Fatima „Erscheinungen“ und „Botschaften“

VI. Gesamtbeurteilung

Im Jahre 1975 hat Kondor das Buch „Schwester Lucia spricht über Fatima“ herausgegeben. Darin veröffentlicht er die Niederschriften, die Lucia in den Jahren 1935, 1937 und 1941 angefertigt hat. Die erläuternden Texte stammen von P. Alonso. In der Einleitung erklärt dieser, es handle sich um „einen wertvollen Text, der die ganze Welt in Staunen versetzen“ werde268. In einer Werbung für die 2. Auflage wird das Buch als „eine Sensation ersten Ranges auf dem religiösen Büchermarkt der Gegenwart“ bezeichnet269. Solche Worte sind bezeichnend für die Sprechweise eines nicht unbedeutenden Teiles jener „mystischen“ Literatur, die das rechte Maß für die Wirklichkeit verloren hat. Mit ähnlichen überschwenglichen Ausdrücken hat man vor ungefähr vierzig Jahren, also um die Zeit, als Lucia ihre „Erinnerungen“ aufgezeichnet hat, auch die außerordentlich weit verbreiteten „Privatoffenbarungen“ der Luisa Piccaretta angepriesen; sie wurden bezeichnet als „eine gewaltige Botschaft Gottes an die Menschheit, bedeutungsvoll, groß, beglückend, wie noch keine Zeit sie vernommen hat“. Weiter wurde gesagt: „Die göttliche Vorsehung scheint diese Offenbarungen unserer kranken Zeit vorbehalten zu haben als einziges Heilmittel für die Völker.“270 Welch wahrer Wert diesen Privatoffenbarungen in Wirklichkeit zukommt, zeigt die Tatsache, daß am 13. Juli 1938 das „Heilige Offizium“ in Rom die drei Broschüren der Seherin, in denen die angeblich übernatürlichen Offenbarungen verbreitet wurden, auf den Index der kirchlich verbotenen Bücher gesetzt hat. Der „Osservatore Romano“ erklärte am 11. September 1938, die drei Bücher verdienten „ihres wertlosen Inhaltes wegen keine Beachtung“271.

Man muß die Ereignisse in Fatima im Zusammenhang mit anderen „Privatoffenbarungen“ sehen; wir finden in ihnen immer wieder interessante Parallelen. Auch diese müßten uns Warnung sein vor unkritischer Leichtgläubigkeit und Wundersucht. Wenn wir bloß die Zeit seit 1917 bis in die Gegenwart ins Auge fassen, so stellen wir fest, daß in dieser kurzen Epoche von Dutzenden und Aberdutzenden von himmlischen Offenbarungen berichtet wurde. Ja, ein Sekretär der Päpstlichen Kurie hat vor nicht langer Zeit gesagt: „Es gibt 200 fast ausschließlich weibliche Visionäre in Italien, die behaupten, die Madonna zu sehen und Botschaften zu empfangen. Wo kämen wir hin, wenn wir sie alle ernst nähmen.“ 272

Nach dem Zweiten Weltkrieg war viel die Rede von Marienbotschaften in Heroldsbach und Garabandal. Am 14. Dezember 1975 brachte die „Neue Bildpost“ einen Artikel über das in Spanien gelegene Garabandal. Darin wird auch ein Bild veröffentlicht, das zwei Seherkinder „während einer Ekstase“ zeigt; die beiden Mädchen blicken verzückt nach oben. Was haben sie wohl geschaut? Worin unterscheiden sich ihre Ekstasen von jenen der Seher von Fatima oder anderer Orte? Die Erscheinungen und Botschaften von Heroldsbach und Garabandal wurden von den zuständigen kirchlichen Behörden als unecht bezeichnet, neben anderen wichtig Gründen wegen der Albernheiten in den kindlichen Aussagen, welche den psychologischen Ursprung der „Erscheinungen“ deutlich verraten. Trotz der klaren kirchlichen Stellungnahmen reißt der Strom von Wallfahrern nicht ab. Überdenkt man die Dinge genauer, dann kommt man nicht an der Frage vorbei: Wo liegt die Grenze zwischen Fatima auf der einen und Garabandal oder Heroldsbach auf der anderen Seite?

