III. Krankheiten und wunderbare Hilfe15

1. Vor der Stigmatisation

Schon bevor die Öffentlichkeit von dem „Wunder“ der Stigmatisation erfahren hatte, waren bereits in Konnersreuth mehrere andere „Wunder“ geschehen. Nähere Angaben wurden darüber erst wesentlich später laut; in erster Linie ist dies Dr. Fritz Gerlich zu verdanken. Gemeint sind schwere „Krankheiten und Leiden, die Therese Neumann Jahre hindurch zugesetzt haben und von denen sie dann plötzlich befreit wurde“. Im wesentlichen handelt es sich um die Gebrechen: Wirbelverrenkung, Aufliegewunden und Wundbrand, Blindheit und Lähmungserscheinungen.

Dr. Gerlich stützt sich bei der Darstellung der Krankheiten und wunderbaren Heilungen in erster Linie auf das, was ihm Therese Neumann erzählt hat; er gesteht selber: „In Konnersreuth erfährt man vielerlei von Therese Neumann, wenn sie im gewöhnlichen Bewusstseinszustand ist. Man erhält aber auch manchen Aufschluß, wenn sie im Zustand der erhobenen Ruhe - gewöhnlich Ekstase genannt - spricht. So ist es auch mir ergangen. Auch über die Schicksale der Therese Neumann habe ich manches durch sie im Zustand der erhobenen Ruhe erfahren.“ Gerlich hat sich, wie er selber gesteht, „früher niemals mit den hier in Frage kommenden Krankheitsvorgängen befasst“.

a) Blindheit

Das erste „Wunder“ ereignete sich am 23. April 1923; Therese Neumann vermochte nach jahrelang andauernder Blindheit wieder zu sehen. Wie lautet das ärztliche Urteil über die behauptete Blindheit? Der behandelnde Arzt, Sanitätsrat Dr. Seidl, hat sich wiederholt bemüht, ihre Augen zu untersuchen; es gelang ihm nie. „Augenspiegeln war unmöglich, da sich beim Versuch zu spiegeln sofort heftige Zuckungen am ganzen Körper mit Bewusstseinsstörung einstellten.“ Alle Versuche scheiterten; immer wenn ein Lichtstrahl in ein „blindes“ Auge drang, setzten „epileptische Krämpfe“ ein. Das Gutachten der behandelnden Ärzte konstatiert, dass die Augen der Patientin damals „jeden Einfall eines Lichtes mit einer Verengung der Pupille beantworten, wie jedes gesunde Auge tut“. Es handelte sich demnach um eine psychogene, das heißt nicht organisch verursachte Blindheit. Dr. Seidl hat, wie er wiederholt versicherte, die Blindheit von Anfang an als eine hysterische Blindheit aufgefasst. Trotzdem hat Therese Neumann am 27. März 1923 in einem Brief an eine ehemalige Lehrerin behauptet, Dr. Seidl habe sich so geäußert: „Mit den Augen ist alle Hoffnung dahin. Die Sehnen sind tot; da müsste ein Wunder geschehen, wenn sie wieder gesund werden sollte.“ Natürlich hat der Arzt Dr. Seidl niemals solche Worte gebraucht; auf keinen Fall stammt der mehr als laienhafte Ausdruck „Sehnen“ von ihm.

