Konnersreuth als Testfall

V. Dem Irdischen leiblich entrückt

1. Schweben

Steiner kommt in seinem Buch über Therese Neumann auch auf die Berichte zu sprechen, die vom Schweben der Stigmatisierten erzählen. Dieses Phänomen sei mehrmals aufgetreten. Allerdings räumt Steiner ein, dass nur ein einziger Fall „zuverlässig“ von ihm habe nach geprüft werden können. Wenden wir uns diesem Fall zu. Es war am 15. August 1938, als Therese im Steyler Kloster in Tirschenreuth die Aufnahme Mariens in den Himmel schaute. „Sie ruft ,mit, mit' und streckt den emporschwebenden Gestalten die Hände nach, sich auf die äußersten Spitzen der Zehen erhebend, so dass man unwillkürlich schaut, ob sie denn noch auf dem Boden stünde. In der Tat wird durch eine Reihe von absolut glaubwürdigen Zeugen, darunter Priester, ausgesagt, dass sie ein Stück mit emporgenommen worden sei und einige Zeit in der Luft geschwebt habe.“ Etwa 15 bis 20 Zentimeter sei Therese vom Fußboden erhoben gewesen. Steiner beruft sich auf einen Herrn Dost aus Hildesheim, der Zeuge des Vorfalls gewesen sei1.

Dieser einzige „zuverlässige“ Fall gibt offensichtlich einen sehr fragwürdigen Beweis ab. Therese Neumann pflegte während des Gottesdienstes zu sitzen. Was bedeutet da das Anheben der Füße um einige Zentimeter?

Der zweite Fall soll sich in der Klosterkirche St. Walburg in Eichstätt ereignet haben. Während des Gottesdienstes saß Therese neben der Äbtissin. Plötzlich, während der Wandlung, bemerkte diese, dass Therese, „die tiefer als sie neben ihr gesessen hatte, sich ungefähr in gleicher Höhe befand. Die Nachprüfung ergab einen Abstand um etwa eine Stufe vom Boden.“

Wie die Nachprüfung geschah, weiß Boniface zu berichten2. In der Klosterkapelle zelebrierte der Bischof ein feierliches Pontifikalamt. Während der Wandlung bemerkte die Äbtissin, dass sich Therese Neumann in gleicher Höhe wie sie befand. „Um ganz sicher zu sein, dass sie nicht einer Täuschung zum Opfer fiel, streckte sie wiederholt ihre Hand unter Tereses Füßen vorbei, deren Kleider herunterhingen, ohne den Boden zu berühren.“ Das erfuhr Boniface am 29. September 1943 aus dem Munde der Äbtissin. Hätte diese wirklich getan, was der Berichterstatter behauptet, dann müsste sie während der Wandlung von ihrem Platz herunter gestiegen sein, um, ohne Rücksicht auf die heilige Handlung, den Nachweis für das Wunder zu erbringen. Das klingt einfach zu unglaubwürdig. Die genannte Äbtissin ist leider im Jahr 1950 verstorben. Steiner, der lediglich den Tirschenreuther Fall als zuverlässig verbürgt bezeichnet, scheint offenbar den Eichstätter Bericht nicht überzeugend gefunden zu haben.

Schon eher sähe es einem Wunder gleich, wenn P. Staudinger mit seiner Behauptung recht hätte. Er sagt, es sei verschiedentlich festgestellt worden, dass Therese beim Kommunionempfang in Verzückung geraten sei; dabei habe man sie „einen halben Meter über der Erde schweben gesehen“3 - eine Behauptung, die keine Zeugen kennt.

Im Jahr 1961 wurde auf meine (d. V.) Veranlassung Therese Neumann unmittelbar befragt, wie weit diese spärlichen Nachrichten der Wahrheit entsprächen. Sie erklärte, das Schweben sei bei Visionen öfters vorgekommen, beispielsweise, wenn sie die Aufnahme Mariens in den Himmel visionär erlebt habe. Dann habe sie auch mit gewollt, und so sei es zum Schweben gekommen. Als Zeugen benennt sie den bereits erwähnten Dost aus Hildesheim und einige Patres von St. Peter in Tirschenreuth, ohne ihre Namen anzugeben.

