen Befunde bemüht. Zu Gerlichs medizinischen Auslassungen bemerkt Dr. Seidl: „Gerlichs Krankheitsdarstellung ist ein medizinischer Roman, der allerdings den Vorzug hat, außerordentlich geistvoll und scheinbar lückenlos zusammengestellt zu sein“4.

Gewiß hat Gerlich Monate dafür verwendet, um eine abgerundete Krankheitsgeschichte zu bekommen. Aber leider berücksichtigt er nur das, was seiner vorgefaßten Meinung entspricht. Aus seiner Auffassung heraus, daß in der Ekstase hinter den Worten der Stigmatisierten die Autorität Christi stehe, übernimmt er die Rolle eines Rechtsanwalts, der seinen Schützling auf alle Fälle verteidigt. Hieraus wird verständlich, warum Gerlich Urteile von Ärzten, die nicht in sein Konzept passen, einfach ablehnt. Von den fünf Ärzten, die bald nach der Erkrankung Therese Neumanns konsultiert worden waren, sind vier einmütig zu dem Urteil gekommen, es liege schwerste Hysterie vor. Eine solche Diagnose fand bei Gerlich keine Gnade.

Der einzige behandelnde Arzt, der Gerlichs Beifall findet, ist Dr. Burkhardt, der bereits im Februar 1919 verstorben ist. Alles, was dieser Arzt gesagt haben soll, findet sich ausschließlich in den Angaben der Therese Neumann und ihrer Angehörigen, so daß die „Aussagen von Dr. Burkhardt“ als solche der Stigmatisierten und ihrer nächsten Umgebung anzusehen sind.

Es ist nicht möglich, hier im einzelnen auf die verschiedenen Krankheiten der Therese Neumann einzugehen. Ärzte wie Dr. Deutsch, Poray-Madeyski und andere haben dazu bereits als Fachleute Stellung genommen. Hier soll lediglich eine gedrängte Übersicht geboten werden, die keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Auf Grund dieser überaus zweifelhaften Krankheitsberichte stellt dann Gerlich seine Diagnosen auf. Es leuchtet ein, daß über ein solches Unterfangen eines medizinischen Laien ein Arzt nur den Kopf schütteln kann. Deshalb vermochte ein so erfahrener Facharzt wie Dr. Deutsch diese Diagnosen wiederholt nur als „reines Erzeugnis der Gerlichschen Phantasie“ und als „Unsinn“ zu bezeichnen.

Man findet es unfaßbar, wie viele Krankheiten die Stigmatisierte durchstehen mußte. Die Gebrechen nahmen ihren Anfang am 10. März 1918. Bei einem Brand in Konnersreuth beteiligte sich Therese am Löschen, indem sie Eimer mit Wasser weiterreichte. Plötzlich überfielen sie rasende Schmerzen im Rücken. Nach dem Urteil des Sanitätsrats Dr. Seidl handelte es sich entweder um Muskelzerrung oder um plötzlich einsetzende rheumatische Beschwerden. In den Konnersreuther Schriften ist aber durchwegs die Rede von einer Rückgratverletzung. Zugleich soll sich eine nicht wiederzubehebende „Klemmung des Zentralnervenstranges“ eingestellt haben, der eine fortschreitende Lähmung folgte. Therese kann das Bett nicht mehr verlassen.

Seit diesem Unfall stellten sich Krampfanfälle in immer kürzeren Zwischenräumen ein. Die Kranke fiel bewußtlos zu Boden; „Krämpfe warfen sie manchmal hoch, einmal aus dem Bett heraus“. Die Krampfzustände traten auch an verschiedenen Körperstellen auf, „am linken Schenkel, dann an beiden Beinen, dann am halben Gesicht“. Auch im Krankenhaus von Waldsassen hatte sie unter Anfällen zu leiden. Sie traten noch heftiger auf, als sie wieder zu Hause war. Sie selbst berichtet. - „Meine Krampfanfälle überfielen mich bei den verschiedensten Gelegenheiten ... Die Anfälle stellten sich zuletzt alle Tage, ja sogar täglich öfter ein.“5

Im Jahr 1918 erblindet Therese; 1922 werden die Schluckmuskeln gelähmt, und dieses Halsleiden dauert ununterbrochen bis zum Sommer 1931. Im Jahr 1923 kann Therese plötzlich wieder sehen; aber dafür treten andere Leiden auf. Krampfzustände stellen sich ein und werden immer heftiger und bedrohlicher: „Durch eine dauernde Muskelzusammenziehung wurde das linke Bein angezogen, der linke Fuß kam unter den rechten Oberschenkel zu liegen.“ Großflächige Aufliegewunden am Rücken sowie an Beinen und Füßen, bis auf die Knochen, bilden sich. Dann leidet Therese an einer Blinddarmentzündung „unmittelbar vor dem Durchbruch“, wird jedoch auf wunderbare Weise geheilt, als man sie ins Krankenhaus bringen wollte. Magengeschwüre setzen ihr heftig zu, und dann tritt ein subphrenischer Abszeß (Eiteransammlung unterhalb des Zwerchfells) auf. Hinzu kommen Halsgeschwüre, Mandelentzündungen, Furunkel in der Achselhöhle und im Ohr, allgemeine Sepsis, Rheuma und Herzbeschwerden, Lähmungen verschiedenster Art. Zur Blindheit gesellt sich Taubheit, die bald verschwindet, bald sich wieder einstellt. Sprechstörungen treten auf, Krämpfe, Husten, Seitenschmerzen, Störungen der Blase und des Mastdarms sowie der Menstruation. Um 1919 soll Therese einen schweren Schädelbasisbruch erlitten haben, den man auf nicht weniger als elf Unfälle zurückführen wollte, die sie im kurzen Zeitraum von 15 Monaten erlitten haben soll. Zeugen für diese Unfälle allerdings gab es nie.

Trotz der elf Unfälle und des Schädelbasisbruchs brauchte Therese nie die Hilfe eines Arztes. Als der letzte Sturz am I7. März 1919 erfolgt sein soll, war Therese schon längst in der Behandlung Dr. Seidls. Niemand hat ihm etwas über den Unfall gesagt, obwohl er am 21. März einen Besuch im Hause Neumanns machte. Auch der Dienstherr der wiederholt „Verunglückten“ hat nichts von Unfällen erfahren; „selbst dem Pfarrer Naber waren sie unbekannte.“6 Doch als Gerlich über Konnersreuth zu schreiben begann, machten ihm Therese Neumann und ihre Angehörigen genaue Angaben über die Unfälle und ihre Folgen.

Bemerkenswert ist, daß Therese Neumann bereits bis drei Monate vorher das Entstehen eines Magengeschwürs bemerkt haben will. Wäre Gerlich Arzt gewesen, hätte er ihr es sicher nicht abgenommen. In einem Brief vom 27. Mai 19237 schildert Therese ihre durch ein „Magengeschwür“ verursachten Beschwerden:

„Schon seit Weihnachten spürte ich, daß im Magen sich wieder ein Geschwür bildete. Kurz vor Ostern konnte ich wieder ziemlich schlucken, aber Speisen zu mir nehmen konnte ich wegen des Magens nicht. Um die Karwoche wurde ich so schlimm, mein Magengeschwür wurde so groß, daß Herz und Lunge vor lauter Geschwulst nicht mehr funktionierten. Ich bekam kaum mehr Atem. Dieser Zustand dauerte bis zum 25. April. Ich empfing die hl. Sterbesakramente abends, ich war dem Ersticken nahe. Der hochw. Herr Pfarrer meinte, das Geschwür könne nicht aufgehen, ich aber hatte so viel Qual, daß ich mich kaum mehr auskannte. Auf einmal, erzählte mir meine Mutter, wurde ich ganz steif und blau, ich bekam überhaupt keinen Atem mehr, alle meinten, jetzt kommt's zum Sterben. Da auf einmal ging es auf und das Brechen los. Ich wurde dann etwas leichter, war aber sehr matt. Ich durfte jetzt nur Eis schlucken, auch das Bluten wollte kein Ende nehmen. Im Verstand wurde es wieder leichter, langsam besser ...“

Eine mehr als fragwürdige Eigendiagnose, die auf ein Magengeschwür schließen läßt, das mit Sicherheit noch kein Arzt behandelt hat.

