Gottes-Werk oder Menschen-Machwerk?

X. Nahrungslosigkeit

Das größte aller Konnersreuther Wunder wäre es zu nennen, hatte Therese Neumann wirklich über Jahrzehnte hinweg ohne Speise und Trank auskommen können. Das ist die Frage: Hat Therese Neumann wirklich nahrungslos gelebt? Ist das so sicher bewiesen, daß jeglicher Zweifel ausgeschlossen ist? Es ist doch ein unumstößlicher Grundsatz, daß von einem Wunder nicht gesprochen werden darf, so lange eine natürliche Erklärung möglich ist.

Nach Steiner (1) hat Therese Neumann seit Weihnachten 1922 nur noch flüssige Nahrung zu sich genommen; andere sprechen von Anfang Dezember. Ab August 1926 ist Nahrungsaufnahme endgültig verweigert worden. Nur zum Kommunionempfang wurden ein paar Tropfen Wasser gereicht; ab September 1927 wurde auch auf Wasser verzichtet. Nur eine einzige Ausnahme wird verzeichnet. An ihrem letzten Lebenstag verlangte Therese zum Kommunionempfang nach Wasser. Sie bat ihre Schwester Marie, sie möchte ihr etwas Wasser bringen, weil ihr Mund so trocken sei. "Seit 1927 hatte man ihr auch zur hl. Kommunion keinen Tropfen Wasser mehr gereicht. Nur bei dieser Kommunion am Dienstagvormittag, da hat sie das verlangt!" Auch beim letzten Kommunionempfang, versichert der Pfarrer, sei die Hostie, die auf einem Löffel mit Wasser gereicht wurde, ohne jegliche Schluckbewegung verschwunden (2).

Angeregt durch Prof. Wutz kam im Dezember 1926 dessen Kollege, Prof. Dr. Mayr, zum erstenmal nach Konnersreuth. Während er sich mit Therese Neumann unterhielt, kam die Mutter ins Zimmer "und schaute auf ein Glas, das auf dem Nachtschränkchen stand, und war dann ungehalten und schimpfte: Resl, jetzt hast wieder gar nicht getrunken, also was soll denn dös! Was soll denn werden, wenn du gar nichts trinkst?' Jetzt nahm Therese das Glas und nippte davon. Aber als die Mutter wieder draußen war, hat sie den Fruchtsaft über die Blumen gegossen. Sie hat schon damals nichts mehr gegessen und getrunken, und die Folge war, daß dann viele Blumen in ihrem Zimmer eingegangen sind". So berichtete Prof. Mayr dem Reporter Wolfgang Bauer (3).

Eine merkwürdige Sache, wenn man bedenkt, daß Therese Neumann bereits am 6. August 1926 beim erstmaligen Schauen der Verklärung Christi Hunger und Durst auf dem Tabor gelassen haben will. Diese Erklärung gab allerdings die Stigmatisierte erst am 1. März 1931 in einer Ekstase ab (4). Es sei daran erinnert, daß jener 6. August 1926 der Tag war, an dem Prof. Waldmann Therese suggestiv beeinflußt hatte, so daß sie erstmalig die Vision von der Verklärung hatte.

Welchen Grund sollte Therese gehabt haben, ihre Mutter zu beschwindeln? Was soll sie sich dabei gedacht haben? Daß der Schwindel nie entdeckt werden könnte? Außerdem ist nicht einzusehen, warum die Mutter unbedingt während des Zwiegesprachs, das Therese mit Prof. Mayr führte, das Zimmer betreten mußte. Man erkennt die Absicht. Falls sie vier Monate hindurch täglich ihre Tochter beschimpfen mußte, weil sie nichts trank, warum mußte dies nun ausgerechnet da geschehen, während ein Besuch anwesend war?

Im Zusammenhang mit der Nahrungslosigkeit unterblieben, so wird versichert, auch allmählich die Ausscheidungen; mit Beginn des Jahres 1930 sollen sie ganz aufgehört haben. Es muß festgehalten werden, daß nach endgültiger Verweigerung von Nahrungsaufnahme weiterhin Ausscheidungen erfolgt sind, wenn auch angeblich in geringem Maße. - Sollte da Gott wirklich ein Wunder in Etappen gewirkt haben? Im übrigen scheint mir das Wunder eher größer zu sein, wenn ein Mensch nichts ißt und trinkt, trotzdem Ausscheidungen aufweist, als dann, wenn er nahrungslos lebt und jene fehlen. Im Falle Therese Neumann hätte Gott sozusagen ein Wunder reduziert.

Die Stigmatisierte von Konnersreuth ertrug es keinesfalls gleichgültig, wie die Leute Ober sie urteilten. So war es ihr auch ein Anliegen, daß geglaubt wurde, sie nehme weder Speise noch Trank zu sich. Dieser Gedanke verfolgte sie selbst noch in ihren Ekstasen. An einem Freitag, an dem der Bischof von Regensburg mit mehreren Gelehrten in Konnersreuth war, redete Therese über mancherlei Dinge; dabei kam sie auch auf ihre Nahrungslosigkeit zu sprechen: "Da meinen sie (die Leute), in diesem (halbwachen) Zustand esse ich (5)."

Wenden wir uns der wichtigen Frage zu: Ist die Nahrungslosigkeit in unserem Falle so einwandfrei nachgewiesen, daß kein vernünftiger Zweifel offenbleibt? Man muß die Frage verneinen. Gegen einen unanfechtbaren Nachweis hat sich merkwürdigerweise der Kreis um Therese Neumann von Anfang an und mit allen Kräften gesträubt.

Wir können fühlen, in welche Verlegenheit Therese gekommen ist, als eine Untersuchung angeregt wurde. Einer Freundin gegenüber klagt sie am 13. Oktober 1926 ihr großes Leid (6). Es stünde ihr besonders Schweres bevor, worüber sie "hübsch traurig" sei; sie solle in ein Krankenhaus zur Untersuchung und Beobachtung. Das sei schrecklich und so hart. "Ach, wenn man nur Gottes Willen erkennen würde, auch in diesem Fall. Schreib aber deinem Vater nichts davon, damit die Konnersreuther vorher nichts wissen, damit kein rechter Aufruhr entsteht; denn sie wollen alle nicht, daß ich fortkomme."

Merkwürdig, daß Therese nicht darüber im klaren war, was Gottes Wille verlangte, hat doch ihr sonst der "Heiland" so oft und regelmäßig seine Weisungen gegeben! Im Wunsch der oberhirtlichen Behörde vermochte sie den göttlichen Willen nicht zu erkennen.