Großes Aufsehen haben vor allem in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts angebliche Muttergotteserscheinungen in einer Reihe von belgischen Orten gemacht. Zwei dieser Orte haben es zu kirchlich anerkannten Wallfahrtsstätten gebracht. Dazu gehört das in der Provinz Namur gelegene Städtchen Beauraing, wo die Muttergottes Ende 1932 und Anfang 1933 wiederholt fünf Kindern erschienen sein soll. In den Abendstunden, als es schon längst dunkel geworden war, befanden sich vier Kinder des Ortes auf dem Weg zum Pensionat der Schulschwestern, um ein dreizehnjähriges Mädchen abzuholen. Der elfjährige Albert Voisin läutete an der Pforte des Pensionates; plötzlich drehte er sich um und rief: „Seht doch, da geht die Mutter Gottes über die Brücke!“ Die begleitenden Kinder widersprachen zunächst und erklärten, Albert habe sich durch den Lichtschein der auf der Straße fahrenden Autos täuschen lassen. Aber Albert blieb bei seiner Behauptung, und siehe da, die drei Mädchen in seiner Begleitung glaubten nun auch ihrerseits, „ein leuchtendes Bild“ zu sehen.273 In den folgenden Tagen erblickten die Kinder die Madonna bald in einem Dornbusch, bald in anderen Sträuchern am Eingang des Pensionates. Nur ab und zu sprach die Erscheinung etwas. Am 12. Dezember 1932 vernahmen die Kinder die ersten Worte aus dem Munde Mariens. Auf die Frage, ob sie die „Unbefleckte Jungfrau“ sei, antwortete sie lediglich mit einem „bejahenden Kopfnicken“. Auf die weitere Frage der Kinder, was sie wolle, erwiderte sie: „Daß ihr artig seid.“ Maria stellte auch ihrerseits eine Frage, nämlich: „Ist es bestimmt wahr, daß ihr immer artig sein werdet?“274 Als am 4. Dezember 1932 Albert Voisin um die Heilung eines kleinen Mädchens bat, antwortete Maria nicht, sie lächelte bloß „sehr“. Gilberte Voisin richtete am 17. Dezember an die Muttergottes die Frage, was sie wünsche. Die Antwort lautete: „eine Kapelle“. Die am 21. Dezember an die Madonna gerichtete Frage, wer sie sei, beantwortete sie mit den Worten: „Ich bin die Unbefleckte Jungfrau.“ Zwei Tage darauf äußerte sie ihren Wunsch, man solle zu dem Ort der Erscheinung wallfahren. Während der Erscheinung am 30. Dezember zeigte Maria ihr „goldenes Herz“; ihre Worte lauteten: „Betet! Betet viel!“ Ähnlich sprach sie am 1. Januar 1933: „Betet! Betet immer!“

Nicht jedesmal sahen die Kinder an den einzelnen Erscheinungstagen das gleiche. Manchmal erblickte auch nur das eine oder andere Kind die Frau. Am 3. Januar 1933 schließlich vertraute die Muttergottes jedem einzelnen Kind ein Geheimnis an. Das Abschiedswort an Gilberte Degeimbre und Albert Voisin lautete: „Adieu!“ Gilberte Voisin vernahm die Worte: „Ich werde die Sünder bekehren. Adieu!“ Zu Andree Degeimbre sprach Maria: „Ich bin die Mutter Gottes, die Königin des Himmels. Betet allezeit! Adieu!“ Fernande Voisin erblickte zunächst „eine dicke, langlichrunde Kugel, eine feurige Kugel, die zerplatzte“. Danach zeigte sich die heilige Jungfrau und fragte: „Liebst du meinen Sohn?“ Auf die bejahende Antwort fragte die Dame weiter: „Liebst du mich?“ Wiederum bejahte Fernande die Frage. Maria antwortete: „Dann opfere dich für mich!“ Sie verabschiedete sich mit einem „Adieu!“

