Der stigmatisierte Pater Pio von Pietrelcina

VI. Außerordentliche Gaben

1. Wunder

Daß P. Pio auch einige Wunder zugeschrieben werden, ist nicht anders zu erwarten. Das erste Wunder soll er bereits als Junge von acht Jahren gewirkt haben. Er hat dies später selber erzählt. Sein Vater Orazio machte mit ihm eine Wallfahrt nach San Pellegrino. Im Gotteshaus kniete neben Francesco eine bettelarm Frau, die ihr Kind an sich preßte. Die Frau war "ganz aufgelöst in ihrer Verzweiflung"; denn ihr Kind glich "mehr dem formlosen Fleisch als einem Menschenkind". "Ungestüm und fast drohend stieß die Frau ihre Gebete aus"; dabei liefen ihr unablässig Tränen über das vergrämte Gesicht. Sie forderte offenbar ein Wunder an ihrem Kind. Francesco war von der Herzensnot dieser Frau so ergriffen, daß er selber, inständig betend, zu weinen anfing. Sein Vater Orazio schickte sich an, die Kirche wieder zu verlassen; sein Sohn war jedoch nicht von der Stelle zu bewegen. Als die Mutter merkte, daß ihr Gebet nicht in ihrem Sinne helfen würde, wurde sie allmählich zornig. "Erschöpft vom Jammern und Beten" richtete sie sich auf und "beschimpfte den heiligen Märtyrer mit bösen Worten." In ihrer Verzweiflung sprach sie "ketzerische und gotteslästerliche Worte" gegen den Heiligen; dann hob sie "das kleine Monstrum" hoch und schleuderte es mit Macht auf den Altar. Was ihr Gebet nicht zu bewirken imstande war, das erreichte dieser Wutanfall. "Das auf den Altar geschleuderte Kind stand ohne alle fremde Hilfe auf, schön und frisch wie alle anderen gesunden Kinder; es war vollständig geheilt." Alle Zeugen des Vorfalls waren zutiefst ergriffen, am meisten der kleine Francesco, dem immer noch die Tränen über die Wangen niederrannen. Als P. Pio in späteren Jahren dieses Jugenderlebnis schilderte, beendete er den Bericht mit dem Satz: "Als wir heimgingen, gab der Vater dem Esel einen Hieb, der an nichts Schuld hatte, und mir einen Klaps, weil wir uns doch meinetwegen verspätet hatten." Das Wunder wurde Francesco zugeschrieben, bzw. er nahm es für sich in Anspruch, weil er "inniger und aufrichtiger und mit größerer Einfalt und Unschuld gebetet hatte als die Mutter des Kindes" (319). Es ist die Frage: Hat nun dieses "Wunder" der junge Francesco gewirkt oder ist es dem gotteslästerlichen Fluchen der Mutter des verunstalteten Kindes zu verdanken? Den Angaben gemäß müßte es sich bei dem Kind um ein völlig mißgestaltetes Wesen gehandelt haben, um ein "formloses Fleisch", das in ein schönes, frisches und gesundes Kind verwandelt wurde. Demgegenüber verblassen die Krankenheilungen, die Jesus gewirkt hat.

Von den Wundern, die P. Pio im Kloster San Giovanni Rotondo gewirkt haben soll, ähnelt das eine dem im Neuen Testament berichteten Wunder der Brotvermehrung. Einmal teilte Pio die hl. Kommunion aus. "Die kleinen Hostien waren sehr wenig und der Kommunikanten viele." In einem solchen Fall pflegt der Priester die Hostien zu teilen; aber dies, so wird gesagt, war dem Pater schon immer zuwider. Er brauchte auch so etwas nicht zu tun. Eine wunderbare Hostienvermehrung bewirkte, daß nach der Kommlinionausteilung sogar noch eine Anzahl von Hostien übrigblieb (320).