Eine Überführung der Stigmatisierten in ein Krankenhaus oder eine Klinik, wie das Bischöfl. Ordinariat gewünscht hatte - Bischof Antonius von Regensburg hatte eine Untersuchung im Krankenhaus von Waldsassen vorgeschlagen - scheiterte am Widerstand der Eltern, sicherlich im Einvernehmen mit der Tochter. Was schließlich erreicht werden konnte, war eine Uberwachung vom 14. bis 28. Juli 1927, und zwar im Elternhaus. Dr. Seidl von Waldsassen hatte den Auftrag, die Beobachtung zu beaufsichtigen. Dr. Ewald, Professor für Psychiatrie in Erlangen, wurde mit Erlaubnis des Ordinariates beigezogen; er war am 28. und 29. Juli anwesend. Zur Beobachtung waren vier Mallersdorfer Schwestern abgeordnete die eine nicht leichte Aufgabe zu erfüllen hatten. Die Behandlung, die sie erfuhren, nicht bloß von seiten der Familie Neumann, war alles andere als liebevoll. Zudem waren die vier Schwestern einfach überfordert; nicht bloß zufällig ist eine davon am Ende der vierzehn Tage zusammengebrochen. Keinen Tag langer als notwendig sind sie geblieben, obwohl ihnen das freigestellt worden war.

Ist es nun so, daß die Beobachtung im Elternhaus den Tatbestand der Nahrungslosigkeit einwandfrei bestätigt hat? Das kann man keinesfalls sagen. So manche Fehler sind aufzuweisen, die man hatte vermeiden müssen (7):

  1. Die Ausscheidungen der Therese Neumann wurden nicht sofort an Ort und Stelle untersucht. Das wäre möglich gewesen, da eine der Schwestern sonst im Laboratorium tätig war.
  2. Therese Neumann hat sich während der Beobachtungszeit frei bewegen können. Sie konnte in Schwesternbegleitung in die Kirche gehen und auch anderswohin, wie sie wollte.
  3. Die Familienangehörigen hatten ungehindert Zutritt zum Zimmer der Therese. Auch andere Personen kamen und gingen. Am ersten Beobachtungsfreitag beispielsweise wurden 756 Besucher gezählt, am zweiten waren es 790.
  4. "Die Beobachtung einer Person, die seit Jahren hysterisch war, erforderte Schwestern, die in der Beobachtung und Pflege von Nervenkranken, insbesondere von Hysterischen, große Erfahrung hatten. Diese fehlte aber den betreffenden Schwestern in Konnersreuth. Es ist schon schwer, hinter die Ränke einer Hysterischen bei einer Beobachtung in einem gut geleiteten Krankenhaus zu kommen, um so mehr hier unter den ungünstigen Umständen in Konnersreuth und bei Schwestern, die nicht die genügende Erfahrung besitzen in der Uberwachung Neurotischer." Die Möglichkeit von Betrug konnten auch die Schwestern nicht verneinen, trotz gewissenhafter Erfüllung ihrer Aufgabe. ("Man weiß, was Hysterische nicht alles fertigbringen.")
  5. Die Schwestern waren physisch und psychisch überfordert. Zwölf Stunden hatte jede Schwester über vierzehn Tage hin zu beobachten, zu den Verpflichtungen hinzu, die sie nicht vernachlässigen wollten.
  6. Man hat diesen Schwestern überdies ihre Aufgabe sehr erschwert. Sie fanden von seiten der Familie, und nicht bloß von ihr, eine geradezu feindselige Stimmung vor, Das zeigt sich schon, um nur von einem zu sprechen, in der Art, wie man sie untergebracht hatte, obwohl entsprechende und störungsfreie Zimmer zur Verfügung gestanden hätten. Gerlich behauptet (8), die Schwestern hatten sich Verfehlungen zuschulden kommen lassen, die für geschulte Krankenschwestern unerhört seien. Er behauptet das, um den Konnersreuther Kreis in Schutz zu nehmen. Gerlichs Vorwurf in dieser Form ist völlig unberechtigt. Er hat vor allem im Auge den heftigen Zusammenstoß zwischen den Schwestern und dem engeren Konnersreuther Kreis, von dem noch die Rede sein soll. Im übrigen, falls der Vorwurf Gerlichs richtig wäre, dann hatte er damit bewiesen, daß die Beobachtung nicht exakt genug erfolgt ist. Gerlich stützt sich natürlich auf die Anschuldigungen, die die Familie Neumann vorgebracht hat, nicht zuletzt Therese selber. Die angedeutete Szene ist bezeichnend, paßt ganz in das Bild der Hysterie. "Es ist ja bekannt, daß Hysterische, sobald sie sich in ihrem Interessentenkreis bedroht glauben, und sie die Entlarvung befürchten, sofort feindselig werden und vor den schlimmsten Anschuldigungen ihrer Gegner nicht zurückschrecken." Ein Wort von Dr. Deutsch, dessen Wahrheit bestätigt zu finden, wir wiederholt Gelegenheit haben werden.
  7. Zu einer exakten Untersuchung hätte gehört, daß Therese Neumann jeden Tag am Morgen und am Abend, und das nicht in der vollen Kleidung, gewogen worden wäre. Aber dies wurde nicht gestattet. "Eine Wägung zum Beispiel wurde verweigert, wozu das Bischöfl. Ordinariat die Erlaubnis gegeben hatte. Auch wurde der überwachende Arzt nicht ohne weiteres zu Therese gelassen. Einmal, als er des Nachts kam, verlangte der Vater Thereses seinen Erlaubnisschein." Dazu die Stellungnahme von Dr. Deutsch (9): "Man fragt sich unwillkürlich: War zur Zeit, als Dr. Seidl kam, und als die Wagung vorgenommen werden sollte, vielleicht irgend etwas zu verheimlichen?"
  8. Therese Neumann selber hat den Schwestern ihre Aufgabe gewiß nicht leichter gemacht. Ewald schildert in seinem Bericht jene eigenartige Szene, da Therese plötzlich zu jammern anfängt Über schreckliche Schmerzen verschiedener Art. Dann verkündigt sie, sie müsse leiden für dievier Schwestern, "die sich der großen Aufgabe, die ihnen zuteil geworden, nicht würdig zeigten". Hat diese Unwürdigkeit vielleicht darin bestanden, daß sie gegen ihren Willen abkommandiert worden und nun ihre Pflicht zu erfüllen bedacht waren? Oder macht ihnen Therese den Vorwurf, sie hatten ihre Pflicht nicht gewissenhaft genug erfüllt? Diesen Vorwurf konnte man den Schwestern gewiß nicht machen. Man wird hier erinnert an den Vorwurf, den Therese Neumann jenen Beobachtern gegenüber machte, vor allem Ärzten und Theologen, die nicht ohne weiteres den Versicherungen glaubten. Von ihnen sagte sie, sie meinten es nicht ernst.
  9. Gerlich nimmt an einem weiteren "Fehler" Anstoß (10). Die Schwestern hatten einmal eine Atherflasche offenstehen lassen; deswegen habe sich bei Therese ein Erstickungsanfall eingestellt. Daraufhin sei es zu einem Zusammenstoß gekommen. Was soll man da sagen? Therese hatte oft und oft "Erstickungsanfälle" ohne Ätherflasche. Wem wurden dann Vorwürfe gemacht? - Wenn eine offene Ätherflasche eine so schlimme Wirkung erzeugt, dann kommen die Ärzte und ihre Helfer im Operationssaal aus den Erstickungsanfällen nicht mehr heraus. Eine offene Atherflasche ist eine Kleinigkeit. Wer "Leidensbraut" sein will, darf deswegen keine feindselige Skandalszene aufziehen.

