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Charles Lloyd: Beinahe hätte er den Jazz gerettet!

Die "Supergroup" mit Keith Jarrett und ihre Aufnahmen für Atlantic in den 60er-Jahren

Von Robert Stubenrauch
Coverstory, erschienen in Jazz Live Nr. 127/2000 (Seiten 6-7)

Charles Lloyd konnte in den 60er-Jahren innerhalb kürzester Zeit Erfolge feiern wie kaum ein Jazzmusiker zuvor: 1967 wurde er vom Magazin Down Beat zum "Jazz Man Of The Year" gewählt, und sein Album Forest Flower war eines der ersten Jazzalben, das mehr als eine Million mal verkauft wurde. Als einer der ersten Jazzmusiker konnte er das Rock-Publikum in Scharen begeistern, ohne große künstlerische Zugeständnisse machen zu müssen. 1967 spielte er sogar in der Sowjetunion ein umjubeltes Konzert, ein einmaliges Ereignis für eine zeitgenössische Jazzgruppe in Zeiten des Kalten Krieges. Dann nahm er eine Hippie-Erscheinung an, wurde Teil der Flowerpower-Bewegung und seine Konzerte wurden zu Festen der Sehnsucht nach "Love & Peace". Aber noch bevor die Hippie-Ära selbst zu Ende ging (mit dem tragischen Ende so vieler Rockmusiker) wurde das erfolgreiche Charles Lloyd Quartett mit Keith Jarrett und Jack DeJohnette aufgelöst. Es folgte ein kreativer Abstieg und mehr als ein Jahrzehnt obskurer Aktivitäten, unbeachtet von der Öffentlichkeit. Bizarre Tondokumente bleiben aus jener Zeit, wie z.B. Aufnahmen mit den Beach Boys!

Aber dann das triumphale Comeback mit Michel Petrucciani im Jahre 1982! Mit frischer Kraft, gewohnter Sensibilität und Kreativität erfreute er wieder sein Publikum, getragen von großem Ernst und tiefer Spiritualität. Bis heute folgte ein ungebrochenes künstlerisches Wachstum mit einer Reihe von großartigen Alben (nun mit Bobo Stenson am Piano) und regelmäßigen Konzerttouren durch alle Welt. Das Leben des Charles Lloyd ist also zweifellos interessant; er hat Charisma, Erfahrung und Glaubwürdigkeit wie wenige andere im Jazzbusiness.

Wie aber steht es um die Bewertung seines musikalischen Beitrages in den 60er-Jahren? Zu einer Zeit, als Jazz einerseits Gefahr lief, sich mit intellektuellen oder politischen Zielen zu überfrachten, und Rockmusik andererseits Vielen als die einzige Alternative erschien, konnte Lloyd erfolgreich beides vereinen: Musik, die Spaß machte und direkt die Emotionen der Hörer ansprach, die aber dennoch zeitgemäß und von hoher Qualität war. Der Kritiker Mike Hennessey sagte damals (zitiert aus dem Begleittext zu Forest Flower), Jazz leide unter zwei Syndromen: Entweder fiel er in die Kategorie "Hab' ich alles schon gehört" oder in die Kategorie "Das will ich nie wieder hören". Charles Lloyd habe diesen Gegensatz aufgehoben, indem er sich quer durch alle Kategorien bewegte, und mit brillanter Virtuosität modalen Jazz, Bop, Abstraktion und Rock miteinander verband. Auf diese Art hat Charles Lloyd neue Richtungen aufgetan.

Die Zahl der innovativen "Tenor-Giganten" war besonders groß in den 60er-Jahren; man denke an Coltrane, Rollins, Shorter, Ayler, Shepp, Sanders. Lloyd war ein großer Komponist und ein starker Integrator und Kommunikator, aber verglichen mit diesen Zeitgenossen war er weder ein Innovator am Instrument, noch ein revolutionärer Improvisator. Das "Original Quartet" mit Jarrett und DeJohnette (am Bass folgte Ron McClure auf Cecil McBee) war nicht die Band eines Starsaxophonisten plus Rhythmusgruppe, sondern eine organische Einheit, die spontan reagierte, wie man es sonst nur im Freejazz kannte. Lloyd, dem die Kommunikation mit dem Publikum immer besonders wichtig war, schaffte es, das magische Dreieck Lloyd-Jarrett-DeJohnette auf das Publikum auszudehnen, das auf diese Weise Teil des Geschehens wurde. Sein Verdienst war es, eine Plattform für all das zu bieten: Seine Kompositionen, oft blues-betonte, eingängige Melodien, manchmal freie, impressionistische Klang-Landschaften mit orientalem Flair, immer stark rhythmisch verankert, waren das perfekte Vehikel für die Improvisationen, zu denen Jarrett und DeJohnette ihre waghalsige Virtuosität und telepathische Spontaneität beitrugen. Dennoch, die Musik war nie "Powerplay"; das Publikum fühlte sich nie durch "musikalische Gewalt" überfordert. Lloyd's Musik war auch in den ekstatischsten Momenten von Leichtigkeit und Fröhlichkeit getragen.

