Anna von Kleves |
Als Karl V. und Franz I.
wieder einmal aus finanziellen Gründen zu einer Kriegspause gezwungen waren und
im Frieden zu Nizza 1538 einen gegenseitigen, 10-jährigen Waffenstillstand
geschworen hatten, mußte sich Heinrich VIII., um einem gemeinsamen Angriff
seitens dieser Monarchen gewappnet zu sein, einen neuen starken Verbündeten
suchen. Denn durch den lautstarken Appell Papst Pauls III., endlich gegen den
exkommunizierten, englischen König militärisch vorzugehen, hatten Karl V. und
Franz I. sogar den päpstlichen Segen für einen "Heiligen Krieg"
gegen Heinrich VIII. erhalten.
So umwarben die englischen Gesandten in den Jahren 1538 und 1539 besonders die
protestantischen, deutschen Herrscher. Sehr gefragt war als Verbündeter Johann
III., der Herzog von Jülich-Kleve-Berg und Graf von der Mark und von
Ravensberg. Als dieser am 6./7.2.1539 gestorben war, übernahm dessen einziger
Sohn, Wilhelm V. (1516-1592), die Regierung. Schon im Jahre 1538 war dessen
Anspruch auf Geldern durch seine Mutter, Maria von Geldern (+ 1543), als
Nachfolger des kinderlos verstorbenen Karl von Egmont von den Ständen der
geldrischen Grafschaft anerkannt worden. Damit war er der mächtigste und
reichste Fürst in Nordwestdeutschland und zudem ein ständiger Dorn in den
Augen der Habsburger. Denn sein Herrschaftsbereich verband durch eine wichtige
Straße das kaiserliche Italien und Süddeutschland mit deren niederländisch-burgundischen
Besitzungen.
Für Heinrich VIII. mußte Wilhelm V. zudem der ideale Partner sein, zumal er
nicht Lutheraner, sondern Erasmianer (Anhänger von Erasmus von Rotterdam) war,
d.h. sein Glaube war ein milder Reform-Kompromiß zwischen Rom und Wittenberg.
Außerdem gab es im Herzogtum Jülich-Kleve-Berg seit 1532 eine neue
Kirchenordnung, durch die der Herzog ähnlich wie Heinrich VIII. als geistliches
Oberhaupt fungierte.
Und wie es das Glück so wollte, besaß der Herzog auch noch zwei unverheiratete
Schwestern, Anna (geb. am 22.9.1515) und Amalie (1517-1586), mit denen man das
neue Bündnis durch eine Heirat festigen konnte. Seine älteste Schwester
Sibylle (1512-1554) war seit 1527 zudem mit dem mächtigsten Fürsten der
Lutheraner und dem Führer des Schmalkaldischen Bundes, Kurfürst Johann
Friedrich von Sachsen (1503-1554), verheiratet.
Heinrich VIII., der wirklich keinen besseren Bündnispartner finden konnte,
schlug deshalb bereits im Frühjahr 1539 ein Bündnis und zur Festigung
desselben eine Doppelheirat zwischen beiden Häusern vor. Anna und ihre jüngere
Schwester Amalie standen für den englischen König als Bräute zur Auswahl.
Wilhelm V. sollte die 23-jährige, englische Königstochter Maria ehelichen. Was
Heinrich VIII. jedoch nicht berücksichtigt hatte, war die Tatsache, daß die
Erziehung der Töchter an den deutschen Fürstenhöfen nicht unbedingt der
Erziehung an seinem Hof entsprach. So genossen gerade Anna und ihre Schwestern
eine sehr strenge, konservative Erziehung, bei der mehr Wert auf ihre
Handfertigkeiten als auf das Erlernen von Sprachen gelegt wurde. Anna selbst
entwickelte sich somit zu einer geschickten Stickerin und Näherin, die aber
leider nur in der deutschen Sprache lesen und schreiben konnte. Gesangstunden
oder sogar das Unterrichten in einem Musikinstrument wurde wie das Erlernen von
fremden Sprachen wie Französisch, Latein, Englisch als völlig ungeeignet für
das weibliche Geschlecht im Hause ihres Vaters abgelehnt. Auch von den
unterschiedlichen Tänzen und von den Moderaffinessen der französischen,
italienischen und englischen Damen hatten Anna und ihre Schwestern nicht die
allergeringste Ahnung.