„In Wirklichkeit hat ein Magengeschwür mit den anderen Geschwüren nichts gemeinsam als den Namen Geschwür. Es handelt sich bei einem Magengeschwür um einen mehr oder weniger tiefen, oft kreisrunden Defekt in der Magenwand, in welchem Bereich sich der Magen gleichsam selber verdaut. Von Eiterbildung ist keine Rede.“8

Auf Grund einer weiteren Eigendiagnose stellt Therese im Jahr 1924 ein „Geschwür im Kopf“ fest9. Blut und Eiter fließen aus einem Ohr und aus beiden Augen; sie leidet furchtbare Qual: „Heute noch sieht man auf beiden Händen die Masen, wo ich vor lauter Qual aufkratzte. Auch raufte ich mir ganz die Haare aus.“ Das berichtet sie zehn Monate später in einem Brief. In der Karwoche beißt sie sich die Zunge fast durch, so daß sie der Geschwulst wegen nicht mehr reden kann. Aus dem Geschwür im Kopf fließt später etwa ein Viertel Liter Eiter ab, es wiederholt sich aber wieder. Auch in diesem Fall wurde kein Arzt konsultiert. Wo sollte auch dieses Riesengeschwür im Kopf seinen Sitz haben, ein Geschwür, von dem aus Blut und Eiter in einer unglaublichen Menge gleichzeitig durch die Augen und ein Ohr abfließen? Bei dieser Sachlage kann man nicht begreifen, daß die wiederholt und mit Nachdruck geforderte klinische Untersuchung unnachgiebig abgelehnt wurde, nicht zuletzt mit dem Hinweis auf mögliche Schmerzen, die im Zusammenhang damit zugemutet werden könnten - eine Haltung, die beim Anspruch auf ein heiligmäßiges Leben befremdlich anmutet.

b) Heilungen

Wirbelverrenkung

Auf einige Krankheiten sei kurz eingegangen. Da ist einmal die Wirbelverrenkung am 10. März 1918. Als einziger Arzt soll Dr. Burkhardt eine Verrenkung der Lendenwirbelsäule festgestellt haben. Dieser Arzt ist bereits, wie erwähnt, im Februar 1919 gestorben, und seine Diagnose fand nie eine Bestätigung, da eine Röntgenaufnahme nie gemacht wurde, auch nicht von Dr. Burkhardt. Acht Tage nach dem Unfall wurde der Arzt Dr. Göbel gerufen. Auf die Frage nach der Art der Beschwerden klagte Therese über vom Rücken ausstrahlende Schmerzen; sie habe das Gefühl, wie wenn ihr der ganze Leib mit einem Strick zusammengeschnürt würde. Zugleich sprach sie von Magenbeschwerden. Sie wurde in das Krankenhaus von Waldsassen eingewiesen, wo sie angeblich auf Magensenkung behandelt wurde.1

Im Gesuch um Gewährung einer Rente wird besonders betont, eine sichtbare Verletzung habe nicht stattgefunden. Dr. Seidl versicherte ausdrücklich und blieb auch später bei seiner Diagnose, daß eine Luxation der Wirbelsäule nicht vorgelegen habe; es habe sich lediglich um eine Muskelzerrung gehandelte.2 Auch die vier Ärzte, die konsultiert wurden, entdeckten als Ursache der Beschwerden keine Verrenkung der Lendenwirbelsäule; das im Februar 1920 verfaßte Protokoll für den Antrag einer Unfallrente weiß nichts davon. Therese und ihr Vater führten dies darauf zurück, daß sie den Ärzten gegenüber zwar erklärt hätten, die Erkrankung habe im Zusammenhang mit dem Brand begonnen; „aber von Schmerzen im Rücken sagten sie nichts, weil sie nur beantworten wollten, um was sie gefragt wurden.“3 In dem von vier Ärzten unterzeichneten Gutachten - zu ihnen gehört auch Dr. Seidl - wird einstimmig irgendeine sichtbare Verletzung verneint, und als Ursache der Arbeitsunfähigkeit wird „sehr schwere Hysterie mit Blindheit und partikulärer Lähmung“ als Folge eines Schocks angegeben, den Therese beim Brandunfall erlitten hatte.4

In einem Bericht vom 15. Dezember 1921 kommt Dr. Seidl nochmals auf das Gutachten vom 27. Februar 1920 zu sprechen.5 Als Gründe, die gegen eine Wirbelluxation sprechen, führt er an: Nach Ablauf der Krankenhilfe wurde nicht etwa eine Unfallrente bei der zuständigen Landesversicherungsanstalt beantragt, sondern eine Invalidenrente. Daraufhin reichte der Oberregierungsrat Engl am 21. Januar 1919 den Antrag an die Gemeinde von Konnersreuth zurück mit der Frage, warum die Unfallanzeige verspätet erstattet worden sei. In zwei Antwortschreiben heißt es dann: „Wegen Mangel einer sichtbaren Verletzung“ und: „Weil eine sichtbare Verletzung nicht stattgefunden hat.“ Zur zweiten Begründung betont Dr. Seidl im Jahr 1921 ausdrücklich: „Ich muß wiederholt hervorheben, daß eine Luxation der Wirbelsäule nie bestand..., nur Muskelzerrung."“

Der Krankenbericht des Arztes vom 27. Februar 1920 stützt sich auf Mitteilungen von Thereses Eltern, die sie dem Arzt bei der Übernahme der Behandlung machten, ein zweites Mal, als die Untersuchung zur Unfallbegutachtung stattfand; außerdem gründet er auf einer Darstellung des Herganges seitens des Dienstherrn der Erkrankten. Therese selber war zu dieser Zeit „geistig häufig in einer nicht klaren Verfassung“, so daß sie selbst verläßliche Angaben nicht machen konnte. Aber auch später hat sie Dr. Seidl nichts davon erzählt, daß sie „nach dem Verspüren eines Knicks im Rücken rücklings hinfiel und sich nicht mehr erheben konnte“, wie Wunderle berichtet. Der behandelnde Arzt hat erstmals nach dem 29. April 1923 von einer Verrenkung der Wirbelsäule erfahren, also erst nach der angeblichen Heilung von der Blindheit. Der Vater wußte, als er seine Angaben machte, nichts „von irgendeiner Verletzung“; er erklärte nur, „daß sie beim Anblick des Feuers sehr stark erschrocken sei, so daß sie am ganzen Körper zitterte“. Nicht einmal am 28. Juli 1927, als Therese im Beisein der Ärzte Dr. Seidl und Dr. Ewald den Beginn ihrer Krankheit schilderte, erwähnte sie eine äußere Verletzung: „Beim Anblick des Feuers sei sie sehr stark erschrocken, so daß sie am ganzen Körper zitterte und durch Schrecken ganz gelähmt war.“ Trotzdem beteiligte sie sich am Löschen, indem sie Wasser von der Pumpe herbeiholte und dem Dienstherrn, der auf einer Leiter stand, hinaufreichte. Bei dieser Arbeit wurde sie durchnäßt. Nach Beendigung der Löscharbeiten war sie sehr stark erkältet und kränkelte von diesem Tag an, war matt, appetitlos, schlaflos, schleppte sich umher, konnte nicht recht anfassen und mußte schließlich ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Obwohl Dr. Seidl Pfarrer Naber wiederholt vor einer falschen Darstellung warnte, „weil eine Luxation nie vorhanden war“, behauptete der Pfarrer im Jahr 1926 in einem Artikel in der „Grenz-Zeitung“ die Diagnose einer Verrenkung der Wirbelsäule und eine Verletzung des Rückenmarks6. Therese selber bezeichnet in einem Brief vom 26. Januar 1926 ihr Leiden als „Rückenmarksleiden“ und behauptet: „Wieviel Ärzte sagten, daß ich chronisches Rückgratleiden habe.“6a

Alles, was Therese Neumann Jahre nach dem Beginn ihrer Leiden über deren Ursache ausgesagt hat, erscheint somit als unwahr, wie es ein Beleg aus dem Bericht des Sanitätsrats Dr. Seidl vom Jahr 1927 bestätigt:

„Auch die Therese Neumann stellt jetzt den Vorgang so dar, daß sie bei der Löscharbeit plötzlich einen heftigen Schmerz in der Wirbelsäule empfunden, daß sie ferner am 21. Oktober 1918 beim Aufheben eines Siebes plötzlich wieder einen derartigen Schmerz im Rücken gespürt habe, so daß sie zusammenfiel und fortgetragen werden mußte. Alle diese Darstellungen decken sich nicht mit der von mir gelegentlich der Unfallbegutachtung (27. Februar 1920) erhobenen Krankengeschichte.“

Pfarrer Naber glaube, die Lähmungserscheinungen sowie die Blindheit und Taubheit auf eine Verletzung der Wirbelsäule zurückführen zu können. Diese Annahme sei medizinisch unhaltbar. Eine Blasen- und Mastdarmlähmung, wie behauptet werde, sei nie vorhanden gewesen.

Es besteht nicht der mindeste Grund, die ärztliche Diagnose anzuzweifeln. Auch das Verhalten der Kranken nach dem angeblichen Unfall bestätigt das Urteil des Facharztes. Therese vermochte noch monatelang danach zu gehen und zu arbeiten, und zwar ohne allzu große Schwierigkeiten. Das wäre bei einer ernsthaften Verletzung nicht möglich gewesen.

Befassen wir uns noch einmal mit der angeblichen Diagnose des Arztes Dr. Burkhardt. Dorsaz schreibt:

„Dr. Burkhardt ist vielleicht der einzige Arzt, der die wahre Natur des Übels erkannt hat, da er eine Rückgratwirbelverletzung vermutete. Eines Tages fragte er Therese, ob ihr nicht einmal ein Unfall zugestoßen sei. Sie erwiderte, daß mehrere solche vorgekommen seien. ,Da haben wir es ja!', rief er; sie werde wohl wieder aufkommen, aber es werde sehr lange dauern.“7

Das ist keine ärztliche Diagnose, die eine Rückgratwirbelverletzung konstatiert. Außerdem hatte ja Therese bei dem Brand weder einen noch mehrere Unfälle. Kein Arzt hat jemals eine entsprechende Verletzung festgestellt.