Die Erscheinungen in Beauraing wurden von der zuständigen kirchlichen Behörde als echt bezeichnet; am 7. Dezember 1942 wurde vom Heiligen Offizium in Rom der Kult an dem Erscheinungsort gestattet275. Nur kurze Zeit nach den Ereignissen in Beauraing offenbarte sich die Muttergottes in dem wallonischen Dorf Banneux. In der Zeit zwischen dem 15. Januar und dem 2. März 1933 soll hier Maria dem zwölfjährigen Mädchen Mariette Beco neunmal jeweils am Abend gegen 19 Uhr erschienen sein. Die Eltern des Kindes werden als nichtpraktizierende Katholiken bezeichnet. Die Mutter war „religiös sehr gleichgültig“; sie besuchte nie einen Gottesdienst, ja, „sie konnte nicht einmal die üblichen Gebete“. Ihr Ehemann, der im 34. Lebensjahre stand, war seit seiner Erstkommunion „der Kirche und allen religiösen Übungen ferngeblieben, hatte also den Glauben vollständig verloren“. Ihre Tochter Mariette besuchte den Religionsunterricht wochenlang überhaupt nicht, und trotz wiederholter Mahnungen durch den Ortspfarrer wohnte sie auch nur ganz selten der heiligen Messe bei. Sie soll aber wöchentlich einmal einen Rosenkranz gebetet habe. Die Erscheinungen begannen am 15. Januar 1933. Mariette erblickte abends gegen 19 Uhr, als sie am Küchenfenster stand und auf das kleine Gärtchen hinaus zur Straße blickte, eine etwas über dem Boden schwebende Gestalt. Diese hat nichts gesprochen, sie hat lediglich „einen Augenblick“ lang die Lippen bewegt. Mariette berichtete darüber sofort ihrer Mutter, die meinte: „Das ist gewiß die heilige Jungfrau.“ Die zweite Erscheinung der Muttergottes erfolgte bei einer nahen, am Straßenrand gelegenen Quelle. Die wunderbare Dame forderte das Mädchen auf, es solle seine Hände ins Wasser tauchen; außerdem sagte sie: „Diese Quelle ist mir vorbehalten! Guten Abend! Auf Wiedersehen!“ Bei der dritten Erscheinung am 19. Januar fragte Mariette die Frau, wer sie sei. Diese antwortete: „Ich bin die Jungfrau der Armen!“ Auf die weitere Frage, was ihre am 18. Januar gesprochenen Worte bedeuteten, antwortete sie: „Für alle Völker, für die Kranken! Ich werde den Kranken helfen.“ Bevor Maria verschwand, sprach sie: „Ich werde für dich beten! Auf Wiedersehen!“ Am 20. Januar äußerte die Madonna ihren Wunsch, daß eine Kapelle gebaut werde. Die Worte, die sie am 11. Februar sprach, lauteten: „Ich komme, um das Leid zu lindern! Auf Wiedersehen!“ Als Mariette am 15. Februar um ein Wunderzeichen bat, antwortete die Muttergottes bloß: „Glaubet an mich und ich werde an euch glauben! Betet viel!“ Sie verabschiedete sich mit den Worten: „Auf Wiedersehen!“ Die am 20. Februar zu Mariette gesprochenen Worte lauteten: „Mein liebes Kind! Bete viel! Auf Wiedersehen!“ Die letzte Erscheinung fand am 2. März 1933 statt. Maria sprach beim Abschied: „Ich bin die Mutter des Erlösers, die Mutter Gottes! Bete viel!“

Über das wunderbare Geschehen in Banneux wurde der zuständige Bischof von Lüttich, Msgr. Louis informiert. Er erklärte sich mit Veröffentlichungen über die Ereignisse einverstanden und gestattete Wallfahrten und den Bau einer Kapelle, für die bereits am 25. Mai 1933 der Grundstein gelegt wurde276.