Während die Heirat Wilhelms V. mit Maria nicht zustandekam, da im Jahre 1540 für
den Herzog eine politisch interessantere Braut, die Nichte von Franz I., Jeanne
d'Albret, zur Verfügung stand, konnte das Eheprojekt "Heinrich VIII. -
Anna oder Amalie von Kleve" nach wochenlangen diplomatischen Verhandlungen
zur großen Freude von Heinrichs Lordkanzler, Thomas Cromwell, Wirklichkeit
werden.
Bevor der englische König jedoch sein "Ja-Wort" zum Ehevertrag geben
wollte, mußte sein Hofmaler Hans Holbein der Jüngere im Sommer 1539 noch Anna
und ihre Schwester Amalie von Kleve in Düren porträtieren. Heinrich entschied
sich schließlich nach reiflicher Betrachtung der Porträts für Anna.
Nachdem nun alle Formalitäten erledigt waren, wurde am 6.10.1539 der
Heiratsvertrag geschlossen. Schließlich holte der englische Gesandte, Lord
Eduard Clinton, die Braut mit ihrem Gefolge von 263 Personen und 228 Pferden aus
Düsseldorf ab. Am 11.12.1539 trafen sie in Calais ein. Durch einen Sturm, der
sie zwei Wochen lang an der Weiterfahrt hinderte, erreichten sie jedoch erst am
27.12. Dover. Von hier sollte es in bestimmten Etappen nach London weitergehen.
Als Höhepunkt war am 3.1.1540 die Begegnung mit dem König in Shooters Hill bei
Blackheath geplant. Heinrich war jedoch so neugierig auf seine zukünftige Frau,
daß er am 1.1.1540, verkleidet und mit nur einer kleinen Eskorte versehen, nach
Rochester eilte. Dort gab er sich Anna zu erkennen und aß mit ihr und ihren
Damen zu Mittag. Jedoch war er außerordentlich enttäuscht von seiner Braut,
die sein Hofmaler viel zu schmeichelhaft dargestellt hatte. Denn Anna war alles
andere als eine Schönheit. Sie war zwar groß, sehr schlank, hatte langes,
blondes Haar, aber eine etwas zu große Nase und durch ihre schweren Augenlider
stets halbgeschlossene Augen. Zudem besaß sie laut Heinrich keine guten
Umgangsformen, war schlecht gekleidet, stank, beherrschte keine Fremdsprachen,
war keine gute Unterhalterin, spielte kein Musikinstrument, konnte nicht singen
und verbrachte ihre Freizeit vorzugsweise mit Nähen und Sticken. Ihre Hofdamen,
die sie aus Düsseldorf mitgebracht hatte, waren sogar noch weniger attraktiv
und noch schlechter als ihre Herrin gekleidet! Dabei hatte der König eine
wichtige Eigenschaft Annas, nämlich ihre außergewöhnliche Intelligenz, völlig
unerwähnt gelassen. Was konnte Anna dafür, daß man ihr als junges Mädchen
nicht das gleiche Bildungsangebot wie den jungen Damen am englischen Königshofe
zugestand? Wenn Heinrich Anna gegenüber objektiver gewesen wäre, hätte er
ihre schnelle Auffassungsgabe loben müssen. Denn innerhalb von kurzer Zeit
erlernte sie die englische Sprache bis zur Perfektion.
Als Heinrich am 2.1. nach Greenwich zurückgekehrt war, erklärte er seinem
Lordkanzler sofort, er könne Anna nicht ausstehen. Trotzdem begab er sich am
3.1. mit seinen Höflingen, den Adligen, den Edelleuten, den bedeutendsten Persönlichkeiten
Londons und 5 000 bis 6 000 Reitern nach Shooters Hill, um Anna zu begrüßen.
In der Öffentlichkeit war er ihr gegenüber zuvorkommend und charmant, so daß
niemand ahnen konnte, was den König seit seiner ersten Begegnung mit Anna beschäftigte.