Dr. Ewald veröffentlichte die Eindrücke, die er in Konnersreuth gewonnen hatte, in der Münchener medizinischen Wochenschrift (11). Bedenken und Zweifel erregt das Ergebnis der chemischen Harnanalyse vom 15., 21., und 30. Juli und vom 5.August. Der Urin vom 15. Juli wird als Hungerurin bezeichnet; auch der Urin vom 21. Juli ist Hungerurin, wenn auch nicht mehr so eindeutig wie vorher. Die weiteren Proben werden als normal bezeichnet, d. h. die chemische Analyse entspricht dem Urin von Menschen, die normal essen und trinken. Nach Abschluß der Beobachtung war verlangt worden, Therese Neumann solle jetzt regelmäßig ihre Urinproben und anderen Ausscheidungen zur Untersuchung zur Verfügung stellen. "Allein die Familie Neumann hat nicht ein einziges Mal wieder Urin herausgegeben, trotz dringender Vorstellungen. Im Frühjahr 1929 versuchte Prof. Kern aus Bonn nochmals nachdrücklich, den Urin der Stigmatisierten zur Untersuchung zu bekommen. Er wurde abgewiesen." Schließlich begegnete man allen derartigen Forderungen mit der neuen Erklärung, die Ausscheidungen von Urin und Stuhlgang hatten vollständig aufgehört (12). Damit hatte man glücklich auch diese Klippe umschifft.

Wahrend der vierzehn Tage wurde auch ein paarmal das Körpergewicht von Therese Neumann geprüft. Dieses betrug am 13. Juli 55 kg und am 16. Juli 51 kg. Das bedeutet eine Gewichtsabnahme vom ersten Mittwoch bis Samstag um 4 kg. Am 20. Juli ergab sich ein Gewicht von 54 kg; Therese hatte also vom Samstag bis zum 2. Mittwoch 3 kg zugenommen. Das nächste Mal wurde das Gewicht geprüft am 23. Juli; es ergaben sich 52,5 kg. Das bedeutet vom 2. Mittwoch bis Samstag eine Abnahme von 1½ kg. Am 28. Juli wurde wieder das Anfangsgewicht von 55 kg erreicht also vom Samstag bis zum Ende der Beobachtungszeit.

Das klingt allerdings wunderbar. "Wenn man indes erfährt, daß Therese Neumann stets im vollen bis auf die Ferse reichenden Faltenkleid, nur ohne Schuhe, gewogen worden ist, so kann man die Sache auch natürlich erklären. Einen Eid über das Reingewicht der Therese Neumann können die vier Schwestern jedenfalls nicht ablegen (13)." Es ist klar, daß unter diesen Umständen Täuschungsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen werden können. Auffallend ist auch, daß Therese am Samstag jeweils vollkommen erholt und frisch aussah, wo sie doch noch kein Gramm des Gewichtsverlustes der vorhergehenden Tage hatte aufgeholt haben können.

Wenn Fahsel (14) behauptet, Therese Neumann habe jeweils am Samstag oder Sonntag nach den Leidensvisionen wieder ihr volles Gewicht erreicht, so stimmt das nicht überein mit den Erfahrungen während der Beobachtungszeit. Die Zunahme wurde erst zwei bis drei Tage später festgestellt. Die Prüfung des Gewichtes hatte eben täglich vorgenommen werden müssen.

Im Sommer 1927 war das Körpergewicht von Therese Neumann noch verhältnismäßig sehr gering. Es betrug mit den Kleidern 55 kg. In den späteren Jahren nahm ihr Gewicht ganz beträchtlich zu. Mehr und mehr näherte sie sich der Gestalt ihrer Mutter, die Gerlich (15) als "ausgesprochen korpulent" bezeichnet. Rößler sagte zu ihr eines Tages im Scherz (16): "Wenn man bedenkt, daß Sie niemals essen, muß man sich wundern, wie gut Sie aussehen." Lachend gab sie zur Antwort: "Ja, sagen S' nur: I bin dick. Wissen S', der liebe Gott macht nix halb." - So kann sich Fasten, nein: Nahrungslosigkeit auswirken!

Der zweite Arzt, der wahrend der Beobachtungszeit neben Dr. Seidl vorübergehend anwesend war, Dr. Ewald, sieht die Uberwachung nicht als einwandfrei an. Er sagt: "Angesichts dieser Tatsachen kann ich trotz aller Anerkennung der offenbar ehrlichen Bemühungen exaktester Beobachtung von allen Seiten nicht über den Eindruck hinweg, daß hier irgend etwas nicht stimmt. Ich selbst habe bei Annahme, daß die Beobachtung wirklich streng durchgeführt wurde, ein Loch in der Beobachtungsanordnung zwar nicht entdecken können; aber es muß ein solches noch vorhanden sein, es kann den Schwestern innerhalb des Konnersreuther Milieus so gut entgangen sein wie mir." Ewald wiederholt darum seine schon früher geäußerte Forderung: Einweisung in eine Klinik.