b) Aufliegewunden und Wundbrand

Am 3. und 17. Mai 1925 erfuhr Therese Neumann ein weiteres Wunder; da verschwanden bei ihr plötzlich Aufliegewunden und Wundbrand. Wie tief die Wunden lagen, schilderte sie dem Erzbischof Teodorowicz: „Der linke Fuß hatte vom Knöchel bis zur Sohle keine Haut mehr, der Knöchel war blank. Am Rücken hatte ich sechs bis acht Flecken, etwa so groß wie ein Markstück oder auch wie Handbreite. Aus allen Wunden sickerte Wasser, Blut und Eiter.“ Auch in diesem Fall berufen sich die „Konnersreuther“ auf den Arzt Dr. Seidl; dieser soll sogar die Befürchtung ausgesprochen haben, ein Fuß müsse amputiert werden. So etwas hat Dr. Seidl nie gesagt; er hat vielmehr versichert, er habe „vor dem Zustandekommen der Heilung die Decubital-Geschwüre nicht gesehen“. Nach seinem ersten Besuch nach dem angeblichen Wunder hat ihn niemand darauf aufmerksam gemacht, dass Decubital-Geschwüre plötzlich verschwunden seien; darum hat er keine Untersuchung vorgenommen. Aber was sagt Therese Neumann? In einem Brief vom 16. Juni 1925 schildert sie ihre einzelnen „wunderbaren Heilungen“. In dem Brief wird gar nichts von einem Wundbrand und von einem plötzlichen Verschwinden desselben erwähnt. Nur von einem Hals- und „Rückenmarkleiden“ spricht sie. Dann fährt sie fort: „In einigen Tagen kam Herr Dr. Seidl, der nur so staunte. Er untersuchte mich gründlich und fand, dass mein Rückenmarkleiden ganz geheilt sei.“ Der Arzt hat hingegen bei seinem Besuch nach dem „Wunder“ weder von einem Rückenmarkleiden gesprochen, noch hat er Therese überhaupt untersucht; er hatte ja gar keinen Anlass zu einer Untersuchung. In keinem Briefe, die Therese vor dem angeblichen Wunder geschrieben hat, ist ein Hinweis auf Decubital-Geschwüre zu finden. Ein einziges Mal stoßen wir auf eine Andeutung von Folgen eines lang dauernden Krankenlagers. Am 14. Januar 1925 schreibt Therese unter anderem: „Meine Lieben müssen mich, wenn sie das Bett machen, stets in ein anderes legen. Sitzen kann ich überhaupt nicht, sondern nur so im Rücken liegen, dem's manchmal nicht recht passen will. Aber er kann nichts machen. Er könnt überhaupt stolz sein, bekommt er doch immer wieder eine neue Haut, so ist er immer wieder jung16.“ Aus dieser Bemerkung lässt sich lediglich entnehmen, dass sich infolge des langen Krankenlagers die Haut am Rücken wiederholt geschält hat, ein ganz natürlicher Vorgang. Außerdem, wenn die Haut „immer wieder jung“ wurde, warum dann das Gerede von einer wunderbaren Heilung?

c) Wirbelverrenkung

Die angeblich auf dem Rücken der Therese Neumann befindlichen Aufliegewunden sollen eine Folge der seit 1918 bestehenden „Rückgratverrenkung“ gewesen sein. Am 17. Mai 1925 verschwand diese, die auch als „Verrenkung der Lendenwirbelsäule“ oder „Luxation der Wirbelsäule“ bezeichnet wird. Keiner der behandelnden Ärzte hat jemals ein solches Leiden entdeckt. Dr. Seidl hat ausdrücklich versichert, es habe sich nur um eine Muskelzerrung gehandelt. Die Verrenkung der Lendenwirbelsäule soll sich bereits am 10. März 1918 ereignet haben. Der behandelnde Arzt Dr. Seidl hat jedoch erstmals nach dem 29. April 1923 davon etwas gehört. Obwohl er Pfarrer Naber vor falschen Angaben warnte, „weil eine Luxation nie vorhanden war“, behauptete der Pfarrer im Jahre 1926 in einem Artikel der „Grenz-Zeitung“, es habe sich um eine Verrenkung der Wirbelsäule und eine Verletzung des Rückenmarks gehandelt. Vom 17. Mai 1925 an, so behauptete Pfarrer Naber, „waren die zwei Rückgratwirbel, die vordem etwas eingedrückt und seitlich verschoben waren, in natürlicher Lage“.

Wie leicht sich „Mystiker“ tun, wenn sie auf ein Wunder erkennen wollen, offenbart sich in einer Äußerung des Bischofs Waitz: Er wendet sich gegen die Feststellung, kein Arzt habe eine Rückgratverletzung konstatiert, und erklärt dann: „Wenn man so vorgeht wird man schließlich sagen können: Der Tod Christi am Kreuze ist auch nicht ärztlich festgestellt worden. Deshalb hat man keine Pflicht zu glauben, dass Jesus gestorben und von den Toten auferstanden ist. Es ist Unsinn, sich mit solchen Sachen herumzuplagen.“ - Was ist da Unsinn?

2. Nach der Stigmatisation

Boniface schreibt im Jahr 1958, vom 13. November 1925 an sei Therese Neumann, abgesehen von einer doppelseitigen Lungenentzündung, „krankheitsfrei“ geblieben; vom Ende des Jahres 1926 an habe sich nie mehr „die geringste Erkrankung“ eingestellt, „ausgenommen einige Schnupfen und Grippen“. Boniface hat sein Wissen in Konnersreuth bezogen. Andere Autoren dagegen berichten von einer Unsumme von Leiden, die Therese Neumann durchmachen musste; auch sie sind in Konnersreuth informiert worden.