Am 4.1. beriet er sich mit seinen Räten, wie er die Heirat verhindern könnte.
Aber es gab nicht den geringsten Grund, der zu einer Verweigerung der Eheschließung
berechtigte, und so fügte sich Heinrich VIII. endlich seinem Schicksal. Am
6.1.1540, einem Dienstag, fand in Anwesenheit zahlreicher Räte, Adliger und
Abgesandter aus Kleve in Greenwich die Trauung statt. Anna von Kleve wurde
Heinrichs VIII. vierte Ehefrau.
Laut Heinrich wurde diese Ehe jedoch nie vollzogen, obwohl er Anna jede oder
jede zweite Nacht aufgesucht hätte. Vielleicht war an George Boleyns Aussage,
Heinrich sei impotent, doch etwas Wahres dran. Aber das konnte natürlich in
Heinrichs Augen nicht die Ursache sein! So wurde die Impotenz auf die Häßlichkeit
der Braut zurückgeführt. Anna von Kleve war schuld, daß der König unfähig
zum Beischlaf war. Dabei war Anna bei hoch und niedrig sehr beliebt. Besonders
das einfache Volk bewunderte und verehrte sie als Königin, die soviel
Selbstbewußtsein ausstrahlen konnte.
Aber wie sah es mittlerweile mit Heinrichs Schönheit selbst aus? Schon lange
war er nicht mehr der athletisch gebaute, schöne Jüngling wie zu Beginn seiner
Herrschaft. Wie so viele Fürsten seiner Zeit litt er schon als junger Mann an
Freßsucht. Beim Essen und Trinken kannte er fast keine Grenzen. Und es ging
nicht nur ihm so! Sein neuer Schwager, der Kurfürst von Sachsen, war so
ungeheuerlich fett, daß nur ein einziges Pferd, ein riesiger friesischer
Hengst, in der Lage war, ihn zu tragen, ohne gleich zusammenzubrechen. Und Karls
V. Freßsucht wurde mit zunehmendem Alter sogar geradezu lebensbedrohlich. Da
Heinrich in jungen Jahren viel Sport trieb, schlugen seine Freßorgien nicht
merklich aufs Gewicht. Seitdem er jedoch am 24.1.1536 bei einem Turnier vom
Pferd gefallen und zwei Stunden lang bewußtlos geblieben war, nahm er an
Turnieren und großen Jagden nicht mehr teil. Das Ergebnis war, daß er
mittlerweile einem unförmigen, aufgedunsenen und feisten Koloß glich. Sämtliche
Muskeln hatten sich in schieres Fett verwandelt.
Heinrich, der Egoist par excellence, selbst häßlich und unansehnlich geworden,
war schon nach wenigen Monaten nicht mehr bereit, weiterhin mit seiner häßlichen
Frau zusammenzuleben. Es war ihm völlig egal, daß er damit nicht nur Anna und
ihren Bruder, den Herzog von Jülich-Kleve-Berg, zutiefst verletzte, sondern
auch den Plan Cromwells und seiner Minister, die Lutheraner als zuverlässige Bündnispartner
zu gewinnen, zunichte machte. Nein, Heinrich sah nicht ein, nur wegen des Bündnisses
weiterhin mit Anna verheiratet zu bleiben. Die Unterstützung der Lutheraner
glaubte er, auch anders gewinnen zu können, und ließ deshalb sogleich einige
adlige Anhänger des Papstes und ein paar Äbte hängen, strecken und
vierteilen. Außerdem hatte er sich neu verliebt. Seine Auserwählte war die
erst 15-jährige Katharina Howard, eine Cousine seiner zweiten Frau Anne Boleyn.
Katharina war ihm erst nach seiner vierten Vermählung am Hofe von Anna von
Kleve aufgefallen, deren Hofdame sie war. Ihre Zeitgenossen beschrieben sie als
zierlich, sehr klein, aber eher anmutig als schön, lebenslustig, albern,
ausgelassen, egozentrisch, naiv und nicht besonders feinfühlig. Mit ihrem Motto
"Kein anderer Wille als der meine" war sie weder am Hofe noch beim
Volke sehr beliebt. Im Gegensatz zu Anna schien sie wirklich von beschränkter
Auffassungsgabe gewesen zu sein. Für Heinrich aber war sie die "Rose ohne
Dornen", die ihm durch ihre ansteckende Lebenslust seine Jugend
wiedergegeben hatte.