Schon bevor Prof. Ewald seinen Bericht veröffentlicht hatte, muß Therese Neumann von seinem Urteil erfahren haben, worüber sie sich sehr enttäuscht, ja tief empört zeigt. Sie bringt ihren Zorn zum Ausdruck in dem Brief vom 25. Oktober 1927 an Prof. Wutz in Eichstätt. Mir scheint dieser Brief so lehrreich, daß ich einen Auszug bringen möchte (17): "Da ich überzeugt bin, daß Sie von dem, was der lb. Heiland an mir und durch mich Armselige wirkt, ein klares Bild und den rechten Begriff davon haben, so will ich Ihnen schreiben, was ich auf dem Herzen habe und mir wehe tut, weil es dem lb. Heiland nicht gefällt, ganz gewiß nicht. ... Ja, wenn die Wissenschaft noch so dagegen arbeitet und gescheiter sein will als der lb. Heiland selbst; sie müssen am Ende doch zugeben, daß sie aus sich nichts wissen. Sie wissen ja, daß ich von solch Übergescheiten, die alles nach dem Verstande erklären wollen und nicht bedenken, daß der liebe Heiland über ihnen steht, nicht viel wissen mag. Die kommen mir genauso vor, wie die elenden, stolzen Pharisäer, die ich immer am Freitag sehe und vor denen ich solch großen Abscheu und Ekel habe. Ja, es kommen oft ganz gute, vernünftige Ärzte, wie gleich gestern Einer bei mir war. Ich denke halt, die wahre Wissenschaft sollte zum lieben Gott führen, aber es ist meistens das Gegenteil. Wenn ich an das denke, was ich erst kürzlich erlebt und was auch der Anlaß meines Schreibens ist, so kann und darf ich das ruhig sagen. Solch eine Unehrlichkeit und der Hochmut dazu. Kam letzthin Herr Sanitätsrat Dr. Seidl nach langer Zeit wieder mal zu mir und wir redeten verschiedenes, woraus ich erkannte, wie gewissenlos in dem, was der liebe Heiland tut, gehandelt wird. Wenn ich auch nicht so gescheit bin, so kenne ich trotzdem ein, wie es jetzt zugeht. Herrn Professor Ewald schätzte ich anfänglich höher, sonst hatte ich ihm kein Vertrauen geschenkt ... Und das heißt man Wissenschaft? Da ist ein altes Mutterl, das nichts wissen will, doch viel gescheiter ... Da bin ja ich, wo ich mir nicht helfen kann, denn doch schon fester und nicht so wankelig ... Ich sagte dem Dr. Seidl viel und offen meine Meinung. Ich bin nicht bös mit ihm und verzeihe ihm, aber zu tun möchte ich so wenig wie möglich haben, wenn es nicht direkt sein muß, wie damals, als mich das Ordinariat nötigte. Da weiß ich, was ich durchmachte und jetzt soll es umsonst sein? ... Und wenn es heute heißt, ich soll fort in eine Klinik, so ist es mir recht ... Aber der Vater sagt, er lasse mich nie fort ... Ich meine halt und weiß ganz bestimmt, daß der liebe Heiland mich nicht leiden läßt, daß die stolze Wissenschaft daran zu deuteln und zu nörgeln hat und doch nicht erklären kann. Nicht eine Seele kommt ihm dadurch näher, denn da müßte der liebe Heiland und die Apostel früher ein ganzes Regiment Wissenschaftler um sich gehabt haben. Aber die waren doch nicht notwendig und der liebe Heiland ist heute der gleiche wie früher ... Ich weiß nicht, wie die Herren, die mich immer nur quälen wollen, wie die Ärzte, was doch keinen Wert hat, so wenig begreifen können, daß der liebe Gott mehr kann, als sie verstehen ..."

Spricht aus solchen Worten nicht die ganze Feindseligkeit einer Hysterischen gegen alle, durch die sie Entlarvung zu befürchten hat, und eine lähmende Angst vor einer klinischen Untersuchung? Ist das die Sprache der Demut? Weil die Zweifel durch die Beobachtung im Elternhaus nicht aus dem Weg geräumt werden konnten - schließlich ergab sich auch insofern eine neue Lage, als von 1930 an die Ausscheidungen ausgeblieben sein sollen -, verlangten im Jahre 1932 die bayerischen Bischöfe mit allem Nachdruck eine erneute Überwachung, und zwar in einer Klinik. Nach Luise Rinser (18) soll Therese Neumann damit einverstanden gewesen sein. "Aber als es so weit war, wollte niemand für den Klinikaufenthalt bezahlen, weder die Kirche noch irgendeine wissenschaftliche Gesellschaft. Daß Theresens Eltern bezahlten, konnte man nicht wohl verlangen; denn sie waren arm. So ließ man die Sache fallen."

So war es nicht. Weder Therese noch ihre Angehörigen waren einverstanden. Wenn die bayerischen Bischöfe eine klinische Beobachtung verlangten, dann haben sie der Familie Neumann sicher nicht die Kosten aufbürden wollen, abgesehen davon, daß die Neumannfamilie so arm nicht war. Man hätte ganz gut von den amerikanischen Dollars abzweigen können. Daß die Überwachung nicht zustandegekommen ist, dafür ist einzig und allein die Weigerung der Familie Neumann schuld. Ich erinnere mich an eine Bemerkung des Professors Dr. Engert im Jahre 1933 während einer Vorlesung, die dem Sinne nach lautete- "Nachdem die Familie Neumann sich geweigert hat, der Aufforderung des zuständigen Bischofs und der Bischöfe Bayerns zur Beobachtung zuzustimmen, ist für mich ein für allemal die Sache erledigt und ich werde kein Wort mehr darüber verlieren."

Einige Jahre später wurde noch einmal der Versuch unternommen, von Therese Neumann das Einverständnis zu einer klinischen Untersuchung zu erreichen. Das Ansinnen wurde ausgesprochen in einem Dekret des Heiligen Offiziums im Dezember 1936. Der Aufforderung war die Klausel beigefügt: Im Weigerungsfalle gelte Therese Neumann als inoboediens. Durch Vermittlung einiger Bischöfe - man befand sich in Konnersreuth in einer ganz heiklen Lage - erging von Rom eine weitere Aufforderung an Konnersreuth, in der die genannte Klausel weggelassen wurde. Namentlich dem Kardinal von Prag, Kaspar, war es zu verdanken, daß dieses Entgegenkommen erreicht wurde. Auch jetzt hat die Familie Neumann ihre Zustimmung verweigert. Die Gründe, die dafür angegeben werden, können in keiner Weise überzeugen.

Zunächst heißt es freilich, Therese selber habe sich mit der klinischen Beobachtung einverstanden erklärt. Teodorowicz erklärt gar (19): Sie habe eingesehen, daß Untersuchungen notwendig seien, damit die Menschheit von der Wahrheit der Vorkommnisse in Konnersreuth überzeugt würde. Darum bat sie ihren Vater tränenden Auges, zu gestatten, daß sie untersucht werde, damals als das Konsistorium es zum erstenmal verlangte. Mit Freuden willigte sie selber in die Untersuchung.'