Eine Anfrage im Missionshaus St. Peter - sie betrifft den einzigen, von Steiner als zuverlässig bezeichneten Fall - hatte folgendes Ergebnis: Die Patres, die beim damaligen Besuch der Stigmatisierten von Konnersreuth zugegen waren, seien inzwischen verstorben. „Die Aussagen der Patres damals scheinen nicht ganz eindeutig gewesen zu sein, so daß es hier niemand fest behaupten möchte, dass die Elevatio wirklich Tatsache war, oder es so schien, als ob sie schwebte.“

In Fällen, bei denen man nicht zuverlässiger beweisen kann als hier, fehlt jede Voraussetzung für die Annahme eines Wunders.

2. Bilokation

Steiner erzählt auch von Thereses Gabe der Bilokation.

„Therese ist, obwohl sie in Konnersreuth oder anderswo zugegen war, gleichzeitig an anderen Orten dritten Personen erschienen. Laut Angabe im erhobenen Ruhezustand war es ihr Schutzengel, der in diesen Fällen ihre Gestalt annahm.“1

Nach Ostern 1929 hielt sich Therese Neumann in Eichstätt auf. Bevor der Kapuzinerpater Ingbert Naab in die Pfalz abreiste, um dort Exerzitien zu halten, bat er Therese um ihr Gebet. Als P. Ingbert in der Pfalz, also etwa 400 km von Konnersreuth entfernt, gerade eine Ansprache hielt, „sah er in der Kirche dreiviertel Stunden lang die Resl in ihrem schwarzen Kleid und weißen Kopftuch hinten stehen“. Therese hatte aber Eichstätt nicht verlassen. Sie hatte nur am ersten Tag der Exerzitien zu ihrer Schwester gesagt: „Heute fängt doch der P. Ingbert mit seinen Exerzitien an. Da wollen wir fest für ihn beten.“2

Wurde sie von P. Ingbert gesehen? War die schwarze Gestalt mit dem weißen Schleier der Schutzengel der Therese Neumann? Am 8. Mai 1931, also zwei Jahre später, hat diese im erhobenen Ruhezustand erklärt, es sei damals ihr Schutzengel gewesen, den P. Ingbert bei einem seiner Vorträge in ihrer Gestalt geschaut habe.

Es ist ausgeschlossen, dass der Schutzengel der Stigmatisierten in der Pfalz einen der Exerzitienvorträge angehört hat. Die Möglichkeit der eigentlichen Bilokation ist unter den Theologen strittig. Würde der Schutzengel die Gestalt eines bestimmten Menschen annehmen, so könnte man überhaupt nicht von einer Bilokation eines Menschen sprechen; dieser wäre ja vollkommen unbeteiligt. Therese Neumann gab auch erst später ihre bekannte Erläuterung ab. Auch wenn der Schutzengel in ihrer Gestalt dem P. Ingbert erschienen wäre, was hätte er damit bezwecken wollen? Ein Engel braucht keinen religiösen Zuspruch und keine seelische Aufmunterung durch einen Menschen. Andererseits: Was hätte P. Ingbert oder sonst jemand durch die Erscheinung gewinnen sollen?

Der Mitteilung durch Pfarrer Naber verdankt Boniface das Wissen um einen anderen Fall von „Bilokation“3: „Ein Arbeiter aus der Gegend von Konnersreuth war trostlos geworden; nach zahlreichen vergeblichen Versuchen, wieder in Arbeit zu kommen, beschloß er, sich das Leben zu nehmen. Er wollte sich unter einen fahrenden Zug werfen.“ Nachts suchte er sich eine einsame Stelle im Wald aus. Schon brauste der Zug heran. „Da fühlte er sich plötzlich von einer festen Hand zurückgezogen. ... Therese stand vor ihm, sah ihn mitleidsvoll an und zeigte ihm die Wundmale ihrer Hände. ... Er ließ sich durch Therese überreden, Pfarrer Naber aufzusuchen, ihm seine Not zu klagen und ihn um Rat zu befragen.“ - Man wird hellhörig wenn man die Anweisung liest, Pfarrer Naber müsse aufgesucht und um Rat gefragt werden.