Aber natürlich brauchte er wie üblich noch einen Schuldigen, der ihm die Ehe
mit Anna und den damit verbundenen Ärger eingebrockt hatte, und fand ihn schließlich
in seinem Geheimsiegelbewahrer, Lordkanzler, Staatssekretär und Generalvikarius
Thomas Cromwell, der am 10.6.1540 wegen angeblichen Hochverrates verhaftet und
in den Tower gebracht wurde. Mit Hilfe von Halbwahrheiten und glatten Lügen
wurde er ohne Gerichtsverhandlung nur durch einen Parlamentsbeschluß
verurteilt. Die Vorwürfe waren, daß er ein verabscheuungswürdiger Ketzer sei,
der ketzerische Literatur verbreitet und Ketzern die Predigtlizenz erteilt habe,
Bestechungsgelder angenommen habe und daß er beabsichtigt hätte, Heinrichs
Tochter Maria zu ehelichen, um König von England werden zu können. Cromwell
hatte keine Chancen, dem Todesurteil zu entgehen. Am 23.7.1540 wurde er schließlich
enthauptet.
Kurz nach Ostern 1540 gab Heinrich zum erstenmal seinen Zweifel über die Gültigkeit
seiner Ehe mit Anna laut kund. Zwei Gründe führte er dafür an: erstens hätte
seine freiwillige Zustimmung nicht vorgelegen, was sich in seiner Unfähigkeit,
Anna beizuwohnen, klar erweise, und zweitens würde ein früherer Ehekontrakt
zwischen Anna von Kleve und dem Marquis von Pont-à-Mousson, dem Sohn des
Herzogs von Lothringen, bestehen. Cranmer, Erzbischof von Canterbury, und
Tunstall, Bischof von Durham, stellten, was den Punkt 2 betraf, Nachforschungen
an und kamen zum Ergebnis, daß 1527 und 1538 zwar über eine mögliche Ehe
zwischen Anna und Franz, dem ältesten Sohn Antons von Lothringen, verhandelt
wurde, daß es dabei aber zu keinem endgültigen Vertragsabschluß gekommen wäre.
Zu Punkt 1 wurde Heinrichs Leibarzt, Dr. William Butts (+ 1545), befragt. Dieser
bestätigte, daß die Ehe zwischen dem König und Anna nicht vollzogen worden
sei, "da Heinrich während dieser Zeit nächtliche Samenergüsse
hatte". Und Cromwell gab im Tower am 30.6.1540 zur Entlastung des Königs
noch folgende Gespräche zwischen ihm und dem König kurz nach dessen Hochzeit
in folgendem Schreiben bekannt: "Euer Gnaden haben mich gerufen und mir
diese Worte oder ähnliche gesagt: »Mylord, wäre es nicht, um der Welt und
meinem Königreiche Genüge zu tun, um nichts in der Welt würde ich das tun,
was ich heute tue (nämlich Anna von Kleve zu heiraten)«.. Und am Dienstag
morgen erschien ich vor Eurer Majestät in Eurem Zimmer und fand Eure Majestät
nicht so guter Laune, wie ich Euch zu finden glaubte, und so war ich so kühn,
Euer Gnaden zu fragen, wie Euch die Königin gefiele, worauf Euer Gnaden kühl
anworteten...: »Sicherlich, Mylord, wie Ihr vorher bereits wußtet, liebte ich
sie nicht sehr, aber nun liebe ich sie noch weniger. Denn« sagten Eure Hoheit,
»ich habe ihren Leib und ihre Brüste befühlt, und danach dürfte sie, wie ich
urteilen kann, keine Jungfrau sein, und dies hat mich so ins Herz getroffen, als
ich sie befühlte, daß ich weder Willen noch Mut hatte, Weiteres zu
unternehmen.« Ihr sagtet: »Ich habe sie als ebenso gute Jungfrau gelassen, wie
ich sie gefunden habe.« Zwischen Lichtmeß und Fastnacht sagtet Ihr ein- oder
zweimal, daß Ihr sie niemals fleischlich erkannt hättet, obwohl Ihr jede Nacht
oder doch jede zweite bei ihr gelegen hättet." (in: Uwe Baumann,
Heinrich VIII., Reinbek 1991, S. 116).