Zwei Wunder, die P. Pio wirkte, hatten zur Folge, daß Leute trotz strömenden Regens nicht naß wurden. Maria Winowska sagt, fast jedermann in San Giovanni Rotondo kenne das "reizende Abenteuer, das dem Ingenieur Todini aus Rom" begegnet sei. Es geschah so: Todini hatte längere Zeit im Kloster verbracht. Als er gegen Abend wieder heimkehren wollte, sah er, daß es in Strömen regnete. "Und ich habe nicht einmal einen Regenschirm!", sagte er zu P. Pio. Er bat den Pater um die Erlaubnis, im Kloster übernachten zu dürfen. Pio erwiderte: "Nein, mein Sohn, das ist nicht möglich. Du brauchst jedoch nichts zu befürchten. Ich werde dich begleiten." Todini machte sich also auf den Weg, mit hochgeschlagenem Kragen und fest auf den Kopf gedrücktem Hut. Zwei Kilometer mußte er zurücklegen. "Wie groß war sein Erstaunen, als er, ins Freie gelangt, feststellte, daß der Wolkenbruch plötzlich aufgehört hatte! Es nieselte kaum noch, als er bei den wackeren Leuten ankam, die ihm ein Zimmer vermietet hatten." "Madonna mia! Sie müssen ja naß sein bis auf die Haut", rief seine Hauswirtin, als er die Türe öffnete. Diese hörte zu ihrem Erstaunen die Worte: "Gar nicht; es regnet fast gar nichts." Die anwesenden Bauersleute blickten sich erstaunt an und riefen: "Was, es regnet fast nicht? Es ist doch eine wahre Sintflut! Hören Sie nur!" Alle traten auf die Türschwelle und stellten fest, daß der Himmel "alle Schleusen geöffnet" hatte. Verwundert fragten sie: "Seit einer Stunde regnet es unaufhörlich und in Strömen; was haben Sie gemacht, um trocken durchzukommen?" (321). Die geistige Begleitung des Paters hatte dieses Wunder bewirkt. Der Pater hatte aber offenbar kein ganzes Wunder fertiggebracht; denn Todini muß wohl doch durchnäßt worden sein, wenn er auch erklärte, nicht naß geworden zu sein. Für ihn hatte ja nur der Wolkenbruch aufgehört, als er das Kloster verließ. Es "nieselte" jedoch weiter und, als er am Reiseziel angekommen war, "regnete es fast gar nicht". Man wird ja schließlich auch dann naß, wenn man einen Weg von zwei Kilometern bei Nieselregen zurücklegt.

In diesem Fall hat also P. Pio die Wirkung eines Wolkenbruches von vornherein verhindert; in einem anderen Wunder hob er die bereits eingetretene Wirkung plötzlich wieder auf. Frau Vairo, eine Konvertitin, begann, "dem Vorbild der großen Büßer zu folgen". Eines Wintermorgens ging sie barfuß zur Kirche. "Es stürmte, es regnete, es war hundekalt"; der Weg, den die Frau zu gehen hatte, war sehr steinig. "Völlig durchnäßt und mit blutenden Füßen" erreichte sie die Kirche und "fiel auf der Stelle vor Schmerz und Kälte in Ohnmacht". Als sie erwachend die Augen öffnete, erblickte sie P. Pio, dessen Gesicht über sie geneigt war. Er berührte sie leicht an der Schulter und sprach: "Meine Tochter, selbst bei der hl. Messe muß man Maß halten. Zum Glück macht dieses Wasser nicht naß." Wie groß war das Erstaunen aller, die dieser Szene beiwohnten, als sie feststellten, daß die Kleidungsstücke der Frau Vairo "in einem Augenblick völlig trocken geworden sind" (322). Ein Wunder?