Wie Prof. Wunderle bemerkt8, wurde im Jahr 1927 die Lage der Lendenwirbel nach ärztlichem Urteil als normal bezeichnet. Merkwürdigerweise heißt es in dem am 7. Februar 1943 von Dr. Mittendorfer ausgestellten Attest:

„Es bestehen noch heute die Residuen der seinerzeitigen Rotationsluxation mit heute noch deutlich fühlbarer, druckschmerzhafter Deviation des 3. und 4. Lendenwirbels um einen schwachen Zentimeter; Flevationsbeschwerden des gebeugten Körpers, besonders nach Anstrengung, verbunden mit, bis zur Erschlaffung der Wadenmuskulatur sich steigernden, krampfhaften Sensationen der Waden beiderseits.“9

Zu diesem ärztlichen Zeugnis machte Prof. Dr. Mayr am 7. Februar 1943 „Erläuterungen“10. Er beruft sich auf die Aussage der Therese Neumann, die sie in Gegenwart des Pfarrers von Konnersreuth und des Arztes Dr. Mittendorfer machte:

„Sie bestätigte, daß sie an der im Zeugnis von Herrn Dr. Mittendorfer bezeichneten Stelle bei Druck immer noch Schmerz empfinde. Sodann richtete sie sich auf dem Stuhle, auf dem sie saß, gerade auf und versuchte, das Kreuz nach vorne durchzubiegen. Rasch aber ließ sie von dieser Bewegung ab, während sich gleichzeitig ihre Miene schmerzlich verzog, und sie erklärte, daß sie auch bei dieser Bewegung an jener Stelle Schmerz verspüre. Diesen Schmerz hatte ihr der Heiland gelassen, damit sie immer wieder an ihr einstiges schweres Leiden und an die wunderbare Heilung erinnert werde. Sonst, fügte sie bei, habe sie im Kreuz keine Schmerzen mehr.“

Wie kommt Dr. Mittendorfer zu seiner Diagnose, nachdem doch Pfarrer Naher im Jahr 1926 in der „Grenz-Zeitung“ versichert hat, die Heilung am 17. Mai 1925 sei vollständig gewesen? „Von da an“, sagt Naber, „waren die zwei Rückgratwirbel, die vordem etwas eingedrückt und seitlich verschoben waren, in natürlicher Lage.“ Was Dr. Mittendorfer konstatiert, könnte ein zu späterer Zeit aufgetretener Körperfehler sein; wenn er einer von einer „seinerzeitigen Luxation“ spricht, dann stellt er sich gegen das einstimmige Urteil seiner Kollegen, die seinerzeit eine Untersuchung vorgenommen haben. Jedenfalls hatte Therese Neumann im Jahr 1927 keinerlei entsprechende Beschwerden. Dr. Ewald hat sie untersucht und festgestellt: „Die Wirbelsäule zeigt sich im ganzen Verlaufe völlig normal, nirgends druckschmerzhaft.“ Im Lichte dieser Diagnosen läßt sich sicher nicht von einer „wunderbaren Heilung“ reden, die solche Beschwerden zurückläßt, wie sie Dr. Mittendorfer vorfindet; vor allem wenn man bedenkt, daß Therese Neumann Jahr für Jahr ausgedehnte Reisen unternommen hat, wobei sie wochen-, ja monatelang fern von Konnersreuth weilte. In dieser Zeit stellten sich die von Dr. Mittendorfer genannten Beschwerden offenbar nicht ein.

Bischof Waitz wendet sich gegen die Feststellung, die genannte Verletzung sei nicht durch eine medizinische Untersuchung konstatiert worden, und meint:

„Wenn man so vorgeht, wird man schließlich sagen können: Der Tod Christi am Kreuze ist auch nicht ärztlich festgestellt worden. Deshalb hat man keine Pflicht zu glauben, daß Jesus gestorben und von den Toten auferstanden ist. Es ist Unsinn, sich mit solchen Sachen herumzuplagen.“11

Diese sonderbare Beweisführung ist im Falle Therese Neumanns insofern widerlegbar, als hier ein medizinisches Gutachten vorliegt, das auf Grund einer durch mehrere Ärzte vorgenommenen Untersuchung erstellt wurde.

Aufliegewunden und Wundbrand

Angeblich führte das ständige Liegen auf den selben Körperstellen zu so schweren Wunden, daß sogar die Knochen freilagen12. Dem Erzbischof Teodorowicz versicherte Therese13: „Der linke Fuß hatte vom Knöchel bis zur Sohle keine Haut mehr, der Knöchel war blank. Am Rücken hatte ich sechs bis acht Flecken, etwa so groß wie ein Markstück oder auch wie Handbreite. Aus allen Wunden sickerte Wasser, Blut und Eiter.“ Die Mutter versuchte, die Schmerzen durch Auflegen von Hühnerfett zu dämpfen. Die Aufliegewunden sollen dann auf wunderbare Weise plötzlich verheilt sein, ohne Narben zu hinterlassen. Prof. Dr. Ewald meint dazu14: „Allzu schlimm kann es nicht gewesen sein; denn heute sind Narben nicht zu erkennen.“ Doch für die Anhänger von Konnersreuth gilt gerade diese Tatsache, daß keine Narben zurückblieben, als Beweis für ein Wunder. Dr. Deutsch erklärt hierzu15: „Den Angaben der Therese widerspricht auch ein früherer Bericht des behandelnden Arztes Dr. Seidl; er hat solche Durchliegewunden, wie Therese sie angibt, bei ihr nie festgestellt.“ Weder in seinem ärztlichen Bericht vom Jahr 1926 noch in dem aus dem Jahr 1927 erwähnt er auch nur mit einem Wort Dekubitalgeschwüre.

Erzbischof Teodorowicz, der für die übrigen „wunderbaren Heilungen“ eine natürliche Erklärung einräumt, betrachtet das Verschwinden des Druckbrandes als unbezweifelbares Wunder. Von einem Wunder kann jedoch nicht im entferntesten die Rede sein. Der medizinische Experte der Ritenkongregation Poray-Madeyski folgert aus den Beschreibungen der Wunden, wie sie Witt und Gerlich - natürlich bloß auf Schilderungen hin - bringen, daß es sich keinesfalls um tiefe Wunden gehandelt haben kann. „Der Beweis dafür liegt in der seriösen, blutigen, eiternden Art der Sekretion, die auf angstneurotischen Ursprung der Wunde deutet.“ Wie Therese dem Pfarrer Witt erzählte, hatte sich nach Abnahme des Verbandes herausgestellt, daß sich eine neue, wenn auch zarte Haut gebildet hatte, die ein bläuliches Aussehen besaß. Dazu sagt der genannte Arzt: „Diese Heilung, d. h. die Überdeckung der Wunde mit einem feinen bläulichen Häutchen, wurde erst sechsunddreißig Stunden nach dem letzten Verband festgestellt, also nach einem Zeitraum, der für die Bildung eines solchen Deckhäutchens auf rein natürlichem Wege voll und ganz genügte.“ Er urteilt weiterhin aus seiner Erfahrung heraus, daß solche Aufliegewunden „spontan auf vollkommen natürliche und natürlich erklärbare Art und Weise“ heilen und eine dünne Deckmembrane bilden, „ohne eigentliche Narben zurückzulassen“16.

Die Aufliegewunden wurden, so heißt es beispielsweise in Steiners Buch, durch eine „dauernde Muskelzusammenziehung“ verursacht. „Der linke Fuß kam unter den rechten Oberschenkel zu liegen“, so daß Therese nur noch auf dem Rücken zu liegen vermochte. Die schlimmste Wunde bildete sich am linken Fuß; sie sonderte über ein halbes Jahr hindurch Eiter ab; „der Knöchel lag blank“. Als der Arzt die Befürchtung aussprach, der Fuß müsse amputiert werden, legte man in den Verband ein Rosenblatt, das an den Gebeinen der seligen Theresia von Lisieux berührt worden war, worauf sofort die Heilung erfolgte. Dies ereignete sich Anfang Mai 1925. In diesem Konnersreuther Bericht ist der Umstand schwer zu verstehen, daß der Wundbrand zwar verschwunden war, daß aber die Ursache desselben, nämlich die unnatürliche, verkrampfte Lage des linken Beines, fortdauerte, und zwar bis zum nächsten „Wunder“ am 17. Mai 1925. Zweifelhaft erscheinen die Dinge jedoch auch aus einer anderen Überlegung: Falls durch ein Rosenblatt eine tiefe Wunde am linken Fuß urplötzlich zum Verschwinden gebracht wurde, warum hatten Therese Neumann und ihre Angehörigen nicht dasselbe wirksame Heilverfahren auch bei den übrigen Aufliegewunden angewandt?