Vielleicht wurden in Lloyds Person die relaxte Hipness eines Miles Davis und die intensive Freiheitssuche eines John Coltrane wieder zusammengeführt, die 1960 getrennte Wege gegangen waren. Anscheinend waren die Zeit und das Publikum reif dafür, entsprechend marktgerecht und medienwirksam unterstützt, dies auf breiter Basis stürmisch als neue Strömung willkommen zu heißen. Der Titel des Artikels von Martin Williams in der New York Times vom 15.9.1968 spricht für sich: "Will Charles Lloyd Save Jazz for the Masses?". Die Erwartungen an Lloyd als "Retter des Jazz für die Massen" waren also durchaus hoch und es stellt sich aus heutiger Sicht die Frage sowohl nach der Machbarkeit, als auch der Erwünschtheit einer solchen Rettung.

Man hat oft kritisierend behauptet, Charles Lloyd habe John Coltranes radikal innovative Konzepte "verflacht" und für die Massen verträglich gemacht. In mancherlei Hinsicht erinnert Lloyd tatsächlich an Coltrane, musikalisch wie spirituell. Allerdings: Kaum ein Saxophonist nach Coltrane konnte sich dem Einfluss des Meisters entziehen; nicht alle waren freilich so erfolgreich wie Lloyd. So sehr Lloyds Stellenwert einige Zeit überbewertet gewesen sein mag, so sehr wird er heute immer noch schnell als bloßer Coltrane-Epigone abgetan, ohne seine Weiterentwicklung zu einem in allen Aspekten sehr persönlichen Stil und den in seiner Reife wichtigen und kontinuierlichen Beitrag zum zeitgenössischen Jazz zu sehen.

Bezeichnenderweise bestand das "Original Quartet" nur für weniger als drei Jahre. Nachdem die Richtung vorgegeben war, war kaum noch eine Entwicklung in der Gruppe bemerkbar; jedes Abgehen vom erfolgreichen Pfad hätte die enorme Akzeptanz beim Publikum gefährdet. Im Wesentlichen war nur eines der bei Atlantic herausgekommenen Album (das erste der Gruppe!) im Studio aufgenommen, die anderen sieben waren Live-Aufnahmen. Die Gruppe fand keine Zeit, systematisch neue Ideen in der Atomsphäre eines Studios zu entwickeln. Ein guter Teil des Repertoires des Quartetts stammte sogar noch aus den Zeiten Lloyds bei Chico Hamilton zwischen 1962 und '64 (auch der Hit Forest Flower), was umso erstaunlicher ist, als diese Musik auch im "Flower-Power"-Kontext noch zu funktionieren schien.

Die Potenziale der Gruppenmitglieder waren zu groß, um in diesem wenig dynamischen Umfeld auf längere Zeit gebunden zu werden. Besonders Keith Jarrett hatte sich in kurzer Zeit mit seiner unbändigen Virtuosität und Kreativität selbst zum Star gemausert, der nun nicht selten seinen Leader in den Schatten stellte. Das Quartett zerbrach also. Während Charles Lloyd mehr als ein Jahrzehnt brauchte, um sich wieder in der Szene zu etablieren, begannen Keith Jarrett und Jack DeJohnette ihre eigenen Karrieren und schrieben bald Jazzgeschichte. Miles Davis hatte gefallen, was er bei Charles Lloyd gesehen hatte (schließlich war er selbst auch auf der Suche nach dem Massenerfolg) und benutzte nun Jarrett und DeJohnette, um seine eigene Entwicklung in Richtung Fusion voranzutreiben. Einer der subtilen und indirekten Einflüsse Charles Lloyds.

Warum dauerte Lloyds Erholungsphase so lange? Der enorme Erfolg des Quartetts ist nicht einfach auf "natürliche" Weise, nur durch die hohe Qualität der Musik, zu erklären. Die Erfolgs-Story der Gruppe ist unvollständig, wenn der Mann nicht erwähnt wird, der ihre Entwicklung zielbewusst gesteuert hat: Produzent George Avakian. Avakian war seit den 50er-Jahren erfolgreich für Columbia tätig (wo er sich u.a. um Größen wie Duke Ellington, Louis Armstrong und Miles Davis kümmerte) und hatte vor dem Wechsel zu Atlantic auch die beiden ersten Alben Lloyds für dieses Label produziert (mit anderen Bandmitgliedern). Er hatte früh das Potenzial Charles Lloyds erkannt und entwickelte einen brillanten strategischen Plan, es kommerziell zu verwerten. Zuerst wollten sie Europa erobern, erst danach die USA (schließlich schafften sie sogar die Sowjetunion!). Dabei würden sie ihr Publikum schrittweise in Richtung Rock ausweiten. Aus welchen Gründen auch immer - der Plan funktionierte perfekt! So hatte Avakian das öffentliche Bild des Charles Lloyd entscheidend mitgestaltet. Schon bald stellte sich für Lloyd allerdings heraus, dass er in der für ihn bestimmten Rolle gefangen war und auch seine Mitmusiker merkten, dass ihnen nur ein untergeordneter Anteil an dem Spiel zugewiesen war, das sie nicht länger mitmachen wollten. Der Dream Weaver war dem Musik-Business in die Falle gegangen. "Der Aufstieg und Fall des Charles Lloyd" - und sein Wiederaufstieg! Insgesamt ein Lehrstück über Zeitgeist, Musik und deren Vermarktung. Heute - über 30 Jahre danach - ist der Status von Lloyds damaliger Musik historisch und der seiner heutigen Musik zeitlos. Sein Comeback und sein beständiges Reifen haben bewiesen, dass sein künstlerisches Potenzial auf lange Sicht stärker war als Avakians kurzfristiger Marketing-Plan.