Durch ein weiteres Wunder schickte der Pater lästige Raupen auf die Wanderschaft. Am 15. Mai 1932 war eine Grtippe von Pilgern aus Bologna auf dem Weg zum Kloster in Sari Giovanni Rotondo. Plötzlich sahen sie, daß ein gutes Stück der Straße buchstäblich mit kriechenden schwarzen Raupen bedeckt war. Von Ekel erfüllt versuchten sie, an der Stelle vorbeizukommen; aber das war nicht möglich, weil es sich um einen mit Mandelbäumchen umsäumten Hohlweg handelte. "Sie mußten also über diesen ekligen Bodenbelag gehen." In San Giovanni Rotondo erkundigten sich die Pilger nach diesem seltsamen Phänomen. Man gab ihnen Auskunft: "Die Geschichte ist recht einfach. Ganz nahe beim Kloster ist ein Mandelbaumwäldchen, das die Raupen in solchem Ausmaß befallen hatten, daß die Ernte völlig vernichtet zu werden drohte. ... In ihrer Verzweiflung begaben sich die armen Leute zum Pater und flehten in an, ihnen zu helfen. Da ging Pio hinaus auf den Vorplatz und segnete die Mandelbäumchen mit einem großen Kreuzzeichen. Sofort machten sich die Raupen aus dem Staub" (323). - Dieses Wunder geschah im Mai 1932, also in der Zeit, da P. Pio, abgesehen von der Meßfeier in der klösterlichen Privatkapelle, jegliche seelsorgliche Tätigkeit untersagt war. Aber Wunder gehören wohl nicht zur amtlichen priesterlichen Tätigkeit. Über das Wunder haben sich möglicherweise andere Leute gar nicht freuen können; denn P. Pio hat ja die schädlichen Raupen nicht vernichtet; er hat sie nur auf Wanderschaft geschickt, so daß sie dann wohl die Mandelbäumchen anderer Leute vernichtet haben.

Welche Märchen in Umlauf gesetzt werden, zeigt folgender Bericht Maria Winowskas; sie schreibt: "Jahrelang konnten sich die Photographen alle Mühe geben, von vorne, von hinten heimlich heranschleichend versuchen, eine Überraschungsaufnahme zu machen: Die Filme blieben unbelichtet. Mit dem gleichen Film konnte man tadellose Aufnahmen machen; sowie jedoch der Apparat auf den Pater gerichtet war, lief der Auslöser auf Leerlauf. ... Erst als der Pater mit dem Photographieren einverstanden war, gelangen die Bilder" (324). . Solche Märchen sind nur für völlig unkritische Menschen Wunder.

2. Sprachengabe

P. Pio verstand von den modernen Sprachen außer seiner Muttersprache keine andere. Trotzdem beichteten gelegentlich bei ihm auch Leute, die nicht Italienisch gelernt hatten. Der Zuspruch des Paters geschah dann zwar in seiner Muttersprache, die Beichtenden sollen ihn aber doch "verstanden" haben. Es wird allerdings nicht behauptet, daß sie des Paters Worte in ihrer eigenen Sprache gehört hätten.

Gelegentlich wird aber auch angegeben, P. Pio sei mit der Sprachengabe ausgezeichnet gewesen. So verlautet: "Pio hatte die französische und griechische Sprache nicht gelernt; aber er verstand die eine und die andere Sprache." Er soll auch in französischer Sprache geschrieben haben (325). Am 20. September 1912 schrieb Pio an P. Agostino: "Die himmlischen Personen hören nicht auf, mir zu erscheinen, und sie lassen mich die Trunkenheit der Seligen im voraus kosten. Und wenn die Aufgabe unseres Schutzengels groß ist, so ist jene meines Schutzengels gewiß größer, da er auch den Meister in der Erklärung der anderen Sprachen machen muß" (326) . Demnach hat P. Pio selber die Sprachengabe für sich in Anspruch genommen. Warum offenbart er seine außergewöhnliche Fähigkeit in einem Brief ohne einen ersichtlichen wichtigen Grund? Ein Heiliger darf doch nichts aus sich machen.

Außer Französisch, heißt es, war P. Pio "nicht unbekannt die deutsche Sprache". Als Beweis wird folgender Fall angeführt: Im Jahr 1940 kam zum Pater ein Schweizer Bürger. Das Zwiegespräch wickelte sich in lateinischer Sprache ab. Bevor sich der Schweizer verabschiedete, empfahl er dem Gebete des Paters eine kranke Person. Der Pater gab zur Antwort: "Ich werde sie an die göttliche Barmherzigkeit empfehlen" (327). Aber mit diesem Beispiel wird offensichtlich nicht viel bewiesen. Ein Italiener, der einen deutschen Satz so ausspricht wie P. Pio, zeigt, daß er ein wenig Deutsch gelernt hat; an eine außerordentliche Sprachengabe wird dabei kein vernünftiger Mensch denken.