Wie freudig die Zustimmung war, haben wir in dem Brief an Professor Wutz gesehen. Eine "Zustimmung" solcher Art ist wertlos. Einerseits hat Therese Neumann immer wieder betont, sie müsse ihrem Vater gehorchen, andererseits wußte sie, daß dieser nie seine Zustimmung geben werde. In solcher Lage kann man leicht eine Bereitschaft vorgeben.

Nun zu den Begründungen für die Weigerung von seiten der Familie im einzelnen! Schon die Beobachtung im Elternhaus 1927 wurde erst nach schwierigen Verhandlungen erreicht. "Man wehrte sich aus Gründen des Gefühls dagegen. Auch der Seelenführer der Therese fragte sich, warum man denn nicht rechtschaffenen Menschen unbescholtenen Leumunds, mit einem in tiefer Religiosität wurzelnden Gewissen, auch ohne medizinische Bestätigung Glauben schenken sollte. Die Eltern haben zudem entgegengehalten, man wäre zur Zeit der jahrelangen schweren Krankheit der Tochter dankbar gewesen, wenn sich die Ärzte mehr um sie bemüht hätten; jetzt aber, da die ärztliche Hilfe nicht mehr nötig sei, bestünde plötzlich medizinisches Interesse (20)."

Der Vorwurf gegen die Ärzte ist unberechtigt. Therese Neumann wurde ja nach ihrem Unfall von mehreren Ärzten untersucht. Sie war ein paarmal im Krankenhaus von Waldsassen. Dr. Seidl hat sicher keinen gewünschten Krankenbesuch abgelehnt; Therese selber wollte von ihm nichts mehr wissen. Sie lehnte jeden Arzt ab, der ihr nicht hörig war. Die von der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft geforderte Untersuchung wurde abgelehnt. Wozu also die Vorwürfe? Außerdem hat ja die kirchliche Behörde, nicht eine ärztliche Kommission, die Überwachung verlangt.

Nach Steiners Angabe (21) hat der Kirchenrechtler Prof. Josef Lechner in einem Brief und Gutachten ausgeführt daß das kirchliche Recht kaum Handhaben biete, einen Laien zu einem Beobachtungsaufenthalt in einem Krankenhaus zu zwingen und ihn im Falle der Nichtbefolgung dieses Auftrages als ungehorsam zu erklären. Das Gegenteil sei richtig: Das kirchliche Recht schätze die menschlichen Grundrechte der Freiheit und Unversehrtheit der Person. - Merkwürdige Begründungen! Wo sollte denn die Freiheit und Unversehrtheit der Person verletzt werden? Da wäre vielleicht nur mehr der Kleriker der kirchlichen Autorität gegenüber zu Gehorsam verpflichtet!

Man liest, Bischöfe hätten die Familie Neumann gegen die Überwachung in einer Klinik animiert. Der Bischof von Eichstätt soll den Vater ermuntert haben, keinesfalls in eine Untersuchung einzuwilligen; der Bischof von Berlin habe sich über den "harten Kopf" des Vaters gefreut (22). Das scheint reichlich unglaubwürdig, nachdem doch die Aufforderung in einem Dekret des Hl. Offiziums ausgesprochen war, zuerst sogar mit der ausdrücklichen Androhung von kirchlichen Strafen. Da hätte ja die eine kirchliche Autorität gegen die höhere Instanz zum glatten Ungehorsam aufgewiegelt.

Die Weigerung wird mit der Befürchtung begründet, man hätte die Patientin durch Einspritzungen ermorden können. Das ist eine Verdächtigung des Ärztestandes, die nicht ernst zu nehmen ist, weil man die tieferen Gründe der Ablehnung kennt. Die Krankenhäuser waren auch nicht im Nazireich Verbrecherstätten, und Ärzte, die gegen ihr Gewissen handelten, waren auch damals die Ausnahme. Zudem stand die Wahl der Klinik frei. Nachdem schon 1926/27 die Einweisung in das Krankenhaus von Waldsassen abgelehnt worden war, nachdem 1932 das bischöfliche Ansinnen mißachtet worden war, ist die neue Begründung abwegig.

Steiner schreibt (23): "Beratende Freunde der Familie wiesen auch darauf hin, weich schwerer Eingriff in das Grundrecht menschlicher Freiheit es sei, eine Staatsbürgerin zu einer Überwachung in einer Klinik zwingen zu wollen." Da wurde nicht gut beraten. Wie oft müssen Menschen der Aufforderung zur ärztlichen Untersuchung nachkommen! Wer bräuchte dem nachzukommen, falls das ein unerlaubter Eingriff in die menschliche Freiheit wäre? Die Kirche darf nicht ohne gründliche Prüfung von einer wunderbaren Heilung sprechen. Darum verlangt sie beispielsweise im Falle Lourdes eingehende ärztliche Untersuchungen. Ist es unerlaubter Zwang, wenn Geheilten solche zugemutet werden?

Therese Neumann macht geltend, sie habe seinerzeit im Jahre 1927 viel durchmachen müssen (24).Wir wissen genau Bescheid, was sie auszuhalten hatte. Soviel wie nichts. Zwei Schwestern waren in ihrer Umgebung; viermal hat man ihr Gewicht geprüft. Nennt das ein normaler Mensch viel durchmachen'? Mehr als sie haben die Schwestern durchmachen müssen; eine von ihnen ist zusammengebrochen. Therese behauptet im erwähnten Brief an Prof. Wutz, man wolle sie immer nur quälen. Das sagt sie, die so unendlich Leidensfreudige, die "Leidensblume von Konnersreuth", wie Waitz sie nennt!

Teodorowicz hat in Konnersreuth erfahren, der Vater Neumann habe zufällig "das Gespräch der Ärzte abgelauscht, welches sich seiner Überzeugung nach als gefahrdrohend für das Leben seines Kindes erwies im Falle, daß er sein Kind einer Klinik überlasse". Einer der Ärzte habe sich nämlich unter anderem so geäußert: Soll nur Therese auf die Klinik kommen, dann werden wir ihr katholische Injektionen geben (25)." - Warum hat denn der Vater diesen Arzt nicht genannt und damit bloßgestellt?

Immer wieder wird betont, Therese Neumann habe ihre Zustimmung gegeben, aber ihr Vater habe sie verweigert; man könne ihr also keinen Vorwurf machen, da sie ihrem Vater Gehorsam schuldig gewesen sei. Das ist eine plumpe Ausrede. Therese war damals 38 Jahre alt.

