Der Löwe und der Wolf
Am Fuß der wüsten Parther-Felder
Schlug König Löw und Meister Bär
den Richtstuhl auf; das Volk der Wälder
Stand nach der Ordnung um sie her.

Die Kuh erschien zuerst und klagte
Mit heißen Tränen, wie man glaubt,
Ihr Kind, das Kalb, hab', eh' es tagte,
Ein unbekannter Dieb geraubt.

Der Löwe sah umher, zu hören,
Wem sonst davon was wissend sei.
"Ich", sprach der Wolf, "kann heilig schwören,
Herr König, ich war nicht dabei." -

"Und wer verklagt dich?" sprach der König.
"Verleumder", fiel ihm jener ein;
"Ich bin jetzt krank und esse wenig
Und kann es nicht gewesen sein." -

"Schweig", rief der Löwe; "das Gewissen
Läßt einen Buben nirgends ruhn;
Du hast der Kuh ihr Kalb zerrissen,
Der Bär soll dir desgleichen tun."

So starb der Wolf, und, wie man saget,
Verriet sein Bauch, was er getan.
Wer sich entschuldigt, eh' man klaget,
Der gibt sich selbst zum Täter an.

 

Magnus Gottfried Lichtwer


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