3. Bilokation

Zuweilen, so wird behauptet, habe Pio die Gabe der Bilokation besessen, er sei also zu gleicher Zeit an zwei verschiedenen Orten zugegen gewesen. Dies soll beispielsweise der Fall gewesen sein, als die Kleine Theresia im Petersdom zu Rom heiliggesprochen wurde. Als Zeuge für das Wunder wird ein Erzbischof Dal Salto in Uruguay genannt, von dem gesagt wird, er stehe dafür ein, was ihm ein "sehr hoher Prälat mit absolut gesunden Sinnen" erzählt habe. Dieser Prälat habe während der feierlichen Seligsprechung der Kleinen Theresia den ihm persönlich bekannten Pater "unverkennbar" erblickt. Der Pater sei aber, als sich ihm der Prälat nähern wollte, um ihn zu begrüssen und mit ihm zu sprechen, plötzlich verschwunden; P. Pio habe jedoch San Giovanni Rotondo nie verlassen. Dieses Gerücht soll auch Papst Pius XI. zu Ohren gekommen sein. Dieser soll daraufhin "den berühmten Don Orione" um seine Meinung gefragt haben. Der Gefragte versicherte angeblich dem Papste: "Ich habe ihn ja auch gesehen!" Daraufhin habe der Papst geantwortet: "Wenn Sie es sagen, glaube ich;es" (328).

P. Agostino wußte von einer Frau aus Florenz zu berichten, ihr sei eines Morgens nach dem Kommunionempfang P. Pio erschienen und habe sie "ermuntert und gesegnet". Einem sizilianischen Hauptmann soll einmal der Pater auf dem Schlachtfelde erschienen sein. Während eines fürchterlichen Trommelfeuers soll plbtzlich neben dem Offizier ein zarter Mönch gestanden sein, der mit dem Gewande eines einfachen Bruders bekleidet war. Der Pater habe gerufen: "Herr Hauptmann, entfernen Sie sich von dem Platz, kommen Sie schnell zu mir!" Kaum habe sich der Hauptmann von seinem Platz entfernt gehabt, da habe an der Stelle, auf der er kurz zuvor gestanden, eine Granate eingeschlagen. Der warnende Bruder sei jedoch nicht mehr zu sehen gewesen.

Auch einige Soldaten von Unteritalien sollen ein ähnliches Erlebnis gehabt habe. Sie wollen in ihrer Mitte einen Klosterbruder gesehen habe, der zum Himmel blickte und betete. Einer von ihnen habe ausgesagt, es habe sich um P. Pio gehandelt (329).

Die Angaben stützen sich nicht bloß auf Zeugen; für die Tatsache solcher Begebenheiten verbürgt sich auch P. Pio selber. Eine seiner "geistlichen Töchter", eine gewisse Giovina, wurde Ende 1914 sehr schwer krank. Am 10. Dezember schreibt P. Pio: "Vor einigen Tagen hat mir der Herr erlaubt, Giovina zu besuchen und hat sie durch meine Vermittlung mit Gnaden überhäuft. ... Es schien, daß es ihr besser ging. Ich bitte Sie vor allem, vor Giovina nichts von meinem Besuch verlauten zu lassen; es ist gut, wenn man des Königs Geheimnis verbirgt" (330). Hier behauptet also Pio selber, daß er, der sein Kloster nicht verließ, die Dame persönlich besucht habe. Warum spricht er davon und warum betont er seine überreiche Gnadenvermittlung? Wenn schon, dann hätte er selber "des Königs Geheimnis" verbergen müssen.

Einmal wollte sich P. Agostino unmittelbar bei Pio vergewissern; er fragte ihn, ob es wahr sei, was man über ihn sage, daß er sich oftmals auf Reisen bis nach Florenz begebe. Der Gefragte versicherte "demütig", dies entspreche der Wahrheit (331).