Einer der Gründe, der namentlich vorn Vater des öfteren vorgebracht wurde, ist die Berufung auf ein angebliches Versprechen, das der Regensburger Generalvikar Dr. Scheglmann erteilt haben soll. Dieser habe zugesagt, daß noch der Beobachtung in Konnersreuth keine weitere veranlaßt würde. Gerlich selber aber macht zu dieser These einen Zusatz des Zweifels (26): "Laut mir während des Drucks gewordener Mitteilung widerspricht Herr Generalvikar Dr. Scheglmann dieser Auffassung.'

Der Vater soll gedroht haben, er werde seine Tochter aus seinem Hause verstoßen, falls sie ihm in dieser Angelegenheit nicht gehorche. Hätte er wirklich die Drohung ausgeführt, wenn das Ergebnis positiv gelautet hätte? Die Drohung ist letztlich nur verständlich, wenn durch die klinische Beobachtung eine Entlarvung befürchtet werden mußte. Man möchte meinen, die Familie Neumann hätte nichts mehr wünschen müssen als eine Bestätigung durch eine einwandfreie Beobachtung. -

In dem Brief der Therese Neumann an den Bischof von Regensburg lesen wir unter anderem (27): "Was habe ich der Kirche, zu der ich treu stehe, getan, daß sie mich so heimsucht, verfolgt und ausliefern will? Ich habe nur geopfert, gelitten und geblutet für ihre Interessen. Immer suchte ich ihr Seelen zuzubringen, Abtrünnige näher zu bringen, Gute zu stärken in dem schweren Kampf....... Es ist schon hart und furchtbar." - Als Sprache einer Demütigen kann man solche Worte nicht bezeichnen. Ebenso vermißt man Liebe zur Wahrheit. Wo hat die Kirche sie jemals heimgesucht und verfolgt?

Befreundete Ärzte sollen die Befürchtung geäußert haben, man werde zur Feststellung des Charakters der Stigmen Schnitte machen wollen, oder, man werde künstliche Ernährung durch den Darm oder durch Infusionen vornehmen. - Weicher Arzt hat in dieser Weise vor seinen Kollegen gewarnt? Solche Maßnahmen hatte in einem frei zu wählenden Krankenhaus sicher kein Arzt sich erlaubt.

Schließlich nahm Therese Neumann ihre Zuflucht zu Christus, indem sie erklärte. "Wenn sich der Heiland von einer Untersuchung etwas zu seiner Ehre oder zum Heile der Mitmenschen hätte erwarten können, so hätte er selber schon längst darauf gedrungen." - Der Heiland war also dagegen; da hört freilich jeder Disput auf. - In der gleichen Zeit soll nach einem Bericht von Pfarrer Naber (28) die Stigmatisierte durch die hl. Theresia getröstet worden sein: "Liebes Kind! Geh, nimm doch jedes Leid und jede Prüfung willig und freudig hin! Die Seelen warten drauf. Werd doch nicht mutlos! Vertrau blindlings! Erhältst so viele Beweise der Liebe. Durfte dir doch schon öfter die Zusicherung unserer Hilfe geben. Wir verlassen dich auch weiter nicht. Mußt deinen Beruf ganz ausfüllen, mußt auch dem verkannten, verachteten und verfolgten Heiland immer ähnlicher zu werden trachten." - Ob man durch Ungehorsam Gott ähnlicher werden kann? Eine komische "hl. Theresia"!

Das Bischöfliche Ordinariat von Regensburg hat im Amtsblatt vom 10. Dezember 1937 bekannt gegeben, daß sich die Familie Neumann der Aufforderung des Heiligen Offiziums zur erneuten Beobachtung der Therese Neumann ebensowenig gefügt habe wie den vorausgegangenen Wünschen des Oberhirten der Diözese und des gesamten bayerischen Episkopates. Diese Mitteilung brachte auch der "Benediktusbote" vom Februar 1938. Im Anschluß daran findet sich folgende Notiz: "Resl hat im gehobenen Ruhezustand gesagt, sie unterwerfe sich gerne dem Wunsch des Episkopates betreffs neuer Untersuchung; aber zurückkehren werde sie nicht mehr" (29). - Jetzt ist alles klar. Dieser Christus, der hier gesprochen hat, ist wie im Falle Konnersreuth sonst auch, niemand anders als Therese Neumann selber!

Schließlich hat der Vater zur Forderung einer klinischen Beobachtung in einem Brief an den Bischof Bedingungen in Form von 15 Punkten gestellt, die eine einwandfreie Beobachtung unmöglich gemacht hätten. Zu den Bedingungen gehörte, so weit ich sie veröffentlicht finde: Es darf nicht experimentiert werden. Die Mutter oder eine leibliche Schwester darf während der ganzen Beobachtungszeit im Zimmer bleiben und wohnen. Die photographischen Platten von den Aufnahmen, die Dr. Seidl 1927 gemacht hatte, müssen ausgeliefert werden. Weiter wird verlangt Aufklärung Ober den Eid der vier Mallersdorfer Schwestern und über ihr Gutachten.

Zuletzt stützt sich der Vater in seiner endgültigen Ablehnung auf eine Verdächtigung gegen Professor Dr. Ewald. Er schreibt an den Bischof unter anderem (30): Man habe an seiner Tochter Untersuchungen vorgenommen, "wie sie sich eine Dirne auch nicht ärger gefallen lassen muß". "Dieser Tage erfuhr ich von meiner Tochter Therese etwas, das meine Einstellung zu einer erneuten Untersuchung von Grund auf ändert. Bei der von Ihrem Vorgänger angeordneten Untersuchung hat Professor Ewald ohne mein Wissen und ohne jede Erlaubnis meine Tochter auf ihre jungfräuliche Unverletztheit untersucht. Meine Tochter hat es sich gefallen lassen müssen ohne in der Lage zu sein, dagegen zu protestieren." Sie habe all die Jahre geschwiegen aus Scham. Er finde es unerhört und schamlos, daß man einem Arzt, dazu noch einem Protestanten, Vollmachten zugestand, die es nicht verhindert hatten, "ein unbescholtenes Mädchen wie eine Dirne auf der Polizeistation zu untersuchen". Damit sei jeder Disput über eine ärztliche Untersuchung ein für allemal abgeschlossen.

Daß diese Verdächtigung nicht etwa bloß eine Erfindung des Vaters war, das zeigt eine Äußerung der Therese ihrer Freundin Anni Spiegl gegenüber: "Einer Dirne wäre es nicht schlechter ergangen" (31).