Was ist von den Erscheinungen in Beauraing und Bannex zu halten? Abgesehen von anderen Dingen muß man hinsichtlich der von der „Muttergottes“ gesprochenen Worte sagen: Sie sind derart banal, daß man nicht verstehen kann, wie die zuständigen Bischöfe und auch Rom zu der Oberzeugung kommen konnten, es handle sich um übernatürliche Offenbarungen. Daß der Anstoß zu den Erscheinungen in Banneux von Beauraing ausgegangen ist, scheint sicher. Mariette Beco hatte wohl von den Ereignissen in Beauraing reden hören. Es fällt auf, daß sie versichert hat, die Muttergottes sei jedesmal von einem nahen Wäldchen her aus der Richtung von Beauraing gekommen277.

Belgien kennt außer den genannten noch eine Reihe von anderen Orten, die der dort aufgetretenen „Erscheinungen“ wegen von sich reden machten, zum Beispiel Onkerzeele und Lokeren. übrigens behaupteten in Beauraing neben den fünf Seherkindern auch noch andere Personen, „etwas gesehen zu haben“. Zwischen 1945 und 1959 soll außerdem Maria einer Frau in Amsterdam rund sechzigmal erschienen sein. Die Muttergottes verlangte am 10. Mai 1955, von nun an solle sie „als Miterlöserin, Mittlerin und Fürsprecherin“ bezeichnet werden, und zwar unter dem Titel „Frau aller Völker“.278 Von den zuständigen Bischöfen und von der Römischen Kurie wurde nur den kurz geschilderten Erscheinungen in Beauraing und Banneux ein übernatürlicher Charakter zugesprochen279. Man kann sich vorstellen, wie vergleichsweise die „Erscheinungen“ und „Botschaften“ an den anderen Orten ausgesehen haben müssen. Bezeichnend ist, was Arthur Monin im Zusammenhang mit den Begebenheiten in Beauraing erwähnt. Er verweist auf die bischöfliche Kommission, welche die verschiedenen Einwände gegen die Echtheit der Erscheinungen geprüft hat, und sagt: „Die Kommission stellte bei solchen Zeugen, die als Gegner auftraten, einen Mangel an Ernst und sogar eine unbegreifliche Voreingenommenheit fest.“280 Bei den wundersüchtigen Zeugen hat demnach die bischöfliche Kommission solche Mängel nicht entdeckt!

Man geht kaum fehl in der Annahme, daß zum mindesten der größte Teil der „Marienerscheinungen“ unseres Jahrhunderts ihre Anregungen von Fatima her erhalten hat. In Fatima selber hat offenbar Lucia den Anstoß gegeben, daß die beiden anderen Kinder zu „Sehern“ geworden sind. Es muß beachtet werden, daß im Vergleich zu ihr Jacinta und Francisco nur eine unbedeutende Rolle gespielt haben und daß sie von dem älteren Mädchen beeinflußt und gelenkt worden sind. Fest steht, daß die Mutter Maria Rosa dos Santos ihrer Tochter Lucia und deren Geschwistern bereits vor dem Jahr 1917 von den Erscheinungen von La Salette erzählt hat281. Ohne Zweifel hat die zehnjährige Lucia mit ihren Gespielen beim Hüten der Schafe über die Erscheinungen in Frankreich gesprochen. Von da her kam wohl der entscheidende Anstoß zu den „wunderbaren Ereignissen“. Daß aus dem Rinnsal ein Riesenstrom geworden ist, das ist in der Hauptsache die Schuld der zuständigen kirchlichen Behörden.

In La Salette soll Maria am 19. September 1846, also zwölf Jahre vor den Erscheinungen in Lourdes, zwei aus dem in den (französischen Alpen gelegenen Ort Corps stammenden Kindern erschienen sein, nämlich der dreizehnjährigen Melanie Calvat und dem neunjährigen Maximin Giraud. Der am 27. August 1837 geborene Maximin konnte wie Melanie weder lesen noch schreiben. Er sprach nur die in seiner Heimat gewohnte Mundart, das Patois; von der französischen Sprache verstand er bloß einige Brocken. Sein religiöses Wissen beschränkte sich auf das Hersagen des „Vaterunsers“ und des „Ave Maria“; diese Gebete hatte ihm, wie Höcht schreibt, sein Vater in dreijähriger mühevoller Anstrengung beigebracht282.