Im Juli 1968 berichtete P. Onorato seinem Mitbruder Pio, er werde am nächsten Tag nach Lourdes reisen; er bitte darum, Pio möge ihn auf der Reise begleiten. Er fragte auch: "Warum kommen Sie nicht mit? Sie sind doch schon alt und sind noch nirgendwohin gereist!" Pio antwortete: "In Lourdes bin ich bereits zu wiederholten Malen gewesen." Verwundert entgegnete P. Onorato: "Sie haben doch nicht das Kloster verlassen." Da gab Pio zur Antwort: "Nach Lourdes kommt man nicht bloß mit dem Zug oder mit dem Auto, sondern auch auf andere Weise." P. Onorato wandte ein, P. Pio unternehme also ohne Erlaubnis der Ordensoberen schöne Reisen und kehre dann exkommuniziert zurück. "Ein Narr, ein Narr sind Sie", antwortete daraufhin P. Pio, "haben Sie mich jemals das Kloster verlassen sehen? Ihr könnt mich alle Tag und Nacht bewachen und ihr wißt, daß ich mich nicht entferne. Mir scheint, daß Sie nichts begreifen" (332)

Lotti bringt in seinem Buch Über P. Pio eine Erklärung des angeblichen Phänomens. Er meint: "Ist einmal die Tatsache der Wahrnehmung des Paters Pie eigentümlichen Wohlgeruchs erwiesen, wie soll man sie dann anders erklären, als indem man zugibt, sie sei eine Folge seiner unsichtbaren Gegenwart am Orte der Wahrnehmung selber. Bedenkt man weiter, daß die Erscheinung von Pater Pius zuweilen mit seinem intensiven Wohlgeruch begleitet war, so ist der Gedanke an den Zusammenhang beider Phänomene noch klarer" (333). In Wirklichkeit handelt es sich weder bei dem Phänomen der seltsamen Düfte noch auch bei dem behaupteten gleichzeitigen Auftreten des Paters an zwei verschiedenen Orten um unerklärliche Dinge; denn Verwechslung von Personen gehört nicht in den Bereich von Wundern. Ein Wunder liegt auch dann nicht vor, wenn sich P. Pie selber für die Tatsächlichkeit jener Phänomene verbürgt hat. Daß er sich wiederholt geistigerweise oder im Traum in Lourdes aufgehalten hat, nimmt nicht wunder. Es mag auch sein, daß er selber in Verwechslung von Traum und Wirklichkeit an den Besitz der Gabe der Bilokation geglaubt hat; besessen hat er sie ebensowenig wie etwa seine Zeitgenossin Therese Neumann von Konnersreuth, über die ähnliche Märchen erzählt werden. P. Pio litt offenbar an einer katatonieähnlichen Psychose. Zu diesem Krankheitsbild gehören sensorische Trugwahrnehmungen der Depersonalisation, der körperlichen Entfremdung, ja der Empfindung einer Trennung zwischen Geist und Körper.Zwischen Ich und Erlebnis schiebt sich ein Unwirklichkeitsgefühl, das dem Kranken das Gefühl vermittelt, als liege sein Leib im Bett, sein Geist sei jedoch personifiziert an einem anderen Ort unterwegs. In dieser Weise läßt sich die von P. Pio beschriebene Bilokation auf natürliche, jedem Psychiater geläufige Weise erklären.