Zwei Wochen, bevor sich Ferdinand Neumann an den Bischof wandte, schrieb Therese einen Brief an Professor Wutz in Eichstätt (32). Hier jammert sie dem Professor ihr großes Leid vor. Namentlich beklagt sie sich über das Bischöfliche Ordinariat in Regensburg, wo man über sie "recht abfällige Bemerkungen" mache. Ein Hinweis auf Dr. Ewald kommt in dem Brief nicht vor. Aber ein Satz findet sich, der recht nachdenklich stimmt. Es heißt: "Vielleicht ist, wenn Ostern kommt, die schwere Frage auch gelöst, daß wir dann aufatmen können." Die schwere Frage ist bekannt. In diesen Tagen, zwischen 22. Februar und 10. März 1937, muß die Verdächtigung gegen Ewald entstanden sein.

Zu den Vorwürfen des Vaters ist einiges zu sagen. Worin besteht die Änderung seiner Einstellung von Grund auf? Die Einstellung war nie anders. Die Schwestern haben nicht bemerkt, daß der Stigmatisierten Unwürdiges zugemutet wurde; sie hatten es auch sicher nicht zugelassen. Warum hat Therese Neumann zehn Jahre lang geschwiegen? War sie seinerzeit im Schlafzustand, dann konnte sie nicht wissen, was Ewald tat. War sie bei Bewußtsein, sie hätte den Arzt nicht gewahren lassen. Hat Therese die Wahrheit gesagt? Die Antwort lautet ganz eindeutig. Nein! Sie hat gelogen.

Dr. Ewald betont in seinem bereits genannten Gutachten ausdrücklich: "Unwahr ist natürlich die Behauptung, daß in irgendeiner Weise von mir mit der Kranken ,experimentiert' worden sei." Er versichert, daß die Beobachtung stattfand "gemeinsam mit Kollegen Seidl in Gegenwart der Krankenschwestern, bald auch der Mutter oder des Vaters". Andere Personen "gingen ab und zu". Ewald stellt weiter fest, er habe nicht einmal die Brust der Stigmatisierten gesehen, nur die Wunde neben dem Brustbein. Lediglich die Schambehaarung habe er bei einer Bewegung der Therese kurz zu Gesicht bekommen. Vor 1937 wußte diese selber nichts von einem ungehörigen Vorgehen des Arztes. Erinnern wir uns, wie sie im Gespräch mit Professor Wunderle Dr. Ewald begeistert Lob spendete. Hatte sie das getan, falls der Arzt sie wie eine Dirne behandelt hätte? Was hier Therese Neumann getan hat, das ist die bekannte vor keiner Verleumdung zurückschreckende Abwehrhandlung einer hysterischen Person.

Es muß noch hingewiesen werden auf die Erklärung einer Nichte der Therese Neumann, ihre Tante lebe nicht nahrungslos, und auf ihren Widerruf im Jahre 1962 (33). Im Widerruf heißt es: "Ich erkläre, daß ich meine Tante und Patin Therese Neumann niemals gesehen habe, daß sie irgend etwas gegessen oder getrunken hat, auch nicht in kleinsten Mengen." - Hier wird etwas widerrufen, was vorher gar nicht in dieser Form behauptet worden war. Die Nichte hatte eine schriftliche Versicherung abgegeben, ihre Tante esse und trinke wie jeder andere Mensch. Diese Erklärung wurde auch von ihrem Vater unterschrieben. Von dem, daß Therese Neumann ihre Nichte beim Essen oder Trinken habe zuschauen lassen, war nicht die Rede. Ist der Verdacht unbegründet, daß der Widerruf absichtlich in solcher Form abgefaßt wurde, so daß man ihn auf Eid nehmen könnte? In der Neuen Bildpost ist der Widerruf veröffentlicht. Dabei wird versichert, der Vater der Nichte habe erklärt, er wisse nichts davon, daß er seine Unterschrift gegeben habe. Das ist jedoch nicht der Wahrheit entsprechend. Er hat tatsächlich unterschrieben. Kann er das vergessen haben?

Von den persönlichen Verdächtigungen, die von dem Verfasser der Artikelserie in der "Neuen Bildpost" in dem genannten Zusammenhang ausgesprochen werden, möchte ich nicht weiter reden; sie sind einfach widerlich. Der Reporter hat den Weg nach Konnersreuth gefunden und nach Eichstätt; aber zu dem in billiger Weise Verdächtigten ist er nicht gefahren. Das ist die sattsam bekannte Methode, die von dem Konnersreuther Kreis nicht bloß einmal angewandt wurde, um unbequeme Kritiker zum Schweigen zu bringen. Ich verweise nur - es stünde mir mehr Material zur Verfügung - auf die Verdächtigung gegen Professor Ewald. Das ist die Form des Kampfes bei Hysterischen. Zum Widerruf der Nichte sei noch bemerkt, daß die genannte Verwandte der Therese Neumann selber zu anderer Zeit und zu einem anderen Priester nachweislich gesagt hat.- "Wenn unsere Tante tot sein wird, dann müssen wir halt auspacken."

Es ist nicht das erstemal, daß jemand nahrungslos gelebt haben soll. Im Jahre 1947 erzählte ein Volksmissionar in meinem Beisein: In einem Kloster wurde er auf eine Schwester aufmerksam gemacht, die man als Heilige bezeichnete. Seit zwei Jahren, so sagte man, lebe sie ohne jede Nahrung. Später kam der Pater wieder in jenes Kloster. Er erkundigte sich nach der Schwester. Zögernd bekam er Auskunft: Sie sei gestorben und habe auf dem Sterbebett eingestanden, all die Jahre geschwindelt zu haben. So etwas ist möglich. Zum Glück hat man zu Lebzeiten dieser "Nahrungslosen" keinen Rummel aufgezogen.

In einem Aufsatz in der Deutschen Tagespost 1965 findet Professor Dr. Mayr für Therese Neumann eine sehr interessante und wertvolle Bestätigung der Nahrungslosigkeit' in einem zahnörztlichen Attest vom 8. Januar 1932: "Im Oberkiefer bis auf 2 bis 4 intakte nur zerstörte Zähne und Wurzeln, dazwischen einige Lücken. Von den oberen Schneide- und Eckzähnen waren nur noch die Wurzeln vorhanden. Beim Anblick dieses Gebißzustandes war ich weniger von dieser Tatsache beeindruckt als von der Feststellung, daß dieser ruinöse Zustand ja ganz anders aussah als sonst: Die zu allen möglichen Formen zerstörten Zähne und kronenlosen Wurzeln glänzten, waren glatt, ohne cariöse Beläge. Sie kamen mir vor wie Steine unter einem Wasserfall, so blank und sauber." Im Munde, so folgert Mayr, sei keine normale Bakterienflora vorhanden gewesen; die Nahrungsaufnahme durch den Mund sei damit ausgeschlossen.