Dabei war Anna, an deren Jungfräulichkeit Heinrich VIII. zweifelte, so naiv und
unschuldig, daß sie tatsächlich glaubte, sie könnte durch die Küsse ihres
Mannes schwanger werden. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, wie Kinder
entstehen. Ihre Mutter hielt es selbst vor der Abreise Annas nicht für ihre
Pflicht, sie aufzuklären. Diese Aufgabe übernahmen schließlich Annas eigenen
englischen Zofen.
Das Annullierungsverfahren begann Anfang Juli 1540, und am 9.7.1540 erklärte
die Konvokation Heinrichs Ehe mit Anna von Kleve von Beginn an für ungültig.
Das Parlament bestätigte wenige Tage später dieses Urteil. Anna fügte sich
ohne Murren der Entscheidung und wurde dafür von Heinrich reichlich bedacht. So
wurden ihr mehrere Herrensitze (z.B. Richmond, Penshurt, Hever und Bletchingly
in Surrey) und Ländereien in den verschiedensten Grafschaften überschrieben,
die z.T. erst kurz zuvor von Thomas Cromwell eingezogen worden waren. Zudem galt
sie als die erste Dame Englands nach der Königin und den königlichen Töchtern
und erhielt einen großen Haushalt mit zahlreicher Dienerschaft. Die einzige
Bedingung, die Anna dafür erfüllen mußte, war, England nie zu verlassen. Als
sie nach einer Weile spürte, daß Heinrich sie für eine Spionin ihres Bruders
hielt, bot sie ihm großzügig an, daß er alle Briefe vom oder zum Kontinent
einsehen dürfte.
Der König besuchte sie bis zu seinem Tode im Jahre 1547 ab und zu als "ihr
Bruder". Zwischen den beiden herrschte die äußerste Höflichkeit, und
Anna entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer richtigen Engländerin. Sie
erlernte die englische Sprache und nahm sämtliche englischen Angewohnheiten an.
Ihr Verhältnis zu Heinrichs Töchtern Maria und Elisabeth war ausgesprochen
herzlich. Besonders freundschaftlich verbunden war sie mit ihrer fast
gleichaltrigen Stieftochter Maria, und in Elisabeth, die oft bei ihr in Richmond
zu Gast war, war sie geradezu vernarrt.
Bereits vor der Scheidung, im April 1540, hatte Heinrich seiner neuen großen
Liebe, Katharina Howard, Ländereien hingerichteter Verbrecher übertragen. 19
Tage nach der Scheidung von Anna heiratete er sie am 28.7.1540 in Oatsland in
aller Heimlichkeit. Am 8.8.1540 stellte er sie seinen Untertanen als neue Königin
vor. Was Heinrich jedoch nicht wußte, war die Tatsache, daß Katharina trotz
ihrer jungen Jahre eine Frau mit Vergangenheit war. Mit ungefähr 12 Jahren
schien sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht zu haben. Zudem hatte sie
mit dem Mann, der ihr die Jungfernschaft nahm, Francis Dereham, im Jahre 1538
einen heimlichen Ehevertrag geschlossen.
Anna fühlte sich derweil als frisch geschiedene Frau sehr wohl. Kein Mann,
nicht ihr Ehemann, ihr Vater oder Bruder konnten ihr etwas vorschreiben. Sie
durfte und konnte frei über sich verfügen. Fröhlich, lustig und ausgelassen
wurde sie von ihren Zeitgenossen nach der Trennung von ihrem Gatten beschrieben.