4. Gehen durch verschlossene Türen

Eine Gabe wurde P. Pio zugeschrieben, die man sonst nur in Märchen zu hören bekommt, nämlich die Fähigkeit, durch verschlossene Türen gehen zu können. "In manchen Fällen", so schreibt Maria Winowska, "kann P. Pio auch verschlossene Türen durchschreiten zum großen Erstaunen derer, die ihm auflauern. So kann er auf elegante Weise von seiner Spur abbringen und Neugierige abschütteln." Als Beweis für diese wertvolle Fähigkeit führt Winowska folgenden Fall an: Eine Gruppe von Pilgern wollte unbedingt P. Pio sehen. Drei Stunden lang lauerte sie an der Türe, durch die der Pater kommen mußte, wenn er zur Kirche gehen wollte. Doch siehe da, der Pater befand sich auf einmal im Beichtstuhl; keiner hatte ihn kommen sehen. Die Leute sprachen darüber mit einem anwesenden Kapuziner. Dieser versicherte: "Durch diese Türe ist er gekommen." Es war eben die Türe, vor der die Leute drei Stunden lang gewartet hatten! - Mit welcher Eleganz nicht Wunder fabriziert werden! Der Auskunft gebende Kapuzinerpater hat offenbar nicht im entferntesten an ein Wunder gedacht oder gar an zwei Wunder zugleich, nämlich an ein Schreiten durch eine verschlossene TÜre und an ein Unsichtbarwerden Pios. Was hätte denn schließlich auch für ein vernünftiger Anlaß vorgelegen, daß Gott durch ein oder gar zwei Wunder den Pater dem Anblick einiger Pilger entziehen mußte?

Ein anderes Mal suchen mehrere Pilger P. Pio zu treffen. Aber er ist nirgends zu finden. Schließlich geben die Pilger auf und machen sich mit ihrem Fahrzeug auf den Rückweg. Von der Schwelle der Kirche aus verfolgen andere Wallfahrer das abfahrende Auto. Als sie zurückschauen, siehe da, P. Pio befindet sich neben ihnen! Sie sprechen ihn verwundert an: "Wo waren Sie denn, Padre? Man hat Sie überall gesucht!" Pio lächelt bloß, indem er spricht: "Ich ging vor Euch auf und ab; Ihr aber habt davon nichts bemerkt." Sprach's und kehrte "ruhig" in den Beichtstuhl zurück (334)

Liegen bei den geschilderten Fällen Wunder vor? Ohne Zweifel nicht. Zu einem Wunder gehört viel mehr. Warum sollte übrigens P. Pio dem abfahrenden Auto an der Schwelle der Kirche nachgeblickt haben? Warum soll er vor den Leuten auf und ab gegangen sein? Verließ er etwa deswegen seinen Beichtstuhl, in dem er vorher offenbar auch nicht aufzufinden war, um vor den Leuten vor der Kirche zuerst unsichtbar und dann sichtbar einherzugehen?

5. Schweben

Eine der wunderbaren Gaben schrieb sich P. Pio selber zu, nämlich die Fähigkeit, schwerelos im Raum zu schweben. Der Pater befand sich, so wird berichtet, auf einem erhöhten Platz in der Sakristei; die Leute drängten sich bis vor seinen Beichtstuhl. Da geschah es auf einmal, daß er plötzlich nicht mehr anwesend war. "Er selbst sagte nachher, daß es ihm derart heiß geworden war, und er schließlich keine Luft mehr bekommen habe, und daß er sich über den Kopf der Leute hinweg davomachte." Keiner der Anwesenden hatte gemerkt, wann und wie der Pater verschwunden war; niemand hätte auch von dem Wunder etwas erfahren, hätte es nicht P. Pio selber ausgeplaudert (335). Das behauptete Wunder gehört zur Gruppe jener Märchen, wie sie wundersüchtige Menschen gerne hören; es gewinnt auch dann nicht an Wahrheitsgehalt, wenn Pio selber dafür eintritt. Interessant ist, daß in der Literatur über Besessenheitsfälle das Schweben als Werk des Teufels hingestellt wird. Der Jesuitenpater Adolf Rodewyk weiß von solchen Fällen zu berichten, ist allerdings der Meinung, die Levitation die Fähigkeit zu schweben, komme auch "rein natürlich" vor (336).

Diese wunderbare Fähigkeit, die einer ganzen Reihe von Mystikern zugeschrieben wird, ist unserer modernen Psychophysiologie wohlbekannt. "Erlebnisse des Schwebens" sind durchaus nicht seltene Erfahrungen eines jeden normalen Menschen, der sich selbst im Traum in die Schwerelosigkeit erhoben glaubt. Die Wissenschaft der Physiologie gibt dafür auch eine einleuchtende Erklärung, nämlich, es handle sich wahrscheinlich um Änderungen der Nervenbotschaften aus unseren Muskeln.

