Rechenschwäche - Dyskalkulie


Frau Präsidentin Ilse Schmid

interviewt Herrn Mag.Gaidoschik

Zur Person: am Ende des Interviews


Herr Mag. Gaidoschik, Sie sind Gründungsmitglied und Obmann des Vereins für Lern- und Dyskalkulietherapie. Was waren Ihre Beweggründe für die Gründung dieses Vereins und was sind die Ziele?
 

Den Verein haben wir aus der Erkenntnis heraus gegründet, dass es in Österreich, was Rechenstörungen oder Dyskalkulie betrifft, einen ungeheuren Nachholbedarf gibt, auf allen Ebenen: Viel zu wenige Menschen wissen hierzulande , dass es "so etwas" überhaupt gibt, entsprechend häufig werden Kinder mit Rechenstörungen als dumm oder faul verkannt - und das steigert die Not dieser Kinder noch einmal gewaltig. An erster Stelle ist da natürlich die Schule zu nennen: Der Informationsstand vieler LehrerInnen über Rechenstörungen ist schlicht unzureichend. Dementsprechend werden Chancen in der Früherkennung, aber auch der Verhinderung von Rechenstörungen vertan. Daher sind wir in der LehrerInnenfortbildung engagiert - wobei gerade hier in der Steiermark das Interesse der LehrerInnen, aber auch die Kooperationsbereitschaft des Pädagogischen Institutes sehr groß sind. Aber es geht natürlich auch um die Frage der Grundausbildung der LehrerInnen, um die Lehrpläne und Schulbücher, um gesetzliche Rahmenbedingungen für die schulische, aber auch außerschulische Förderung: In Österreich gibt es unter dem Titel "Dyskalkulie" keinen Groschen öffentlicher Unterstützung für betroffene Eltern. Entsprechend häufig müssen als notwendig erkannte Therapiemaßnahmen aus finanziellen Gründen unterbleiben. In Deutschland dagegen wird ein Großteil der Maßnahmen gegen Rechenstörungen von Jugendämtern finanziert: Eine vergleichbare Regelung streben wir auch für Österreich an.

Wie können Eltern erkennen, ob ihr Kind eine "echte" Rechenschwäche hat, oder ob "sich das noch auswächst"?

Leider wächst sich eine wirkliche "Rechenschwäche" von alleine nie aus. Dafür sorgt der aufbauende Charakter der Grundschulmathematik: "Rechenschwäche" bedeutet, dass ein Kind ganz grundsätzlich falsche Gedanken darüber hat, was eine Zahl ist, was Einer, Zehner, Hunderter ... sind. Das Kind kann sich dauerhaft nur durch Einzeln-Abzählen, meist mithilfe der Finger, behelfen. Die Grundrechenarten plus, minus, mal, geteilt werden falsch verstanden, dementsprechend häufig sind Verwechslungen. Und die Kinder sind hilflos, wenn sie mit diesen Grundrechenarten in Form von Textaufgaben konfrontiert werden. Sie bilden keine "Zahlenraumvorstellung" aus, haben beim Umgang mit Zahlen keine Größenabschätzung. Ob "hundert" oder "tausend" oder "zehntausend" - das macht für sie keinen nennenswerten Unterschied. Deshalb fällt es ihnen auch nicht auf, wenn ihre Ergebnisse in grotesker Weise daneben liegen. Und dieser Irrgarten falscher Vorstellungen, Gedanken und Strategien wird immer verzwickter, je mehr neuer Stoff auf diesen falschen Grundlagen aufgebaut wird. Ein Kind kann da nur dann wieder herauskommen, wenn man es Schritt für Schritt dabei anleitet - und dann noch sind die Hindernisse groß. Deshalb mein dringender Rat: Bei hartnäckigen Schwierigkeiten im Mathematik-Erstunterricht sollten Eltern immer versuchen, hinter die Denkweisen ihrer Kinder zu kommen. Dabei kann ihnen unser "Elternratgeber" helfen, den wir auf Anfrage kostenlos zusenden. Wenn sich bei einer solchen gezielten Beobachtung der Verdacht auf grundsätzliche Missverständnisse erhärtet, dann sollte sofort eine genaue Abklärung durch Fachleute vorgenommen werden: Je früher man mit gezielten Gegenmaßnahmen beginnt, um so eher kann man eine Rechenstörung in den Griff bekommen und Schlimmeres verhindern.