Sie, die als graue Maus gekleidet, in England erschien, fand mit der Zeit großen
Gefallen an kostbaren Kleidern und wechselte jeden Tag ihre Garderobe. Und außerdem
begann sie, die zu Hause bei ihrer Mutter und ihrem Bruder nie Alkohol angerührt
hatte, alkoholische Getränke zu genießen. England war für sie zur zweiten
Heimat geworden. Ja, sie liebte das Land und seine Leute und wollte hier
sterben. Sehnsucht nach ihrer Familie in Deutschland hatte sie nie. Der französische
Botschafter Marillac erzählte seinem Herrn, dem französischen König Franz I.,
am 3.9.1540: "Madame von Kleve zeigt eine so freudige Miene wie nie
zuvor. Sie hat eine sehr große Auswahl an Kleidern und verbringt ihre gesamte
Zeit mit sportlichen und erquickenden Spielen." (in: Agnes Strickland,
The Lives of the Queens of England, Bd. 3, London 1882, S. 82).
Mit Katharina schien dagegen am königlichen Hof nicht die Freude und Fröhlichkeit
eingezogen zu sein. Mit dem häuslichen Frieden war es jedenfalls schon kurz
nach der Hochzeit vorbei, da die 15-jährige Katharina mit ihrer 24-jährigen
Stieftochter Maria ständig in Streit geriet. Ferner beging die junge Königin
schon bald nach der Eheschließung den schweren Fehler, ihren ehemaligen Freund
Henry Mannox und ihren ehemaligen Geliebten Francis Dereham zu Mitgliedern ihres
Haushaltes zu ernennen. Auch ihr Cousin und ehemaliger Geliebter Thomas Culpeper
befand sich als Kammerherr ihres Gemahls in ihrer unmittelbaren Nähe. Mit
letzterem ging sie dann 1541 tatsächlich ein Liebesverhältnis ein. Während
der König nach seinen üppigen Mahlzeiten zu schlafen pflegte, trieben
Katharina und Thomas mit Unterstützung von Lady Jane Rochford, ihrer Hofdame,
die während dieser Zeit Wache schob, ihre Liebesspiele. Dabei wurden die beiden
immer leichtsinniger, so daß es Katharinas Gegnern nicht schwer fiel,
Belastungsmaterial gegen sie zu sammeln. Besonders fatal erwies sich für
Katharina folgender Brief, den sie Thomas Culpeper im Sommer 1541 schrieb und
den dieser nicht vernichtet hatte:
"Master Culpeper,
ich empfehle mich Euch herzlich und bitte Euch, mir Nachricht zu geben, wie es
Euch geht. Ich habe sagen hören, daß Ihr krank wart, und ich habe nichts so
sehr gewünscht, als Euch zu sehen. Es wird mir weh ums Herz, wenn ich daran
denke, daß ich nicht immer in Eurer Gesellschaft sein kann. Kommt mich
besuchen, wenn Lady Rochford hier ist, denn dann kann ich Euch am besten zu
Gefallen sein. Ich danke Euch dafür, daß Ihr versprochen habt, gut zu dem
Burschen, meinem Diener, zu sein, denn wenn er nicht hier ist, ist niemand da,
den ich zu senden wage. Ich bitte Euch, mir ein Pferd für diesen Mann zu geben,
denn ich habe viele Umstände, um eines zu bekommen, und darum bitte ich Euch,
mir eines durch ihn zu schicken. Und damit verbleibe ich, wie ich Euch schon
gesagt habe, und nehme Abschied von Euch in der Hoffnung, Euch bald
wiederzusehen. Und ich wünschte, Ihr wäret nun bei mir, damit Ihr sehen könntet,
wie viel Mühe ich mir mache, um Euch zu schreiben. Die Eure, so lange das Leben
währt, Catherine." (in: Uwe Baumann, ebenda, S. 119-120).
Bereits am 30.10.1541 unterrichtete der Erzbischof von Canterbury, Cranmer, den
König über die Verfehlungen Katharinas vor der Heirat. Umgehend wurden
daraufhin weitere Nachforschungen angeordnet und verdächtige Personen verhört.