6. Herzenskenntnis

Lotti führt in seinem Buch über P. Pio einige Fälle an, die seiner Überzeugung nach beweisen, daß der Pater in besonderem Maße über die Gabe der Herzenskenntnis verfügt habe (337). Was er allerdings an Beispielen bringt, ist alles andere als ein Beweis. Greifen wir zwei Fälle heraus aus dem Buch Ripabottonis! Den ersten Fall schildert P. Pio in einem Brief vom 24. Januar 1918 an P. Benedetto. In dem Brief spricht der Pater von einem Jungen, der seit längerer Zeit in schwerer Sünde lebe und sich schäme, zur Beichte zu gehen. Unter anderem schreibt er: "Jesus hat mich erkennen lassen, daß N.N. sich seit sehr langer Zeit in der Sünde der Unreinheit befindet und, was schlimmer ist, sich nicht zu beichten getraut. Seit einiger Zeit wollte ich Ihnen das offenbaren, aber ich scheute mich immer, das Ihnen zu sagen, und zwar bloß deshalb, damit nicht daraus eine Beschämung des armen und unglücklichen Jungen entstehe. Aber da ich sah, daß sich dieser Arme bis jetzt nicht zu beichten entschließen konnte, und wenn ich bedenke, daß er sich mit dem Hinschwinden der Tage immer mehr in dem Übel verhärtet, habe ich mich entschlossen, Ihnen alles zu offenbaren. Wenn ich dadurch, daß ich es Ihnen sagte, falsch gehandelt habe, sagen Sie es mir und auch, wie ich mich künftig verhalten soll. Suchen Sie nun nach einem Weg, wie man diesen Armen zur Reue bringen kann. Ich bitte Sie aber darum, meinen Namen um Ilimmels willen nicht zu nennen" (338). Was P. Pio in diesem Fall einem Brief anvertraut, ist nicht unbedenklich. Hat eir das geschrieben, um seine Herzenskenntnis unter Beweis züi stellen? Ein anderer Grund ist nicht ersichtlich. Selbst wenn eir durch eine innere Erleuchtung den Jungen durchschaut gehabt sollte, wieso bleibt ihm die weitere, geradezu selbstverständliche Erleuchtung versagt, was man in solchen Fällen tut? Wozu brauchte er den Rat des Paters Benedetto, der doch allem Gerede nach nicht über besondere übernatürliche Gaben verfügte wie P. Pio? Außerdem hätte es sich um einen Fall gehandelt, bei dem man kein besonderes inneres Licht benötigt; in solch einem Fall hätte eine kurze Aussprache vollauf genügt. In dem veröffentlichten Brief wird zwar der Name des Jungen nicht genannt; an seine Stelle werden drei eingeklammerte Punkte gesetzt. Im Originalbrief scheint aber der Name wirklich gestanden zu haben; darauf weist der Schlußsatz im Brief hin, wo P. Pio inständig um Verschweigen seines Namens bittet. Was da P. Pio getan hat, kann man nicht als unbedenklich bezeichnen. Die Art, wie er in solch einer verdächtigen Form seine Herzenskenntnis unter Beweis stellen will, ist nicht weniger anrüchig. Es bleibt keine andere Schlußfolgerung übrig als die: P. Pio hat so im Geltungsdrang des allgemein verehrten Heiligen und Wundermannes sich selbst Weihrauch gestreut.