Mayr nimmt an, keine normale Bakterienflora sei vorhanden gewesen. Ohne Beweis darf er das nicht behaupten. Über normale oder anormale Bakterienflora kann nur eine Untersuchung des Fachmannes Aufschluß geben. Eine solche ist nicht erfolgt.

Das Gutachten spricht von 2 bis 4 intakten Zähnen im Oberkiefer. Bei diesem Gutachten vermißt man eine exaktere Angabe des Zahnarztes. Er konnte ja feststellen, ob 2, 3 oder 4 Zähne in Ordnung waren. Offenbar handelt es sich um eine spätere Angabe aus dem Gedächtnis; nur so ist die unbestimmte Angabe zu erklären. Man muß sich auch fragen, seit welcher Zeit Therese Neumann ein derart ruinöses Gebiß aufwies, das sie beim Sprechen stark behindert haben muß. Vorher hatte demnach nie ein Zahnarzt eine Behandlung der schadhaften Zähne vorgenommen.

Mayr nimmt offenbar an, Karies werde ausschließlich durch Nahrungsaufnahme verursacht. Demnach hatten nach 1926 die Zähne nicht mehr an Zahnfäule erkranken können. Über sechs Jahre hin wäre der Zustand des Gebisses der gleiche gewesen und doch wurde kein Zahnarzt aufgesucht. Selbst wenn Nahrungsreste zwischen den Zähnen und sonst nichts Karies bewirken, so wird sicher nicht durch. völliges Fasten die bereits vorhandene Erkrankung der Zähne verschwinden. Die einmal vorhandenen schädlichen Bakterien stellen deswegen nicht ihr zerstörendes Werk ein. Außerdem drängt sich noch eine andere Überlegung auf: Mit dem Stoffwechsel im Körper haben viele Organe zu tun, wie Magen und Niere. Wollte man eine ähnliche Folgerung hinsichtlich dieser Organe ziehen, dann hatten sie nach dem Wegfall ihrer natürlichen Aufgabe auch nicht mehr erkranken können. Nun aber hatte Therese Neumann ihren Angaben entsprechend Magen-, Darm- und Nierenstörungen und andere Gebrechen.

Einen weiteren "Beweis" bringt Professor Mayr. "Mit vollkommener Sicherheit" habe sich nach dem Tod der Therese Neumann gezeigt, daß die Gesetze des natürlichen Stoffwechsels aufgehoben waren. Denn vier Tage nach dem Tod hatten sich "nicht die geringsten Spuren der Verwesung gezeigt, keine Leichenflecken, kein Leichengeruch, keine Totenstarre." Die Lippen hätten ihre rötliche Farbe behalten. Durch natürliche Kräfte sei dies nicht zu erklären.

Da ist doch offensichtlich als Schlußfolgerung mit ausgesprochen: Eine Verwesung wird nicht eintreten. Nun, es gibt Mittel, welche den Eintritt der Verwesung hinauszögern. Daß die Ärzte, die von Steiner namentlich aufgeführt werden (34), die oben aufgeführten Feststellungen getroffen haben, ist nichts Besonderes. Aber daß sie Schlußfolgerungen gezogen haben wie Professor Mayr, ist ausgeschlossen. Was heißt überhaupt "Gesetze des natürlichen Stoffwechsels"? Wie konnte das verlorene Blut erneuert werden, falls überhaupt der Blutverlust so groß war, wie behauptet wird? Wie kam es, daß Organe erkrankten, daß sich Abszesse bildeten, auch nach vollkommener Nahrungslosigkeit? Wie erklärt man sich, wenn die Gesetze des natürlichen Stoffwechsels aufgehoben waren, die Tatsache, daß im Lauf der Jahre das Körpergewicht der Therese Neumann ganz erheblich zugenommen hat? Christus hat Wunder gewirkt; hier handelt es sich um einen Wunderkatalog.

Steiner behauptet (35): "Der Vater hat zu allen Zeiten, solange er lebte - auch ich bezeuge das -, gesagt: ,Meinetwegen stellen sie die Resl in ein Glashaus und beobachten sie, solange sie wollen, aber herumexperimentieren lasse ich nicht mit ihr.'" Das ist leeres Gerede.

Der Pfarrer, sagt Steiner weiter, habe ihm im Jahre 1949 erklärt: "Wenn nur grod einer von den Regensburger Domherren oder Professoren käme, wir worden ihm ja alle Wege ebnen und alle Beobachtungsmöglichkeiten zu jeder Zeit gewähren." Aber von Konnersreuth aus könne man doch so einen Besuch nicht anregen, das könne falsch ausgelegt werden. "Dieses aufrichtige Bedauern" habe der Pfarrer auch 1963 ausgesprochen. Man habe unter der gegensätzlichen Haltung vieler, die Konnersreuth in den letzten 25 Jahren unbeachtet gelassen hätten, sehr gelitten; also seit 1938. - Ja, was hätte man denn tun sollen, nachdem die verlangte Beobachtung ohne einen Schimmer von Entgegenkommen abgelehnt wurde? Wann wurden denn alle Wege geebnet; wann wurden alle Beobachtungsmöglichkeiten zu jeder Zeit gewährt?

Eine Bereitschaft war nie vorhanden. So hatte nach dem letzten Kriege ein nichtkatholischer Arzt Therese Neumann gegenüber angeregt, sie möge sich 4 oder 6 Wochen in einer Klinik beobachten lassen. Falls dann feststehe, daß sie ohne Nahrungsaufnahme lebe, werde er katholisch, weil er dann auf ein Wunder erkennen müsse. Seitdem hat Therese Neumann nichts mehr von diesem Arzt wissen wollen. "Der glaubt nicht an mich", sagte sie.

Nochmals sei die Frage aufgeworfen. Hat Therese Neumann nahrungslos gelebt? Die Antwort kann nur lauten: Das ist nie nachgewiesen worden. Ich füge dem hinzu: Sie hat genauso gegessen und getrunken wie die übrigen Menschen. Wie weit sie für den Schwindel - ich kann nicht anders sagen - verantwortlich war, ist eine andere Frage. Bei hysterischen Personen ist sicher die Verantwortung herabgemindert. Aber damit kann und darf man nicht alles entschuldigen. Sicher war Therese nicht allein schuldig; zu viele haben sie mehr und mehr in ihre Rolle hineingeschaukeit. Wer hat dann nach Jahren eines derartigen Theaters den Mut und die Kraft und Demut, einzugestehen: Ich habe geschwindelt und betrogen!? Dazu gehört ein hohes Maß von heldenhafter Tapferkeit.

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Letzte Änderung: 1. September 1999