Oftmals berichten Eltern, dass ihr Kind nach einem Lehrerwechsel plötzlich gravierende Probleme in Mathematik hat bzw. umgekehrt, dass sich die Probleme quasi von selbst auflösen. Ist Rechenschwäche ein erworbenes Leiden?

Das, was man "Rechenschwäche" nennt, ist keine "Krankheit", die ein Kind quasi schicksalhaft "in sich trägt". Rechenstörungen entstehen vielmehr durch das Zusammenwirken einer Fülle von Faktoren, und das Kind selbst mit all seinen intellektuellen und psychischen Besonderheiten ist nur einer davon. Die Wissenschaft weiß, dass ein nicht genau bestimmbarer Prozentsatz von Rechenstörungen auch Folge von Mängeln im Unterricht ist. Ganz getrennt davon ist ein frühzeitiger Lehrerwechsel an sich schon ein Problem; die Verwirrung über den neuen Unterrichtsstil und die neuen Methoden kann bereits vorhandene Schwierigkeiten mit Mathematik noch entscheidend verstärken. Dass sich umgekehrt bereits ausgeprägte Missverständnisse durch einen Lehrerwechsel "in Luft auflösen", ist dagegen - leider! - nicht zu erwarten. Aber natürlich kann eine Lehrerin, die mit Verständnis auf die Schwierigkeiten eingeht, bewirken, dass eine nicht massiv ausgeprägte Rechenstörung zu einem gar nicht so großen schulischen Problem wird. Die Frage ist dann allerdings, wie sich das langfristig, also bei Übertritt in eine weiterführende Schule, entwickeln wird. Insofern rate ich auch in solchen günstigen Fällen zu einer Abklärung.

Wie lange darf man einem Kind gestatten, mit Fingern zu rechnen, und für wie förderlich oder hinderlich halten sie Anschauungsmaterial?

Es geht hier nicht um die Frage, ob überhaupt Finger oder Anschauungsmaterial verwendet werden, sondern ganz und gar darum, wie, in welcher Weise das geschieht. Als Mittel dafür, bestimmte mathematische Einsichten zu gewinnen, ist Material für die meisten Kinder unverzichtbar. Die Finger bieten sich für eine Reihe von solchen Einsichten als geradezu ideales Material an. Wird das Material bzw. werden die Finger aber nur als Zählhilfe verwendet, dann besteht die ganz große Gefahr, dass eine falsche Zahlauffassung überdeckt, ja sogar gefördert wird. Sie sprechen hier also eine sehr schwierige, sehr wichtige Frage des Mathematik-Lernens an, die man leider nicht in wenigen Sätzen beantworten kann. Nur so viel: Die Finger zu verbieten ist immer der falsche Weg. Das Fingerzählen ist nämlich nicht das Problem an sich. Sondern es kann der Ausdruck eines dahintersteckenden Problems sein, nämlich einer falschen Auffassung von Zahlen. Dort müsste man ansetzen, um dem Kind zu helfen. Verbietet man ihm hingegen die Verwendung seiner Finger, obwohl seine Zahlauffassung ihm keinen anderen Weg als das Zählen erlaubt, dann verschärft man sein Problem nur noch.

Was erwartet Kinder und Eltern, wenn sie sich an ihr Institut wenden?

Sie dürfen sich zunächst im Rahmen unserer Telefonsprechstunden (Mo, Mi und Do von 12 bis 14 Uhr unter 0316 - 766 344) und durch Zusendung von Informationsmaterial kostenlose kompetente Information über Rechenstörungen erwarten. Weiters können wir, allerdings gegen Kostenbeiträge, im diagnostischen Gespräch mit dem Kind ein "individuelles mathematisches Profil" zur Abklärung einer Rechenstörung erstellen; auf dieser Grundlage findet dann eine individuelle Beratung über die Fördermöglichkeiten zuhause, in der Schule und gegebenfalls durch außerschulische Experten statt. Wenn notwendig und auch von den Eltern gewünscht, können wir im Institut schließlich eine Einzelbetreuung des Kindes durch dafür ausgebildete Dyskalkulietherapeutinnen durchführen.