Ebenso ausgeschlossen ist die Behauptung, der behandelnde Arzt habe von einer Amputation des Fußes gesprochen. Dr. Seidl kommentiert die Berichte über die plötzlichen Heilungen:

„Man liest in den verschiedenen mit den Konnersreuther Ereignissen sich befassenden Abhandlungen über die plötzliche Heilung einer Eiterwunde des linken Fußes über Nacht durch Einlage von Rosenblättern, welche am Grabe der hl. Therese berührt und dort geweiht worden waren, in den Verband, ebenso von der plötzlichen Heilung eines Decubital-Geschwürs am Rücken zu gleicher Zeit mit der Heilung der Lähmungen. Ich kann darüber leider kein Urteil abgeben, da ich unmittelbar vor dem Zustandekommen der Heilung die Decubital-Geschwüre nicht gesehen habe, und andererseits bei meinem ersten Besuche nach der Heilung auf das plötzliche Verschwinden derselben nicht aufmerksam gemacht wurde, so daß eine sofortige Nachuntersuchung unterblieb.“17

Wie hätte der Arzt ohne eingehende Untersuchung von einer vorzunehmenden Amputation des Fußes sprechen können? Am 17. Mai sollen die übrigen Aufliegewunden plötzlich verheilt sein. Abgesehen von den Angaben der Familie Neumann, gibt es auch hierfür keine Bestätigung. Waren überhaupt Wundstellen vorhanden? In einem Brief vom 16. Juni 1925 schildert Therese ihre „Wunderheilungen“. Mit keinem Wort ist hier die Rede von Wundbrand, sondern lediglich von einem Hals- und „Rückenmarkleiden“. Desgleichen ist kein Hinweis zu finden auf das Verschwinden der angeblich so gefahrdrohenden Wundstelle am Fuß. Therese schildert lediglich:

„Meine Knorbeln im Rücken sind jetzt ganz grad; auch das Bein ist jetzt grad, bloß ein bißchen kürzer. Wie's mir was streckte, wurde mir gar nicht inne. Aber meine lb. Mutter und die ehrw. Schwester sahen's, wie es sich in der Std. streckt. ... In einigen Tagen kam H Dr. Seidl, der nur so staunte. Er untersuchte mich ganz gründlich und fand, daß mein Rückenmarkleiden ganz geheilt sei. Aber ganz gesund bin ich noch nicht, weißt, das andere Leiden, das vom Blut herkommt, ist mir geblieben. ... Denk nur, die Krämpfe und die Lähmungen sind Gott sei Dank ganz verschwunden.“

Hier sagt Therese Neumann nicht die Wahrheit. Dr. Seidl hat bei seinem ersten Besuch nach der Heilung keine Untersuchung vorgenommen. Er kann über die Heilung des Rückenmarkleidens nicht gestaunt haben, weil das Gebrechen nie vorhanden war. Wie Dr. Steiner erwähnt, hat Dr. Seidl im April 1925 von einer etwa notwendig werdenden Amputation gesprochen. Wie konnte man nur dem Arzt die Erteilung eines derart schauderhaften Rates andichten?

Sechs Jahre später mußte Therese Neumann angeblich wieder die Beschwerden des Wundbrandes erdulden: „Die ganze siebenwöchige Fastenzeit mußte sie Tag für Tag unbeweglich auf einem Fleck liegen. So kam es, daß sie sich stark auflag.“ Die Mutter behandelte die Wundstellen wie früher mit Hühnerfettl8, aber von einer wunderbaren Heilung ist diesmal nicht die Rede. Dabei wäre nichts näher gelegen, als daß man es diesmal genauso gemacht hätte wie früher, da ein Rosenblatt wunderbare Hilfe brachte. Ohne Zweifel lag gar kein Wundbrand vor; so rasch bilden sich nicht Aufliegewunden, zumal Therese Neumann bestimmt nicht Tag für Tag unbeweglich liegen blieb.

Hätte die siebenwöchige Krankheit im Jahr 1931 Wundbrand zur Folge gehabt, dann müßte das gleiche für das Jahr 1927 zutreffen, als Therese angeblich in einer ähnlichen Lage war, jedoch ohne die selben Folgen. Spirago berichtet, Therese habe in der Fastenzeit dieses Jahres ein schweres Sühneleiden erduldet:

„Da war sie am ganzen Leib angeschwollen, so daß man meinte, sie hätte die Wassersucht. Sieben Wochen lang mußte sie auf einem und demselben Fleck liegen bleiben und konnte sich auf ihrem Lager gar nicht bewegen. Nichht einmal das Kreuz machen konnte sie, wenn sie die hl. Kommunion empfing. Sonderbarer Weise konnte sie aber, sobald die Freitags-Ekstase kam, die Hände bewegen und sie nach dem Heiland, den sie vor sich sah, ausstrecken.“19

Blindheit

Vier Jahre hindurch soll die Kranke völlig blind gewesen sein. Handelte es sich um eine organische Erblindung der Augen? Allein schon die Schilderung dieses Leidens, die auf Therese Neumann und ihre nähere Umgebung zurückgeht, spricht dagegen. Ganz eindeutig widerlegt das Gerede von einer organischen Erkrankung das ärztliche Urteil. Aus den Berichten geht hervor, daß die Sehkraft der Augen allmählich geschwunden war. Das beginnende Leiden kündigte sich bereits im Sommer 1918 durch „Flimmern vor den Augen“ an. Später vermochte Therese nicht mehr zu lesen; dann erkannte sie die Gegenstände nur mehr unklar; im März 1919 trat, wie es heißt, nach einem heftigen epileptischen Anfall vollständige Blindheit ein. Aber auch jetzt handelte es sich nicht um eine Totalerblindung. Im Bericht vom 5. Dezember 921 schreibt Dr. Seidl: „Die Blindheit besteht noch, nur gibt Therese Neumann an, daß sie beim Schauen in das Licht mit dem redeten Auge eine ganz schwache Lichtempfindung habe.“20 Überdies beruft sich Dr. Ewald auf eine „zuverlässige Kollegenquelle“ - es handelt sich wahrscheinlich um Dr. Seidl -, woraus hervorgeht, daß Therese eines Tages ihrem kleinen Bruder etwas Unrechtes verwiesen habe, worauf dieser erstaunt eingewandt habe: „Aber Du kannst das doch gar nicht sehen.“21

Dr. Seidl versuchte zwar wiederholt, die Augen zu untersuchen, aber es gelang ihm nicht: „Augenspiegeln war unmöglich, da sich beim Versuch zu spiegeln sofort heftige Zuckungen am ganzen Körper mit Bewußtseinstrübungen einstellten.“ Alle zu verschiedenen Zeiten unternommenen Versuche scheiterten; immer, wenn ein Lichtstrahl in das Auge traf, setzten „epileptische Krämpfe“ ein. Das Gutachten der behandelnden Ärzte konstatiert, daß die Augen der Patientin damals „jeden Einfall des Lichts mit einer Verengung der Pupille beantworteten genauso, wie jedes gesunde Auge tut.“ Es handelt sich demnach lediglich um eine hysterische Blindheit, wie man sie nach Dr. Deutsch gar nicht so selten antrifft. Dr. Seidl hat, wie er wiederholt versicherte, die Blindheit von Anfang an als ein hysterische aufgefaßt; eine Pupillenstarre, von der die Konnersreuther Schriften reden, wurde, wie wir gesehen haben, nie beobachtet. Auch das Gutachten für die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft vom 27. Februar 1920 lautet: „Schwerste Hysterie mit Blindheit und teilweiser Lähmung.“

Am 27. Mai 1923 schrieb Therese Neumann einen Brief an eine ehemalige Lehrerin in Konnersreuth. Darin erwähnt sie, ein Jahr zuvor habe Dr. Seidl zu ihrer Tante gesagt: „Mit den Augen ist alle Hoffnung dahin. Die Sehnen sind tot; da müßte ein Wunder geschehen, wenn sie wieder gesund werden sollte.“22 - Daß sich Dr. Seidl so geäußert hat, ist offenkundig unwahr; er hätte sonst nicht den Vater damit trösten können, „daß es sich um eine nervöse Erblindung handle, die wieder zurückgehen werde“23

In diesem Zusammenhang muß auch auf die Behauptung hingewiesen werden, Therese sei im Zustand der sogenannten gehobenen Ruhe während der Ekstasen völlig blind gewesen. Versuche, die unternommen wurden, hätten zweifelsfrei erwiesen, daß sie nicht das Geringste sehen konnte24. Blindheit während der Freitagsekstasen bezeugt in der Tat P. Gemelli in seinem Gutachten vom 26. Mai 192825; er spricht von einer „vollständigen Amaurosis“, von einer „Gefühl- und Schmerzunempfindlichkeit der Gesichtshaut, sowohl als des Halses und der Oberlider“; nur darauf hatte er sich bei seiner Untersuchung beschränkt. F. Gemelli spricht in diesem Zusammenhang von einer „auffallenden, ja erschütternden Ähnlichkeit“ mit Erscheinungen im Trancezustand bei spiritistischen Sitzungen. Während der Ekstasen lag also keine organische Blindheit vor. War es früher eine solche?

Wie Lama bemerkt26, blieb Therese Neumann auch im Zustand der "Eingenommenheit" nach Beendigung der Freitagspassion blind. Da brachte man ihr an einem Freitag nachmittags einen Käfig mit zwei Wellensittichen, die schon längst erwartet worden waren. Als die Mutter von den Vögeln sprach, forderte Therese voll Ungeduld: „Bring sie nur gleich her!“ Sie hatte aber vergessen, daß sie nichts zu sehen vermochte. Erst als der Käfig vor ihrem Bett stand, dachte sie daran. Nun mußte der Heiland helfen. Wie ein Kind bettelte sie: „Heiland, geh, laß mich doch die kleinen Vögerln ein wenig sehen! Nur ein klein wenig möchte ich sie sehen. Heiland, sei so gut!“ Und wirklich, Therese durfte die Vögel sehen. Als die Tiere wieder fortgebracht worden waren, war Therese blind wie zuvor.