Am 12.11.1541 informierte der Kronrat die englischen Botschafter im Ausland, daß
die junge Königin vor ihrer Ehe ein unkeusches Leben geführt hätte, und daß
die Ernennung ihrer ehemaligen Geliebten zu Dienern ihres Haushaltes vermuten
ließe, daß sie ihre unzüchtige Lebensweise auch während der Ehe mit dem König
beibehalten hätte.
Dereham und Culpeper machte man am 1.12.1541 den Prozeß wegen Hochverrats.
Beide wurden zum Tode durch Erhängen, Strecken und Vierteilen verurteilt. Das
Urteil von Culpeper wandelte Heinrich VIII. in Tod durch Enthaupten um. Dereham
jedoch mußte die volle Strafe erleiden, obwohl gar nicht sicher war, ob er mit
Katharina während ihrer Ehe Geschlechtsverkehr hatte. Katharina Howard und Lady
Rochford wurden ebenfalls durch Parlamentsbeschluß des Hochverrates für
schuldig befunden. In der Anklageschrift der Königin hieß es, "daß
Katharina, Königin von England, vormals Katharina Howard aus Lambeth in Surrey,
ein abscheuliches, niedriges, fleischliches, wollüstiges und lasterhaftes Leben
geführt hat, wie eine gemeine Hure mit verschiedenen Personen." (in:
Jasper Ridley, Heinrich VIII., Zürich 1990, S. 405). Am 13.2.1542 wurden
Katharina und Lady Rochford, die ehemalige Schwägerin von Anne Boleyn, vor dem
Tower enthauptet.
Anna machte sich natürlich nach der Hinrichtung von Katharina Howard erneut
Hoffnungen, daß der König sie nun doch als Ehefrau nehmen würde. Sehr groß
war deshalb ihre Enttäuschung, als eine gewisse Catherine Parr Heinrichs
Ehefrau Nr. 6 wurde.
Aber auch nach dieser Eheschließung und nach dem Tode Heinrichs VIII. am
28.1.1547 gehörte Anna fest zur Tudorfamilie und fehlte bei keinen feierlichen
oder traurigen Anlässen. So erlebte sie auch die Thronbesteigung ihrer
Stieftochter Maria am 30.9.1553 mit. Als dritte Dame begleitete sie neben
Elisabeth die neue Königin an diesem für sie ereignisreichen Tag. Auch ein
Jahr später war sie bei der Hochzeit Marias, die ihr sehr nahestand, und
Philipp II. von Spanien anwesend. Die engen Beziehungen gerade zu Maria bewogen
schließlich auch ihre Konversion zum Katholizismus.
Im Frühjahr 1557 machte sich dann zum erstenmal ihre schwere Krankheit -
wahrscheinlich handelte es sich um Krebs - bemerkbar, an der sie im Alter von 41
Jahren am 16. Juli 1557 sterben sollte. Bis zu ihrer letzten Stunde wurde sie
von ihren Dienern und Dienerinnen liebevoll gepflegt. Kurz vor ihrem Tod hatte
sie noch ihr Testament abgefaßt, in dem sie niemanden - auch nicht den
geringsten Diener oder etwa ihre Wäscherin Elya Turpin - vergaß, und das sie
ihrer Stieftochter Maria Tudor mit der zusätzlichen Bitte überreichen ließ,
besonders für ihr Dienstpersonal, von dem die meisten seit 1540 bei ihr lebten,
zu sorgen.
Am 3.8. ließ Maria Tudor ihre geliebte Stiefmutter und beste Freundin, Anna von
Kleve, in der Westminster-Abtei mit großem Aufwand beisetzen. Noch 50 Jahre
nach ihrem Tod erinnerte sich Raphael Holinshed, der Verfasser des Werkes
"The Chronicles of England, Scotland and Ireland", an diese Frau von
lobenswerter Rücksicht, die stets höflich, sanft und eine gute Haushälterin
war. Zu ihren Dienern und Dienerinnen wäre sie immer sehr freigebig gewesen,
und an ihrem Hofe hätte es niemals Zank und Intrigen gegeben. Ja, sie wäre von
ihrem Dienstpersonal in der Tat zärtlich geliebt worden, schwärmte Holinshed
von Anna von Kleve.
copyright: Maike Vogt-Lüerssen