Wie können Eltern ihren Kindern helfen, wenn sie eine "Rechenschwäche" haben?

Zunächst einmal dadurch, dass sie versuchen, sich umfassend über dieses Problem zu informieren. Durch Unwissenheit machen Eltern, die das Beste für ihre rechenschwachen Kinder wollen, tagtäglich vieles noch schlimmer. Der häufigste Fehler: Obwohl nicht klar ist, worin das Problem des Kindes eigentlich besteht, wird geübt, geübt, geübt. Wenn aufgrund einer Rechenstörung aber die Grundlagen für das Verstehen fehlen, bringt das Üben keinen dauerhaften Lernzuwachs. Auf der anderen Seite wird das Kind psychisch immer mehr in die Ecke gedrängt. Daher der Rat: Zuerst abklären, was überhaupt die Lern-Ausgangslage ist. Unser Verein hilft dabei nach Kräften - eben durch unseren Elternratgeber, aber auch durch weiteres Informationsmaterial, das wir gerne kostenlos zusenden.

Gibt es vorbeugende Maßnahmen?

Ja, sehr viele. "Rechnen lernen" baut auf einer Vielzahl von Fähigkeiten und Fertigkeiten auf, die ein Kind in den Jahren vor der Einschulung in der Regel spielerisch erwirbt. Da können sich aber auch Probleme ergeben, es kann Entwicklungsrückstände geben. Je früher solche Rückstände - in der Wahrnehmung, in der Bewegung - erkannt werden, je früher Gegenmaßnahmen ergriffen werden, umso wahrscheinlicher ist es, dass später in der Schule keine Störungen in den "Kulturtechniken" Lesen, Schreiben und Rechnen auftreten.

Was kann bzw. muss der Beitrag der Schule resp. der LehrerInnen sein?

In der Schule selbst könnte durch entsprechend sorgfältigen Unterricht vieles getan werden, um das Aufkommen von Rechenstörungen in vielen Fällen zu verhindern. Das würde allerdings umfassende Maßnahmen in der Aus- und Fortbildung der LehrerInnen verlangen - weit mehr, als bereits geschieht. Eine verbesserte Aus- und Fortbildung würde auch verhindern, dass Rechenstörungen zu spät erkannt werden. Und das wäre doppelt wichtig: Erstens steigen die Chancen der Überwindung einer Rechenstörung durch Früherkennung ganz entscheidend. Zweitens macht es für das rechenschwache Kind einen Riesenunterschied, ob es in seinen Schwierigkeiten von Beginn an richtig verstanden wird. Viele psychische Folgeprobleme könnten da verhindert werden. Was die Schule wohl nicht leisten kann: Die Therapie einer bereits ausgeprägten Rechenstörung. Denn das erfordert - neben einer speziellen Ausbildung - so gut wie immer Einzelbetreuung. Nur noch einmal: Wenn die Schule ihren Aufgaben nachkäme, wäre die Zahl der Kinder, die eine solche Therapie benötigen, um einiges geringer als heute.

Herr Mag. Gaidoschik, herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen.

Ilse Schmid


Zur Person:

Mag. Michael Gaidoschik, geb. 1965, Studium u.a. der Pädagogik und Psychologie in Wien, Ausbildung zum Dyskalkulie-Therapeuten am Institut zur Behandlung der Rechenschwäche in München, seit1995 Aufbau und Leitung eines Rechenschwäche-Institutes in Wien, seit 1998 auch in Graz. Obmann des "Vereins für Lern- und Dyskalkulietherapie", Herausgeber des "Österreichischen Rechenschwäche Magazins", Ko-Autor des Elternratgebers "Hilfe, mein Kind kann nicht rechnen". Neben der diagnostischen und therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Eltern- und LehrerInnenfortbildung und als wissenschaftlicher Autor tätig.

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