Einen sehr lehrreichen Fall von hysterischer Blindheit beschreibt Dr. Stern27 folgendermaßen:

„So sah ich einen im Feld nach Schreck und leichter Hornhautverletzung blind gewordenen Mann, der jahrelang in einer Blindenanstalt bei hysterischem Gesamtverhalten wie ein wirklich Blinder sich benahm und alle schauspielerischen Verhaltensstörungen vermissen ließ; er wurde von mir in Hypnose mit galvanischem Lichtblitz und entsprechender Suggestion geheilt.“

Lähmungserscheinungen

Was ein Mitglied des Konnersreuther Kreises, Pfarrer Leopold Witt, über das Aufhören der Lähmungserscheinungen aussagt, das gilt für alle „wunderbaren Heilungen“: Es fehlt jede, aber auch jede Voraussetzung für die Annahme eines Wunders. Witt meint, man könne von einem „eigentlichen Wunder“ nicht sprechen „mangels der notwendigen ärztlichen Unterlagen“. Er beruft sich auf den „überzeugenden Befund der beiden behandelnden Ärzte“ und gesteht, von einer „eigentlichen Lähmung könne man nicht sprechen“28. Ebensowenig kann man eine wunderbare Heilung annehmen. Dafür genügt Therese Neumann selbst als Zeugin. Aus ihrem Gespräch mit Pfarrer Witt geht hervor, daß sie am 17. Mai 1925 nach längerer Zeit wieder zu sprechen vermochte. Um diese Zeit hat ihr „die Stimme“ das Ende der Lähmungserscheinungen angekündigt. Auf die Aufforderung des herbeigeholten Pfarrers von Konnersreuth hin verließ Therese das Bett und ging ein paar Schritte im Zimmer umher; doch mußte sie sich an den Möbeln des Zimmers festhalten. Vier Wochen noch hielt sie sich nur auf ihrem Zimmer auf. Erst am 11. Juni führte sie der Vater in die Kirche. Doch bereits nach zehn Minuten mußte er die Tochter wieder zurückbringen, weil sie „schwach zu werden begann"“ Es vergingen dreieinhalb Monate, bis sie ohne fremde Hilfe gehen konnte. „Dann aber“, erklärte sie, „bin ich aufgestanden und habe das Gehen probiert. Meinen Stock, auf den ich mich bisher so fleißig gestützt hatte, ließ ich verächtlich in der Ecke lehnen. Vorher hatte ich allein nicht über die Stube gehen können. Ich hatte mich immer an den Möbeln anhalten müssen. jetzt aber ging ich gut eine Viertelstunde frei in der Stube herum.“29

Am 16. Juni 1925, also fünf Tage, nachdem Therese angeblich zum erstenmal ihr Zimmer verlassen konnte, begann sie einen Brief an eine Klosterfrau, eine ehemalige Schulkameradin. Unter anderem ist in dem Brief zu lesen:

„Ich kann jetzt sitzen und auch gehen. ja, jeden Tag geh ich mit Frl. Lehrerin in Gottes schöner Natur spazieren; meist bin ich im Pfarrgarten. Zur Zeit gehe ich mit Meßner Anna (Schw. Xaveria) von Altötting. ... In die Kirche gehen wir auch jeden Nachmittag. Früh ist's mir zu kalt; und unter die Leute gehe ich nicht gern. Die Sonntage gehe ich ins hl. Amt, da geh ich bloß hinter den Altar. Kommunizieren tu ich immer noch daheim, weil ich ohne Wasser noch nicht schlucken kann, ja die ganze hl. Hostie kann ich auch nicht schlucken; bloß die Hälfte ... ja, jetzt in der Heuernte spüle ich immer ab und räume unten auch die Stube auf. Weißt, so kleine Arbeiten kann ich schon machen. Dann geh ich spazieren in Gottes schöner Natur. ... Die vielen Freuden in der Natur! Hatte doch schon so viele Freude, wenn Ihr mir Blumen brachtet; und jetzt denk nur, kann ich's selber pflücken.“30

Der Widerspruch zu Gerlichs Ausführungen läßt sich sehr gut belegen, wenn er schreibt:

„Wegen der Schwäche konnte sie in der elterlichen Wirtschaft nicht mitarbeiten, ja, sie bedurfte in den folgenden Monaten auch beim Gehen im Haus noch immer eines Stockes als Stütze und sie mußte sich an den Möbeln und Wänden halten. Sie mochte aber auch nicht müßig herumsitzen. Deshalb beschäftigte sie sich sehr viel mit Stricken.“31

Vom 30. September 1925 an vermochte Therese beim Gehen auf ihren Stock zu verzichten. An diesem Tage soll die hl. Theresia der Kranken verkündet haben, „sie werde von jetzt an ohne fremde Hilfe gehen können.“ „Sobald sie sich des Sinnes dieser Mitteilung bewußt war, stand sie auf ... und ging in ihrer Freude eine Viertelstunde frei im Zimmer herum. Als es in der Kirche zum Gebet läutete, ging sie zu den erstaunten Eltern in das Erdgeschoß hinab und von dort in die Kirche.“32 - Bei der eidlichen Vernehmung am 13. Januar 1953 in Eichstätt33 wurde Therese über die außerordentlichen Erscheinungen in der Zeit ihres Krankenlagers ausgefragt. Seltsamerweise zählt sie hier nur drei „wunderbare Ereignisse“ auf: die Heilung von der Blindheit, die Heilung von der „Rückgratverrenkung“ am 17. Mai 1925 und die Heilung von der Blinddarmentzündung am 13. November 1925 „Sonstige auffallende Ereignisse oder Erscheinungen“, versichert sie, „sind nicht in meiner Erinnerung.“ Sie weiß also nichts mehr von der wunderbaren Hilfe am 30. September 1925! Das ist auch nur zu verständlich. Ein Kranker, der vier Wochen nach einer „wunderbaren“ Heilung imstande ist, zumindest leichtere Arbeiten zu verrichten, und der regelmäßig spazierengehen kann, braucht nicht nach weiteren dreieinhalb Monaten eine überirdische Verheißung, daß er von nun an auf fremde Hilfe verzichten könne, zumal er das bereits vorher konnte. Von einem Wunder kann man in diesem Zusammenhang wirklich nicht mehr reden.

Weitere Heilungen

Nur Gerlich - kein Arzt - weiß von einer weiteren wunderbaren Heilung zu berichten. Bei Therese soll sich unterhalb des Zwerchfells ein Abszeß gebildet haben. Was Gerlich darüber schreibt, vor allem über den Durchbruch des Abszesses in den Magen und über die nachfolgende Heilung, klingt phantastisch. Dr. Deutsch schreibt dazu: Von einer Heilung auf die von Gerlich geschilderte Weise könne keine Rede sein; es könne sich auch gar nicht um einen subphrenischen Abszeß gehandelt haben: „Gerlich wird in der ganzen medizinischen Literatur keinen derartigen Fall finden.“34

Es ist nicht ohne Interesse zu erfahren, wie Therese Neumann auf den Gedanken gebracht wurde, daß ihre „wunderbaren Heilungen“ der kleinen Theresia zu verdanken seien. Am 27. Mai 1923 schrieb sie in einem Brief35: „Sonntag früh, den 29. April, machte ich die Augen wieder ein wenig auf ... ; auf einmal, als ich die Augen öffnete, meinte ich, ich träumte. Vor meinen Augen war alles hell.“ Witt sagt36: „Sie konnte sehen, ohne daß es angekündigt worden war.“ Als am Tag darauf Dr. Seidl die Frage stellte, wer ihr wohl geholfen habe, erwiderte die Mutter: „Gestern ist Theresia vom Kinde Jesu seliggesprochen worden, und die, meinen wir, hat ihr geholfen.“ Dorsaz schreibt, Therese selber sei es gewesen, die dem Arzt gegenüber jene Vermutung ausgesprochen habe, die Heilung könne vielleicht mit der Seligsprechung der Dienerin Gottes zusammenhängend. Von da an hat denn auch die Selige die weiteren „wunderbaren Heilungen“ prompt vorher angekündigt.

So geschah es denn auch am 13. November 1925, als Therese von einer schweren Blinddarmentzündung plötzlich befreit wurde. Sie hatte seit dem 7. November derart rasende Schmerzen, daß sie sich „wie ein Wurm vor Schmerz im Bette wand“. Drei Tage vermochte sie vor Erschöpfung die Augen nicht mehr zu öffnen. Dr. Seidl ordnete die sofortige Einlieferung ins Krankenhaus von Waldsassen an. Kaum hatte sich der Arzt entfernt, da erschien die hl. Theresia und verkündete wunderbare Hilfe. Sofort war die Kranke „gesund und schmerz- und fieberfrei“. In der folgenden Nacht „ging der Eiter auf natürlichem Wege ab“38. - Lag wirklich eine Blinddarmentzündung vor? Schon allein die Angabe, daß man trotz furchtbarer Schmerzen tagelang zugewartet haben will, bis man einen Arzt rief, läßt die Angaben als recht zweifelhaft erscheinen; zudem hält sich jemand, der an Appendizitis erkrankt ist, peinlich still und windet sich nicht wie ein Wurm. Aus dem veröffentlichten Material folgert Dr. Deutsch, daß eine Blinddarmentzündung - eine organische Krankheit - nicht vorlag. Vielmehr handelte es sich um eine hysterische Blinddarmentzündung mit den gleichen Symptomen, wie sie sich bei einer echten Appendizitis zeigen. Außerdem wäre die Entleerung eines Blinddarmabszesses durch den Darm durchaus nichts Wunderbares39.