Wie Pfarrer Naber in seinem Tagebuch schreibt4, hat ihm am 7. Mai 1931 ein völlig Unbekannter erzählt, er sei Samstags infolge unerträglich scheinender moralischer und wirtschaftlicher Not daran gewesen, sich selbst das Leben zu nehmen. „Da plötzlich sei Therese Neumann vor ihm gewesen und habe ihn gewarnt und dadurch vor dem Selbstmord bewahrt.“

Im gewöhnlichen Zustand erzählte Therese, sie habe am Samstag viel zu leiden gehabt und es sei ihr verzweiflungsvoll zumute gewesen. Aber sie vermag hier noch nicht den Grund für ihr seelisches Leiden anzugeben. Später erst, im erhobenen Ruhezustand, sprach die „Stimme“ , ihr Schutzengel habe ihre Gestalt annehmen und jenen Mann warnen dürfen „weil er etliche Male für das, was der Heiland hier an ihr wirkt, entschieden eingetreten war“ - also eine Belohnung für die Gläubigkeit den Konnersreuther Phänomenen gegenüber! Man möchte eher annehmen, Gott hätte ihn um anderer Verdienste willen gerettet. Merkwürdig, dass er als ein Verteidiger der Stigmatisierten, als ein Mann der an das Wirken Gottes in Konnersreuth mit Entschiedenheit glaubte, verzweifelte und sich das Leben nehmen wolltet bevor er sich hilfesuchend an Therese oder an den Pfarrer gewandt hat.

Beachtung verdient noch ein anderer Umstand. Am Donnerstag, dem 17. Mai 1931, war dieser Mann bei Pfarrer Naber. Am Samstag vorher will er die Erscheinung gehabt haben. Bevor er den Pfarrer aufsuchte, wusste weder dieser noch Therese etwas von dem Ereignis. Erst danach erzählt Therese von ihrer verzweiflungsvollen Stimmung an jenem Samstag, und noch später kommt die Erklärung im erhobenen Ruhezustand, bei dem sie übrigens gleichzeitig die oben angegebene Erläuterung abgab, ihr Schutzengel sei vor zwei Jahren P. Ingbert Naab erschienen. Die beiden Berichte behandeln offensichtlich ein und denselben Fall, und auch der Berichterstatter ist jedes mal der gleiche, nämlich Pfarrer Naber.

Steiner unterhielt sich eines Tages mit Therese Neumann über die Gabe der Bilokation. Dabei versicherte sie ihm, hie und da erhalte sie einen Brief, in dem von solchen Erscheinungen berichtet werde. Sie selber gebe freilich darauf nichts, sondern werfe diese Briefe ins Feuer. „Ein Geistlicher habe ihr geschrieben, er sei beim Zelebrieren sehr gleichgültig gewesen, habe Messstipendien unterschlagen, mit einer Lehrerin ein sündhaftes Verhältnis gehabt. Da habe er einmal beim ersten Umwenden nach der Kommunion in der hl. Messe sie, die Therese, vor sich sitzen sehen, bitterlich weinend, wie sie sich eben die Tränen mit einem Tuche abwischte, wobei er auf der nicht verdeckten Hand das Wundmal gesehen habe. Das habe ihn so ergriffen, dass er sich kaum mehr habe halten können.“ Er habe sich daraufhin gebessert. - Offensichtlich gab aber Therese entgegen ihrer Beteuerung doch etwas auf Briefe, die von außergewöhnlichen Phänomenen sprachen, da sie selbst davon erzählt. Aber kann man wirklich glauben, dass jener Priester sein Sündenbekenntnis einem Brief an Therese Neumann anvertraut hat? Und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, dann wäre sie verpflichtet gewesen zu schweigen.

Einen weiteren „handgreiflichen“ Beweis bringt Boniface5. Er spricht von „einem doppelten Phänomen von Bilokation, das vielleicht in der Geschichte der mystischen Phänomene einzig dasteht.“ Der stigmatisierte Kapuziner P. Pio und Therese Neumann, die sich nie gesehen haben, seien sich doch sehr gut bekannt gewesen. „Sie sollen beide voneinander im Zustand der Bilokation Kenntnis erhalten haben.“ - Nun folgt der „Beweis„: P. Pio habe einem seiner Verehrer vor dessen Reise nach Konnersreuth folgende Botschaft diktiert: „Sagen Sie der guten Therese, dass ich mich ihrer erinnere in Freundschaft vor Unserem Herrn und Heiland, damit sich in ihr der göttliche Wille vollziehe ...“

Kann man aus dem Wort „erinnern“, das vielleicht die Übersetzung eines nicht überlieferten italienischen Ausdrucks ist, die Gabe von Bilokation beweisen? Wie man auf Grund des angegebenen Textes von einem einzig dastehenden mystischen Phänomen, ja von einem doppelten Phänomen der Bilokation sprechen kann, ist unerfindlich.


Nächstes Kapitel

Vorheriges Kapitel

Zum Inhaltsverzeichnis


Namentlich gekennzeichnete Artikel geben die Meinung des Verfassers wieder.

Adresse für technische Anfragen

Letzte Änderung: 31. Dezember 2002