Das Mittelwerk
Eines der größten unterirdischen Rüstungsprojekte des zweiten Weltkrieges im sogenannten Mittelraum, befand sich westlich der Ortschaft Niedersachswerfen am Südrand des Harzes. Es war die streng geheime Produktionsanlage der sogenannten V-Waffen, der V2 (A4) Rakete und der V1 (Fi 103) Flügelbombe. Wenngleich in der Nazizeit eines der bestgehütetsten Geheimnisse und von den alliierten Geheimdiensten erst Mitte 1944 in seiner Bedeutung erkannt, ist die Geschichte relativ gut bekannt und dokumentiert, obwohl wesentliche Quellen bislang noch nicht aufgearbeitet werden konnten. Die Geschichte des Hohlraumsystems im Kohnstein bei Niedersachswerfen beginnt mit der Eröffnung des ersten Anhydritsteinbruchs durch die BASF im Untertagebetrieb 1917. Bis 1935 wurden etwa 13 Mio. Tonnen Anhydrit gebrochen (auch im Tagebau), um sie zur chemischen Verarbeitung in die Leunawerke Merseburg zu transportieren. 1935 beginnt die Wifo (Wirtschaftliche Forschungsgesellschaft) als ein Ressort des Reichswirtschaftsministeriums mit der Auffahrung eines ausgedehnten Stollensystems, um gemäß ihrem Auftrag geheime Rohstoff- und Materiallager für den Kriegsfall anzulegen. Der Anhydritkern des Kohnsteins eignete sich aus verschiedenen strategischen und ökonomischen Gründen optimal für die Anlage eines solchen Großlagers: Mitten in Deutschland gelegen, war, zum Zeitpunkt des Baubeginns, dieses Areal im Kriegsfall von feindlichen Flugzeugen kaum erreichbar. Die naheliegenden Verkehrsverbindungen und Industriegebiete optimierten die Transportmöglichkeiten. Das gewonnene Gestein konnte sofort nach seiner Gewinnung ohne Zwischenlagerung oder Abraum abtransportiert und verarbeitet werden, ließ also keine späteren Rückschlüsse auf die Größe der entstandenen Hohlräume zu. Da der Anhydrit eine hohe Standfestigkeit besitzt, war der Aufwand für die bergmännische Sicherung und den Ausbau des Stollensystems minimal. Außerdern wurde das System über dem Grundwasserspiegel angelegt, so daß auf eine Wasserhaltung verzichtet werden konnte. Unter strengster Geheimhaltung wurde so bis Ende August 1943 an der Fertigstellung von 46 Kammern und zwei Fahrstollen auf gut 120 000 m‘ Fläche gearbeitet. Während im südlichen Teil der Stollenanlage der bergmännische Vortrieb stattfand, wurde, beginnend in den nördlich liegenden Kammern, die Einlagerung der strategischen Rohstoffreserven vorbereitet bzw. vorgenommen. Um diese Tanks zu füllen, sollte im südlichen Teil ein eigener Benzinbahnhof entstehen, da man auch den Antransport bzw. die Verladung unbeobachtet und bombensicher abwickeln wollte. Doch zu der ursprünglich geplanten und ansatzweise verwirklichten Nutzung sollte es nicht mehr kommen. Im Juli und August 1943 waren bei schweren Bombenangriffen Industriegebiete in Deutschland und Österreich stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Dabei waren auch die Fabrikationsorte für wesentliche Komponenten des A4 Raketenbauprogramms u. a. in Wiener Neustadt und Friedrichshafen zerstört worden. Hier sollten unter massivem Häftlingseinsatz V2 Komponenten hergestellt und montiert werden, um diese Waffen in Peenemünde endzufertigen. Insofern ist die Entstehung des Mittelwerks und des damit verbundenen (bzw. identischen, späteren) KZ Mittelbau-Dora vor dem Hintergrund des proklamierten totalen Krieges und den mit ihm einhergehenden äußersten Rüstungsanstrengungen zu sehen. Einerseits führten diese zur Forcierung von Rüstungsprojekten, von denen sich die nationalsozialistischen Machthaber eine Kriegswende erhofften. Andererseits hatten sie eine verstärkte Heranziehung von KZ-Häftlingen, die als mobile und rücksichtslos einsetzbare Arbeitskraftreserve durch die SS jederzeit zur Verfügung gestellt werden konnten, in eben solchen Projekten hoher