Gerlich schreibt, Therese Neumann habe einige Zeit nach der plötzlichen Heilung Schleim und ein häutiges Stückchen ausgeschieden. Dem behandelnden Arzt Dr. Seidl hat darüber niemand etwas verraten40. Er erfuhr erst später davon, und zwar von anderer Seite, nicht durch die Familie Neumann. Als sich Boniface in Konnersreuth seine Informationen holte, hat man ihn offensichtlich falsch unterrichtet. Er schreibt:

„Selbstverständlich hatte der Vater Dr. Seidl sofort über das Vorgefallene benachrichtigt; am anderen Morgen, als er ihm seine Tochter in die Sprechstunde brachte, teilte er ihm mit, daß er zur eingehenden Prüfung den mit Blut vermischten Eiter, sowie eine Art Häutchen aufbewahrt habe, die die Patientin im Laufe der Nacht auf natürlichem Wege in ein Waschbecken ausgestoßen hatte.“41

Gerlich zählt folgende Krankheiten und Gebrechen auf, von denen Therese Neumann mehr oder minder wunderbar geheilt worden sein will42: Subphrenischer Abszeß, Blindheit, Druckbrand am Fuß, Rückgratverrenkung, Aufliegewunden am Rücken, Lähmung, Blinddarmentzündung. Das sind lange nicht alle „Wunderheilunge“. So nennt Boniface43, um nur noch ein „Wunder“ anzufügen, eine doppelseitige Lungenentzündung, die am 19 November 1926 Therese in den Todeskampf führte: „Der in aller Eile herbeigerufene Arzt bestätigte, es sei das Ende, es sei nichts mehr zu machen.“ Natürlich stammt auch dieses Urteil nicht von einem Arzt, sondern ist lediglich eine Diagnose des Neumannkreises. Therese wurde, wie nicht anders zu erwarten war, augenblicklich aus der Todesnot errettet. Auch von den übrigen Krankheiten versichert Boniface44: „Alle Heilungen waren endgültig, d. h. keines der verschwundenen Krankheitsmerkmale stellte sich jemals wieder ein.“

Mit dieser Feststellung stimmen auch die übrigen Biographen überein. Warum aber, so fragt man sich, hat dann Therese ihre frühere robuste Gesundheit und Arbeitsfähigkeit nicht zurückerhalten? Gerlich beispielsweise berichtet, daß sie, außer zum Stricken, zu keiner Arbeit fähig gewesen sei. Allerdings übertreibt er in gewohnter Weise, denn wir wissen ja, daß Therese Neumann zu allen möglichen Beschäftigungen fähig war, falls sie Lust dazu verspürte. Wenn aber schon von einer wunderbaren Heilung die Rede sein soll, dann müßten nach Beseitigung der Ursachen auch die Folgen verschwunden sein. Dr. Mittendorfer erkennt noch 1943 die Folgen der angeblichen Wirbelluxation; die Biographen, wie Boniface und Gerlich, sagen: Alle Heilungen waren endgültig. Im Mai 1932 wiederum informiert Therese Dr. Witry in entgegengesetztem Sinne45: „Sehen Sie, Herr Doktor, seit meinem Unfall beim Brand muß ich mein Bett so ordnen, daß ich beim Liegen einen hohlen Platz für mein Kreuz habe.“ Der Arzt hätte daraufhin Therese genauer untersuchen müssen; er hätte sich auch zeigen lassen sollen, wie sie ihr Bett entsprechend hergerichtet hat. Ebenso ist die Frage berechtigt, wie sich Therese geholfen hat in der Zeit, da sie nicht in Konnersreuth weilte, und wie sie die wiederholten und in entfernte Gegenden führenden Autofahrten auszuhalten vermochte. Erstaunlich ist, daß in diesem Zusammenhang nie die Rede davon ist, daß sie auch nur die leisesten Schmerzen verspürt hat. Und auch während der Beobachtungszeit im Jahre 1927 benötigte sie keinen hohlen Platz für ihr Rückgrat. All das sind Beobachtungen, die Thereses Krankheitsgeschichte und ihre „wunderbaren Heilungen“ sehr in Frage stellen.

2. Krankheiten nach der Stigmatisation

Bisher war die Rede von der Vielfalt an Krankheiten, von denen Therese Neumann vor ihrer Stigmatisation geheilt wurde. Aber auch in der folgenden Zeit bis zu ihrem Todesjahr setzte sich die Serie der Leiden und Wunderheilungen fort. Es handelt sich dabei ausnahmslos um Krankheitsbilder, die sich nicht auf ein fachärztliches Urteil stützen können; sie entstammen ganz allein dem engeren Konnersreuther Kreis.

Trotz einer Flut von veröffentlichten und nichtveröffentlichten Krankheitsberichten schreibt Boniface im Jahr 19581, vom 13. November 1925 an sei Therese Neumann „krankheitsfrei“ geblieben, „ausgenommen eine doppelseitige Lungenentzündung, die jedoch wohl nicht als hysterisches Leiden angesprochen werden kann“. Seit der Heilung dieser Lungenentzündung am 19 November 1926 - habe sich nicht mehr „die geringste Erkrankung“ eingestellt, „ausgenommen einige Schnupfen und Grippen“. Soll die Angabe von Boniface als zutreffend gelten, dann müßten alle Berichte über die Erkrankungen der Stigmatisierten von Konnersreuth als reine Dichtung betrachtet werden.

Aus der Fülle des vorliegenden Materials seien nur einige Beispiele ausgewählt. Schon die Schilderung der Leiden entlarvt die aufgestellten Eigendiagnosen in ihrer ganzen Fragwürdigkeit.

Für den 26. Juli 1930 wird bemerkt: „Im Laufe des Tages stellt sich ein schweres Lungenleiden ein, das wiederholt zu Lungenblutungen führte.“2 Im Jahr 1938 muß Therese für einen Priester, der an Trunksucht litt, eine von. einem Insektenstich verursachte Blutvergiftung durchmachen. Das Gift wandert im Körper und setzt sich ab in zwei Geschwüren, „eines in den Gedärmen, das andere an der linken Seite“3. Im März 1931 soll Therese unter „Erscheinungen der Kopfgrippe“ gelitten haben, „in meist sehr schweren Anfällen, die sich täglich bis zu siebenmal wiederholten“. Dann war sie angeblich rechtsseitig gelähmt, war auf dem rechten Ohr taub und vermochte die Zunge kaum noch zu bewegen, so daß das Sprechen nur schwer möglich war. Im Jahr 1930 soll die Stigmatisierte, wie Pfarrer Naber behauptete, sogar „ein Geschwür über der Herzgegend“ gehabt haben. Dieses soll über Nacht aufgebrochen und der Eiter in die Herzgegend abgeflossen sein. In der Adventszeit 1931, heißt es, stürzte Therese rückwärts zu Boden; die Folge waren Lungenblutungen4. Im Sommer 1940 weilt Therese in Eichstätt. Am 7. Juli erleidet sie einen Schlaganfall in drei Schüben. Mehr als fünf Wochen lang ist sie rechtsseitig „vom Auge bis zum Fuß vollständig gelähmt“. Am Feste Mariä Himmelfahrt wird sie plötzlich von den Beschwerden befreit5. Ersatzweise aber setzten der Geheilten nunmehr Nervenschmerzen und Nierenbeschwerden zu. Am 13 März 1944 schrieb Therese einen Brief an den Regensburger Bischof, in dem sie von einer „eitrigen Nierenbeckenentzündung“ spricht, die sie überstanden habe6.

Das gleiche, was für die Krankheiten vor der Stigmatisation festgestellt werden mußte, gilt auch für alle Leiden in der späteren Zeit: Trotz der Unzahl der angeblich gefährlichen Gebrechen wurde vom Neumann-Kreis jede eingehende ärztliche Untersuchung vermieden bzw. verhindert. „Seit langen Jahren“, schreibt Dr. Deutsch7, „hat kein Arzt die Therese Neumann untersuchen dürfen, ja den einfachsten Beobachtungen werden die denkbar größten Schwierigkeiten gemacht.“

Auf Gutachten verschiedener Ärzte hin erhielt Therese nach ihrer Arbeitsunfähigkeit im Jahr 1918 eine hundertprozentige Rente wegen „traumatischer Hysterie“. Im Jahr 1932 wurde diese Rente auf zehn Prozent gekürzt, nachdem sich Therese wiederholt geweigert hatte, sich der von der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft geforderten Prüfung ihres Gesundheitszustandes zu unterziehen8.

Prof. Martini war anwesend, als Therese einen ihrer häufigen „Erstickungsanfälle“ hatte. Er fragte den Vater, ob er sie am Rücken abhören dürfe. Der Vater lehnte schroff ab mit der Begründung, das sei gefährlich, da seine Tochter dabei schon einmal fast erstickt sei. Die Mutter fiel in den gleichen Ton ein, und der Pfarrer konnte sich gar nicht beruhigen in seiner Verteidigung der elterlichen Abweisung. Schließlich verweist der Vater auf den Heiland als den einzigen, der helfen könne. Pfarrer Naber meinte dazu, Therese habe es ja selber gesagt, sie sei verschleimt. Ihr Wort duldete weder Zweifel noch Widerspruch. Und siehe da, unmittelbar nach dem erregten Gespräch fühlt sich Therese wieder wohlauf, und der Vater triumphiert: „Der Heiland hat geholfen!“ Daß kein echter Erstickungsanfall vorlag, zeigt die Beobachtung durch Prof. Killermann, der keine bläuliche Verfärbung im Gesicht der Patientin erkennen konnte.10

Der Freiburger Neurologe Dr. Eduard Aigner durfte Therese Neumann ebensowenig untersuchen wie andere Ärzte. Er klagte: „Meine Versuche einer exakten Nachprüfung scheiterten am Widerstand des Ortspfarrers.“11 Bei den behaupteten Krankheiten handelte es sich vielfach um Leiden, die eine eingehende Untersuchung durch einen Fachmann voraussetzen. Warum aber wurde kein Arzt zu Rate gezogen? Warum wurde einem zufällig anwesenden Arzt jegliche Untersuchung untersagt? Ein solches Verhalten ist einfach unverständlich, es sei denn, man mußte eine ärztliche Diagnose fürchten. Eine merkwürdige Begründung für dieses sonderbare Verhalten ist die Berufung des Konnersreuther Kreises auf ein angebliches Wort der hl. Theresia. Diese soll der Kranken am 17 Mai 1925 eröffnet haben: „Kein Arzt kann dir helfen.“ Nicht nur diese Auskunft verdankt Therese einer „Offenbarung“, sondern ebenso die Diagnose bei den verschiedenen Leiden. Als nach dem letzten Krieg an einem Freitag ein Priester in Konnersreuth um einen Besuch bei der Stigmatisierten bat, lehnte Pfarrer Naher die Bitte mit der Begründung ab, das sei nicht möglich, weil Therese an Nierenbeckenentzündung erkrankt sei. Der Besucher fragte, ob ein Arzt das Leiden konstatiert habe. Die Antwort des Pfarrers lautete, ein Erzengel habe dies der Stigmatisierten geoffenbart. Als nach geraumer Zeit einige Amerikaner eintrafen, denen der Besuch gestattet wurde, schloß sich ihnen auch der Priester an und bekam trotz des Verbots Therese an jenem Freitag zu sehen.