Nicht weniger Anstoß muß der zweite Fall von "Herzenskenntnis" erregen. Pio befindet sich als Magister mit einigen Schülern auf einer Wanderung. Da macht er auf einmal ein tieftrauriges Gesicht. Plötzlich spricht er unter Tränen zu den Jungen: "Einer von euch hat mir das Herz durchbohrt." Diese Worte schlugen ein, wie wenn ein Blitz vom heiteren Himmel herniedergefahren wäre. Natürlich trieb die Neugier die Jungen an, den Grund für solches Verhalten zu erfahren. P. Pio gab das Geheimnis auch tatsächlich preis.- "Gerade an diesem Morgen hat einer von euch eine sakrilegische Kommunion empfangen! Ich selber habe ihm die Hostie während der Konventmesse gereicht." Auf diese Worte hin fiel einer der Jungen auf seine Knie nieder und gestand weinend: "Das bin ich." Nun entfernte sich der Pater mit dem Jungen ein wenig. Hernach gestand der Entlarvte die näheren Umstände seines "Sakrilegs" auch seinen Kameraden. Der Pater gab die Lossprechung und die Wanderung ging "fröhlich" weiter (339). - Was soll man zu einem Vorgehen der geschilderten Art sagen? Hätte sich die Sache wirklich so verhalten, wie sie überliefert wird, warum hat P. Pio nicht das Nächstliegende getan, was es gibt? Die Folge seiner übernatürlichen Herzenskenntnis hätte doch nur eine persönliche Aussprache sein dürfen, nicht aber die absichtliche Blamage des jungen Menschen, zu welchem Zweck er noch dazu auf eine ihm günstig erscheinende Gelegenheit wartet, damit die Bloßstellung vollkommen gelingt. Es hätte nur noch gefehlt, daß der Pater den armen Jungen bei der Kommunionausteilung übergangen hätte, wie er es doch auch dann und wann gemacht hat.

7. Nahrungslosigkeit

Sogar Nahrungslosigkeit hat man P. Pio angedichtet; allerdings soll sie nicht lange gedauert haben. Sie erstreckte sich lediglich auf 21 Tage des Jahres 1911, als sich der Pater in Venafro befand (340). In diesen Wochen soll Pio allein von der Hostie gelebt haben. Er kommunizierte "in Ekstase", ohne es zu merken" (341). Es war die Zeit, in der er eine seiner eigenartigen Krankheiten durchmachte. Damals war auch sonst die Eucharistie "fast seine einzige Nahrung". Schon vorher, während der Noviziatszeit, verzichtete "dieser blasse und abgezehrte Novize Tage und Tage hindurch auf Nahrung". Die hl. Kommunion allein war ihm genug. Damals geschah es freilich auch, daß Frater Pio gelegentlich doch etwas aß, und zwar auf Befehl seiner Oberen. Aber es war vergebliche Mühe; sofort erbrach er die eingenommene Speise wieder (342).

Daß dabei nicht einmal die Spur eines Wunders vorliegt, ist so klar, daß man einfach nicht verstehen kann, wieso man auf so etwas Überhaupt eingeht. P. Pio erkrankte offenbar an dem Psychosyndrom der "Anorexia nervosa". Die Anorexie, das heißt der Verlust jeglichen Hungergefühls und die damit verbundene Nahrungsverweigerung stellt die Antwort eines introvertierten, psychopathischen Menschen auf eine Konfliktsituation dar.

P. Pio hat ein sehr asketisches Leben geführt. Freilich, seine Verehrer Übertreiben gerne, wie es in mystisch angehauchten Schriften die Regel ist. Es ist ohne Zweifel eine der gewohnten Übertreibungen wenn gesagt wird, Pio habe sich täglich et nur einmal ins Refektorium" begeben, um "nur die Suppe und ein wenig Gemüse" zu sich zu nehmen (343). Dies mag durchaus für bestimmte Zeiten zutreffen; aber eine Dauergewohnheit war es gewiß nicht.

Von den 21 Tagen im Jahr 1911 abgesehen, hat niemand mehr auch nur einen kurzen Zeitraum entdeckt, in dem Pio "nahrungslos" gelebt hätte. Mit allgemeinen Behauptungen, wie sie beispielsweise Maria Winowska aufstellt, kann man nichts anfangen. Diese kommt im Zusammenhang mit der Schilderung der Militärzeit Pios auch auf das Thema "Essen" und "Schlafen" zu sprechen. Dazu sagt sie: "Es war dem Soldaten sicherlich nicht leicht, sich dem Kommißessen und dem gemeinsamen Schlafraum zu entziehen! Seit Jahren ißt und schläft er fast nicht (344) mehr" . Solche Übertreibungen sind typisch für die "mystische" Literatur.


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Letzte Änderung: 20. August 1997