Aus der Fülle der Krankheiten, die die Stigmatisierte von Konnersreuth angeblich durchzumachen hatte, seien nur ein paar erwähnt; für keine gibt es ein ärztliches Attest; die Diagnosen stammen von der Kranken selbst. - Am 26. Juli 1930 stellte sich „ein schweres Lungenleiden ein, das wiederholt zu Lungenblutungen“ führte. - Im Jahr 1938 musste sie für einen Priester, der an Trunksucht litt, eine von einem Insektenstich verursachte Blutvergiftung durchmachen; das Gift durchwanderte zuerst den Körper und setzte sich dann in zwei Geschwüren fest, „eines in den Gedärmen, das andere an der linken Seite“. Aus dem einen ergoss sich „ein Liter übel riechenden Eiters“; aus dem anderen „floß eine unglaubliche Menge Eiters aus“. - Im März 1931 zeigten sich bei Therese die „Erscheinungen einer Kopfgrippe“ in meist sehr schweren Anfällen, die sich „täglich bis zu siebenmal wiederholten“. - Dann war sie rechtsseitig gelähmt, war auf dem rechten Ohr taub und vermochte die Zunge kaum noch zu bewegen, so dass das Sprechen nur unter großen Schwierigkeiten möglich war. - Im Jahr 1930 hatte sie, wie Pfarrer Naber behauptete, sogar „ein Geschwür über der Herzgegend“; das Geschwür brach über Nacht auf und „der Eiter floß in die Herzgegend“ ab. - In der Adventszeit 1931 stürzte Therese rückwärts zu Boden; die Folge waren „Lungenblutungen“. - In regelmäßigen Abständen setzten ihr Nerven- und Nierenschmerzen zu. - Am 13. März 1944 berichtete sie dem Bischof von Regensburg von einer eitrigen Nierenentzündung.

Das gleiche, was für die Leiden vor der Stigmatisation festgestellt werden musste, gilt auch für alle Leiden in der späteren Zeit. Trotz der großen Zahl und der Gefährlichkeit der Krankheiten wurde kein Arzt zu Rate gezogen. Dies trifft allerdings nur für die mannigfaltigen Phantasiekrankheiten zu. Wenn sie tatsächlich erkrankte, dann wurde ein Arzt gerufen, der „Leibarzt“ Dr. Mittendorfer. Er war an die Stelle des Sanitätsrates Dr. Seidl getreten, mit dem sich die Neumann-Familie überworfen hatte. Freilich, darüber, wann und wie oft Mittendorfer tätig geworden ist, hat man sich in Schweigen gehüllt. Sonst wurde keinem Arzt auch nur eine einfache Untersuchung gestattet, nicht einmal damals, als Prof. Martini im Auftrag des Regensburger Bischofs in Konnersreuth weilte. Als Therese einmal einen ihrer sich häufig einstellenden „Erstickungsanfälle“ bekam, fragte Martini den Vater der Stigmatisierten, ob er seine Tochter abhören dürfe. Der Vater lehnte schroff ab, indem er bemerkte, das sei viel zu gefährlich, seine Tochter sei schon einmal, als man sie abhören wollte, beinahe erstickt. Es kam zu einem erregten Gespräch, an dem sich neben den Eltern der Therese auch Pfarrer Naber beteiligte. Da erklärte der Vater, der Heiland sei der einzige, der helfen könne. Und siehe da, sofort hat der Heiland geholfen; das erregte Gespräch war zu Ende, als sich die Kranke plötzlich wieder wohlauf befand; der Vater sprach triumphierend: „Der Heiland hat geholfen!“ In Wirklichkeit hatte Therese überhaupt keinen Erstickungsanfall, wie Prof. Martini unschwer feststellen konnte. Während des ohne Vorboten auftretenden „Erstickungsanfalles“ waren weder Trachealrasseln und Zyanose, noch sonstige objektive Zeichen einer Atembehinderung wahrzunehmen, das Ganze machte vielmehr den Eindruck „ eines mit ungenügender Kenntnis des Erstickungsvorganges willkürlich produzierten Schaustückes“17.


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Letzte Änderung: 6. Januar 2002