Es ist klar, daß solche Diagnosen, die sich lediglich auf die Auskunft der berühmten „Stimme“ stützen, die aus Therese gesprochen haben soll, mehr als fragwürdig sind. Als Kardinal Kaspar von Prag am 23. März 1929 in Konnersreuth eintraf, war Therese eben schwer erkrankt. Der Kardinal schreibt:

„Zur Zeit ist sie schon seit vierzehn Tagen ans Bett gefesselt, da sie gerade eine Lungenentzündung, eine eitrige Mandelentzündung und einen Gelenkrheumatismus durchzumachen hat.“

War Therese wirklich so schwer leidend? Was Kaspar des weiteren feststellt, spricht dagegen. Er berichtet:

„Resl sah frisch aus; obwohl sie, wie sie mir erzählte, viel litt und gerade drei schwere Krankheiten durchgemacht hatte, war ihr kein Unwohlsein anzumerken.“

Auch der gleichzeitig anwesende Regensburger Generalvikar konnte keine Zeichen einer schweren Krankheit bemerken, wie weiterhin der Kardinal versichert:

„Obwohl sie sich mit uns eine ganze Stunde unterhalten hatte und schwer krank war, beobachtete er an ihr nicht die geringste Anstrengung; im Gegenteil soll sie sehr schlagfertig gewesen sein.“12

Die angeführten Beispiele mögen genügen, um derart zweifelhafte Eigendiagnosen mehr als fragwürdig erscheinen zu lassen, um so mehr aber auch die behaupteten wunderbaren Heilungen.

Dr. Seidl hat als Hausarzt oftmals das Neumann-Haus betreten. Aber mit der Zeit wuchs der Widerstand gegen ihn, bis es zum völligen Bruch kam. Angeblich brauchte ja Therese nicht die Hilfe eines Arztes. Die hl. Theresia hatte ihr ja wiederholt versichert, daß sie zwar viel und lange leiden werde, aber ebenso hatte sie ihr eingeschärft: „Kein Arzt wird dir helfen.“ Der „Heiland“, nicht ein Arzt, hat Therese vor der Stigmatisation geholfen, aber auch danach waren die Mediziner machtlos. Dr. Seidl vermochte die Wunden nicht zu heilen, die sich im Jahr 1926 zeigten. Seine Kunst versagte nicht bloß, sondern alles, was er unternahm, verursachte nur fürchterliche Schmerzen. Zwar versuchte er noch ein paarmal zu helfen, doch ohne Erfolg. So verordnete er „Mittel gegen Nierenleiden und Bronchitis, alles mit dem Erfolg, daß der Zustand der Kranken schlimmer wurde“13.

Im Neumann-Haus waren Ärzte wenig beliebte Gäste, mit einer Ausnahme: der Münchener Arzt Dr. Mittendorfer. Ottilie Neumann, die Haushälterin des Professors Wutz in Eichstätt, bezeichnete ihn im Jahr 1942 als „Freund unserer Familie aus München“14. Er betreute Therese in Konnersreuth und in Eichstätt; er nahm sie oftmals in seinem Auto mit, und sie besuchte ihn in München. Auf welche Weise er als Arzt Therese im Bedarfsfall geholfen hat, das erfährt man freilich nur ganz gelegentlich. Therese selber betonte zwar im Jahr 1950: „Ich habe keinen bestimmten Arzt, weil mir ja keiner helfen kann;“ aber sie behauptete ebenso, keine Medizin nehmen zu können. Dennoch gesteht sie: „Wohl fragt man gelegentlich, wenn man krank ist, den Arzt, ohne daß er etwas tut.“15 - Also hat der Arzt doch etwas getan. So hat z. B. Therese im Sommer 1940, als sie in Eichstätt weilte, angeblich einen Schlaganfall erlitten. Dr. Mittendorfer, der wie Therese im Hause des Professors Wutz wohnte, „verordnete vor allem größte Ruhe, außerdem ließ er machen oder machte er selbst kalte Umschläge, nämlich Eis in Tücher gewickelt, auf Stirn und Kopf“; auch ließ er Therese „zur Ader“16. Der Arzt hat also doch etwas getan. Er hat noch mehr getan. Er hat einmal auch Therese auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin in einer schweren Krankheit Spritzen verabreicht17. Ist nicht auf Grund solcher Tatsachen die Vermutung vollauf gerechtfertigt, daß auch noch andere ärztliche Maßnahmen erfolgt sind? Therese Neumann hat ja auch in ihren letzten Lebenstagen ärztliche Hilfe in Anspruch genommen; Dr. Stucklik hat sie behandelt. „Aber alle ärztliche Hilfe war vergebens.“ Herzmassage und Strophantinspritzen hatten keinen Erfolg mehr.18 Aber das ist kein Beweis für die angebliche Versicherung der hl. Theresia; denn einmal kommt für jeden Menschen die Zeit, da ärztliche Hilfe versagt.

3. Diagnose: Hysterie

Das Gesamtbild der geschilderten Krankheitsgeschichte bestätigt die von Anfang an ärztlich anerkannte Diagnose: Hysterie. Wegen traumatischer Hysterie mit ihren Folgen wurde ja auch Therese Neumann eine Unfallrente zuerkannt. Im Frühjahr 1918wurde Therese im Krankenhaus von Waldsassen „wegen völliger Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, allgemeiner Mattigkeit und häufigem Erbrechen, Magenschmerzen und auch Magenblutungen behandelt“. Der behandelnde Arzt Dr. Göbel „faßte damals sowohl das Magenleiden als auch die allgemeinen nervösen Erscheinungen als Hysterie nach Chok auf“. Auch Dr. Seidl, der die Behandlung seit Weihnachten 1918 übernommen hatte, bezeichnete die Krankheit als schwere Hysterie.1 Er ist von seiner Überzeugung auch später nicht zurückgetreten: „Ich stelle ein für allemal fest“, heißt es in seinem Gutachten, das Ende 1928 verfaßt ist2, „daß ich an der bei der Abfassung des Unfallgutachtens und nach meiner wissenschaftlichen Überzeugung gestellten Diagnose festhalte.“ Der Arzt hat auch seine Überzeugung zu erkennen gegeben, daß die „plötzlichen Heilungen“, vom medizinischen Standpunkt her gesehen, nicht als Wunder bezeichnet werden können. Die Familie Neumann und besonders Pfarrer Naber haben es ihm schwer verübelt, daß er von Anfang an Thereses Hysterie erkannt hat.

Aus verständlichen Gründen war eine solche Diagnose eine sehr unangenehme Sache für den Konnersreuther Kreis. Daher auch die vielen Versuche, diese Diagnose in Frage zu stellen oder gar zu widerrufen. Boniface behauptet glattweg, Dr. Seidl habe sein ursprüngliches Urteil später widerrufen. Er beruft sich auf eine Unterredung mit ihm im August 1931. Der Sanitätsrat Dr. Seidl soll sich so geäußert haben:

„Hätte ich damals Therese Neumann gekannt, wie ich sie später nach so vielen Untersuchungen kennenlernte, mit ihren Krankheiten und Heilungen, die medizinisch unbegreiflich waren, und besonders nach meiner Untersuchung über das ewige Fasten, im Jahre 1927, so hätte ich diese Dummheit niemals begehen können.“

Dr. Seidl habe ausdrücklich betont, der Beweis sei erbracht worden, daß Therese Neumann „auf keinen Fall hysterisch war.“ Der übernatürliche Charakter der „augenblicklichen Heilungen Theresens“ sei nicht zu leugnen.3 - Was Boniface schreibt, ist offensichtlich eine Verfälschung der wirklichen Äußerungen des Sanitätsrates. Drei Monate nach der erwähnten Unterredung, nämlich am 10. Oktober 1931, hat Dr. Seidl ein Gutachten für den Bischof von Regensburg zusammengestellt. Darin bestätigt er nicht nur ausdrücklich sein wiederholt abgegebenes Urteil, sondern bekräftigt es überdies mit einer Reihe von neuen Argumenten. Er spricht ebenso davon, daß „auch jetzt noch“ hysterische Züge an Therese Neumann zu entdecken seien. Das Gutachten des Arztes ist nicht ein Widerruf, sondern das Gegenteil davon.