Wer sich selbst ein Bild von der Musik machen will, die Charles Lloyd zum Star und die Welt auf Keith Jarrett und Jack DeJohnette aufmerksam gemacht hat, kann dies jetzt endlich tun, nachdem die meisten der Atlantic-Alben lange Jahre vergriffen waren. Erstmals liegen nun alle Aufnahmen auf CD vor, wenn auch von unterschiedlichen Labels in sehr unterschiedlicher Qualität herausgegeben. Eine technisch einwandfreie und ordentlich edierte Gesamtausgabe ist nicht in Sicht. Auch Sonys Legacy Label, das uns schon so viele exzellente Werkschauen geliefert hat, lässt mit einer Ausgabe von Lloyds Aufnahmen für Columbia aus den Jahren 1964 und 1965 (mit Sidemen wie Gabor Szabo, Tony Williams und Ron Carter) auf sich warten [siehe Vote for Complete Charles Lloyd in Columbia].

Das Reissue-Label Collectables hat fünf von Lloyds Atlantic Alben herausgebracht, jeweils zwei auf einer CD, wobei dabei der Track "Voice In The Night" von Soundtrack der Kapazitätsgrenze der CD zum Opfer gefallen ist. Alle Collectables zeichnen sich durch schlechte Tonqualität aus, die offensichtlich auf dilletantische Versuche mit Rauschunterdrückung zurückzuführen sind, die zu regelrechten Verzerrungen geführt haben. Zum Glück ist man nicht ganz auf derartige Schmuddelware angewiesen: Zwei der Alben auf Collectables-CDs kann man auch auf anderen Ausgaben mit besserer Qualität finden: Soundtrack im günstigen Kombipack mit dem Hitalbum Forest Flower (die Empfehlung!) und In Europe als preiswerte Atlantic-Jubiläumsausgabe. Zusätzlich ist auf 32Jazz eine nette Doppel-CD unter der Titel Just Before Sunrise erschienen, die das einzige Studio-Album, Dream Weaver, mit Love-In kombiniert - ebenfalls eine empfehlenswerte Zusammenstellung, die auch gut manch kreative Abnutzung und Fahrigkeit der Konzerttätigkeit der Frische des ersten Studio-Dates gegenüberstellt. Diejenigen, bei denen die Alben noch in Vinyl-Form rotieren, müssen enttäuscht sein: Leider sind nirgendwo Bonus-Tracks zu finden. Insgesamt ist die Situation um diese Ausgaben recht unübersichtlich - daher der nachfolgende Überblick.

Original-Titel der Atlantic-Alben:

Dream Weaverstudio, 29.3.66, (1)A
Forest Flowerstudio, 8.9.66; live, Monterey, 18.9.66, (1)B
The Floweringlive at Antibes & Oslo, 23.,24.7.67 & 29.10.66, (1)D
In Europelive, Oslo, 29.10.66, (1)E, F
Journey Withinlive, Fillmore Auditorium, San Francisco, 27.1.67, (2)E
Love Inlive, Fillmore Auditorium, San Francisco, 27.1.67, (2)A
In The Sowjet Unionlive at Tallin, UdSSR, 14.5.67, (2)C
Soundtracklive, Town Hall, NYC, 15.11.68, (2)B, C

Musiker:
(1) = Charles Lloyd, Keith Jarrett, Cecil McBee, Jack DeJohnette
(2) = Charles Lloyd, Keith Jarrett, Ron McClure, Jack DeJohnette

Aktuelle Wiederveröffentlichungen auf CD:
A = Just Before Sunrise, 32Jazz 32117
B = Forest Flower / Soundtrack, Atlantic/Rhino 8122-71746-2
C = Soundtrack / In the Sowjet Union, Collectables COL-CD-6237
D = The Flowering / Warne Marsh, Collectables COL-CD-6285
E = Journey Within / In Europe, Collectables COL-CD-6236
F = In Europe, Atlantic 7567-80788-2

Siehe auch: Verfügbare CDs bei Amazon.de und Amazon.com.

Eine ausführliche, komplette Diskographie Charles Lloyds ist zu finden unter http://www.geocities.com/rstubenrauch/start.htm

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