Dringlichkeitsstufe zur Folge. Letzteres galt im besonderen Maße für V-Waffenproduktion, die nach dem Angriff auf Peenemünde in der Nacht vom 17. auf den 18. August 1943 in das bereits vorhandene unterirdische Stollensystem im Kohnstein verlagert werden sollte. Bereits wenige Tage nach dem definitiven Beschluß, das Hauptwerk für die Montage der A4 in diese Stollenanlage zu verlegen, traf am 28. August 1943 der erste Häftlingstransport mit 107 Häftlingen aus dem KZ Buchenwald am Kohnstein ein. Mit ihm begann die Existenz des Lagers Dora als eines der Außenkommandos des KZ Buchenwald. In rascher Abfolge trafen in den folgenden Wochen und Monaten weitere Häftlingstransporte ein. So stieg die Zahl der Häftlinge bis Ende September bereits auf über 3000 an und erreichte Ende Januar bzw. Anfang Februar 1944 mit ca. 12000 ihren vorläufigen Höhepunkt. Nachdem die Häftlinge der ersten Transporte in Zelten am Fuße des Kohnsteins untergebracht worden waren, erfolgte mit dem raschen Anwachsen der Häftlingszahl die Einquartierung in das unterirdische Stollensystem. Im B-Stollen wurde eine Montagefließlinie eingerichtet. In den einzelnen Querstollen entstanden Lager und Montagehallen, in denen Komponenten gelagert oder montiert bzw. produziert werden sollten. Durch den A-Stollen wurde die Zulieferung der Materialien und Zulieferteile realisiert. Der Transport und Aufbau sämtlicher Fabrikeinrichtungen, einschließlich tonnenschwerer Maschinen, in die Stollenanlage erfolgte fast ausschließlich mit menschlicher Muskelkraft, unterstützt allein durch Stangen, Rollen und Leinen. Der Stollenvortrieb geschah mit Hilfe schwerer Preßluftbohrer und durch Sprengungen. Ende Dezember 1943 wurden unter diesen Bedingungen die ersten drei Raketen fertiggestellt und nach Peenemünde geliefert. Bis Ende Januar 1944 wurden weitere 52 Raketen fertiggestellt. Innerhalb eines Vierteljahres war ein rohhaufertiges Großtanklager unter der Erde demontiert und ein komplettes Werk zur Großserienfertigung einer, für die damalige Zeit avantgardistischen Waffentechnologie hergerichtet worden. Dazu wurden die Tunnelanlagen vervollständigt, Lüftungschächte niedergebracht, Menschen und Material aus ganz Europa in Nordhausen und Umgebung konzentriert, um im Mittelwerk Raketen zu bauen. Kompliziert wird die Situation im Mittelwerk durch dauernde Umstrukturierung und neu in diese unterirdischen Räume verlegte Produktionslinien für andere Rüstungsgüter. Im März 1944 wird z. B. die Produktion der Dessauer Junkerswerke in die Kammern 0-20 des Mittelwerks verlagert und damit die bisher großzügig verplante Produktionsfläche für die Raketenproduktion halbiert. Mit der Fertigstellung der unterirdischen Rüstungsanlagen und dem Anlaufen der A4 - Produktion im Dezember 1943 setzte in der Führung des Mittelwerks und des Rüstungsministeriums unter Speer den neuen Anforderungen bzw. Bedingungen entsprechend, ein Perspektivenwechsel ein. Ihr Blick richtete sich von nun ab stärker auf die Sicherstellung bzw. möglichst schnelle Ausweitung der Produktion. In den Kammern 44, 45 und 46, am Südende des Fahrstollens A werden in einer mehretagigen Fertigungsanlage bis zu 3 000 V1 monatlich am Fließband gefertigt. Auch hier werden in großer Anzahl Häftlinge in der Teile- und Endfertigung eingesetzt. Ab Frühjahr 1945 begann die Verlegung weiterer Rüstungsprojekte in den Kohnstein und seine Umgebung. Zunächst wird in einer Halle des Mittelwerkes die 0-Serie der Taifun FLAB-Rakete aufgenommen. Nachdem die Rote Armee kurz vor Stettin steht, wird auch die Heeresversuchsanstalt Peenemünde unter dem Decknamen "Elektromechanische Werke Karlshagen" nach Bleicherode verlagert. Am 11. April schließlich nehmen die Amerikaner Nordhausen ein.



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