Was von den Krankheiten vor der Stigmatisation zu sagen war, das gilt in gleicher Weise für die Serie von Leiden in den der Stigmatisation folgenden Jahren. Aus den vorliegenden Veröffentlichungen seien nur einige Beispiele ausgewählt, die zeigen, daß es sich um Phänomene handelt, die in den Bereich der Pathologie gehören.

Ähnliche Ohnmachtsanfälle, wie sie sich bei Therese Neumann seit 1918 einstellten, finden wir auch in den späteren Jahren, und zwar während und außerhalb der ekstatischen Zustände. Im September und Oktober 1927 beispielsweise traten solche Anfälle häufig auf, oftmals am selben Tage mehrmals. Am 25. Dezember stürzte Therese abends 21 Uhr plötzlich in ihrem Zimmer zu Boden und blieb eine Zeitlang ohnmächtig liegen. Ein ähnlicher Ohnmachtsanfall überraschte sie am 14 April 1938; sie fiel von ihrem Stuhl in der Kirche, ohne irgendwelchen ekstatischen Zustand. Eines Tages wurde sie in der elterlichen Wohnung ohnmächtig, weil sie den frischen Kalkgeruch nicht ertragen konnte. Sie begab sich daraufhin in die Kirche und blieb dort, bis die Zimmer fertiggetüncht waren. Hier sei auf einen ähnlichen Anfall verwiesen, den Therese während der Beobachtungszeit im Jahr 1927 erlitten hat. Damals soll eine nicht geschlossene Ätherflasche schuld gewesen sein.

Im März 1931 soll Therese an einer Kopfgrippe erkrankt sein. Schwere Anfälle überfielen sie, zuweilen täglich bis zu siebenmal. Zugleich war sie rechtsseitig gelähmt und litt an einer Reihe von Folgeerscheinungen. „Diese Zustände, die sich besonders dann einstellten, wenn sie sich intensivem Denken hinzugeben versuchte, dauerten die ganze Fastenzeit.“5 In einem Bericht an den Bischof von Regensburg schreibt Pfarrer Naber: „Sie beichtet ihre Fehler unter Tränen und mit einer Zerknirschung, die sie so ergreift, daß sie schließlich ohnmächtig und der erhobene Ruhezustand zu ihrer Wiederaufrichtung notwendig wird.“6 Der „erhobene Ruhezustand“ wird gewöhnlich als Folge von Visionen angegeben; hier folgt er sogar auf gewöhnliche Ohnmachtsanfälle, ein Symptom, das auf gesundheitliche Störungen schließen läßt, nämlich auf Hysterie. In dieselbe Richtung verweist auch die von Pfarrer Naber betonte außergewöhnliche Reue, die Therese allein aufgrund ihrer begangenen - keineswegs Sünden, sondern lediglich - Fehler empfand.

Dr. Deutsch sagt zu den Erstickungsanfällen, die Therese immer wieder im Zusammenhang mit ihren ekstatischen Zuständen zusetzten7: Während derselben wurde kein objektives Zeichen der Erstickung gefunden, vor allem gab es keine Zeichen der Zyanose; „dafür werden die Augen hochgradig nach oben gedreht, der Eindruck ist durchaus der einer hysterischen Reaktion“. Therese hat im ekstatischen Zustand wiederholt die kommenden Erstickungsanfälle angekündigt; sie stellten sich dann auch programmgemäß ein. Aber was sie dann vorführte, war kein echter Erstickungsanfall, sondern mutete als bloßes Gaukelspiel einer Hysterischen an, die von einem wirklichen Erstickungsanfall keine blasse Ahnung hat.

Dr. Heermann spricht von den Krämpfen, die sich nicht selten bei Therese Neumann einstellten:

„Krämpfe, bei denen sich Therese Neumann über ein auf den Bettrand gestelltes Brett ins Zimmer schnellte und ganz steif wurde, und zwar wie Eisen, so daß der ganze Körper mitging, wenn man gewaltsam ein Glied hochzuheben versuchte, kommen eben nur bei Hysterie vor.“8

Weiterhin schreibt er:

„In dem Bericht der vier Schwestern, die Therese Neumann vierzehn Tage beobachteten, wird überdies für die Nacht vom 17. auf den 18 Juli 1927 ein nervöser Anfall erwähnt, der zwölf Minuten dauerte: Therese Neumann war dabei halb bewußtlos, schlug um sich und rief, es steche ihr durchs Herz. Ein ärztlicher Beobachter war leider nicht zugegen; der Beschreibung nach kann es sich jedoch nur um einen hysterischen Anfall gehandelt haben.“

Auch später, als Therese von ihren ursprünglichen Gebrechen genesen war, zeigen sich hysterische Züge. Boniface spricht davon, welche Wirkungen auf sie Aufregungen haben konnten:

„Bekanntlich zeigen sich bei heftiger Erregung ausgiebige Blutungen aus ihrem Herzen, aus der Seitenwunde; sie fällt dann in Ohnmacht, und das Schlimmste für ihr Leben ist zu befürchten. Eine zu große Freude kann dieselbe Wirkung auslösen.“

Das Schlimmste ist weder durch Aufregung noch durch maßlose Freude eingetreten.

An anderer Stelle erwähnt Boniface, wie die Gestapo eine Haussuchung vorgenommen habe:

„Wieder einmal sah Therese, die soeben nach einer Ekstase das Bewußtsein wieder erlangt hatte, an ihrem Bett zwei grinsende Gendarmen in Uniform stehen. Diese Überraschung gab ihr einen solchen Schock, daß sie noch längere Zeit unter nervösen Zuckungen zu leiden hatte. Hörte sie z. B. eine zuschlagende Türe, so fuhr sie zusammen und konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Da diese Rückwirkungen sogar in der Kirche eintraten und dadurch die Andacht der Gläubigen oft gestört wurde, bat sie den lieben Heiland, sie davon zu befreien; sie wurde bald erhört. ,Er hat es mir genommen', sagt sie noch heute voller Dankbarkeit.“9

In dieses Bild der Hysterie fügt sich harmonisch ihr sonderbares Verhältnis zur Eucharistie ein, von dem noch später die Rede sein wird. Nur eines sei hier vorweggenommen. Der Bericht befindet sich im Buch von Boniface10. Er spricht davon, daß in Therese Neumann die Hostie bis zum nächsten Kommunionempfang unaufgelöst blieb. Wurde die Hostie aber einmal „vor dem Augenblick aufgelöst, an dem sie aufs neue kommunizieren kann, so sinken die Kräfte der Seherin sehr rasch ab. Der Gesichtsausdruck selbst verändert sich. Ihre Augen werden blau umrändert, ihre Wangen hohl, ihre Gesichtsfarbe schwindet, ihr Blick erlischt, und sie bricht zusammen. Dann muß der Priester, der durch die Umgebung alarmiert wird, ihr schnell die hl. Kommunion bringen.“ - Seltsamerweise ist jedoch nie der Fall eingetreten, daß kein Priester in erreichbarer Nähe war.

Ebenso aufschlußreich ist die Tatsache, daß Therese Neumann zu bestimmten Zeiten des Jahres regelmäßig krank war. Vom Jahr 1926 bis zu ihrem Tode hat sie wegen ihrer Krankheit jeweils während der Fastenzeit nicht ein einziges Mal die Kirche besucht, auch nicht an Sonn- und Feiertagen. Im Jahr 1948 litt sie nach Angabe des Pfarrers an „Venenentzündung mit Embolie, Grippe, Lungenentzündung, Gelenkrheumatismus, Gallen- und Herzbeschwerden“. Aber wie immer auch die Leiden geartet waren, schlagartig am Ostersonntag war Therese restlos gesund.

Über das Wesen der Hysterie gibt die Medizin verläßliche Auskunft. Sie lehrt, daß hysterische Personen nicht im gewöhnlichen Sinn als Schwindler oder Betrüger bezeichnet werden können. Man erklärt das Leiden als eine funktionelle geistig-nervöse Erkrankung. Ein besonderes Kennzeichen hysterischer Veranlagung ist eine krankhafte Geltungssucht. „Der letzte, gröbste Typ ... ist der, den man mit Kohnstamm schulmäßig den ,nosophilen' (Krankheit liebend) nennt, weil der Wille zur Krankheit bei ihm eine bedeutende Rolle spielt. Im Gegensatz zu den anderen Formen ist er vor allem durch die Unwahrhaftigkeit charakterisiert (Kutzinski).“11 Auf die erwähnte hysterische Unwahrhaftigkeit soll später noch weiter eingegangen werden. Daß bei Therese Neumann nosophile Hysterie vorlag, wird noch klarer, als bisher ersichtlich, bei der Schilderung ihrer sogenannten Sühneleiden.

Der Arzt René Biot urteilt eindeutige, es sei sicher, „daß bei Therese Neumann so klar wie nur irgendwie möglich die Diagnose der Hysterie gestellt worden ist, um damit medizinisch die Kette von Krankheitssymptomen zu charakterisieren, die sie bereits vor dem Auftreten der Wunden zeigte.“

Prof. Jean Lhermitte, dessen Autorität als Neurologe unbestritten ist, schreibt:

„Es kann ohne Übertreibung behauptet werden, daß es keinem mit den Gelegenheiten der Psychopathologie vertrauten Menschen schwer fallen dürfte, in den vielerlei Erscheinungen, an denen Therese Neumanns Leben so reich war, die Züge der hysterischer Neurose zu erkennen.“13


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Letzte Änderung: 26. Dezember 2002