Ein außerordentlich negatives Urteil über Maximin hat Msgr. Dupanloup abgegeben. Er hat im Jahre 1849 nach einem Besuch von La Salette erklärt: „Ich habe viele Jungen in meinem Leben gesehen, aber wenige, die mir einen so unangenehmen Eindruck machten. Sein Benehmen, sein Mienenspiel, sein Blick, seine ganze äußere Erscheinung ist widerwärtig, wenigstens für mich. ... Maximins Grobschlächtigkeit ist sonst nicht oft anzutreffen; vor allem aber fällt seine Unruhe auf. Er hat einen eigenartigen Charakter, ist extravagant, unruhig, leichtsinnig,und zwar auf eine so grobe Art leichtsinnig; er ist manchmal von einer so gewalttätigen Unruhe, von einer so unerträglichen Absonderlichkeit, daß er gleich vom ersten Tag an, da ich ihn sah, mich nicht nur in Bekümmernis, sondern geradezu in Mutlosigkeit versetzte.“283

Die am 9. November 1833 geborene Melanie Calvat war noch unwissender als Maximin. Sie verstand ebenfalls bloß die heimatliche Mundart; die Worte des „Vaterunsers“ konnte sie „nur mit Mühe“ hersagen, ohne deren Sinn zu erfassen; „noch nie hatte sie einen Fuß in die Schule gesetzt und kaum noch eine Kirche betreten; über andere, die beteten, machte sie sich bloß lustig284. Sie hatte ein schlechtes Gedächtnis und war „sehr schwerfällig und primitiv in ihrer Art“. Von beiden Kindern wird gesagt, sie seien in religiöser Hinsicht „fast ohne Ehrfurcht“ gewesen285.

Auch ihr späteres Leben war keineswegs von einer Art, wie man es bei besonders begnadeten Menschen vermutet. Melanie trat zunächst in ein Kloster in der Diözese Grenoble ein, wurde aber nicht zur Profeß zugelassen, „da sie zwar wegen ihrer Frömmigkeit von ihren Mitschwestern geachtet wurde, dennoch einen gewissen Eigensinn bewahrte“. Nun begab sie sich nach England, wo sie bei den Karmelitinnen in Darlington Aufnahme fand. Um wieder aus dem Kloster entlassen zu werden, wandte sie „sehr gewagte Mittel an“286. Anschließend weilte sie in verschiedenen Klöstern Frankreichs, bis sie schließlich endgültig entlassen wurde. Der Hauptgrund hierfür bestand darin, daß sie sich trotz eines ausdrücklichen Verbotes immer wieder als Seherin von La Salette vorgestellt hatte. Nach der Entlassung aus dem Kloster begab sich Melanie nach Italien, wo sie sich unter die geistliche Leitung verschiedener Prälaten stellte. Nach einem unruhigen Wanderleben starb sie am 15. Dezember 1904 eines plötzlichen Todes287.

Maximins Lebenslauf war nicht glücklicher. Er trat zunächst in ein Priesterseminar ein, wurde aber wieder entlassen. Auch ein zweites, von Jesuiten geleitetes Seminar, wohin man ihn gebracht hatte, behielt ihn nicht. Vorübergehend war er als Angestellter tätig. Schließlich versuchte er Medizin zu studieren; „aber die mangelnde Intelligenz verhinderte das“. Dann trat er in das Korps der päpstlichen Zuaven ein; aber er hielt es dort nicht lange aus. Später hielt er sich wieder in Frankreich auf, wo er am Deutsch­Französischen Krieg teilnahm. Dann versuchte er sein Glück als Likörfabrikant. Er nannte seinen Likör „Salettine“; die Flaschen versah er mit dem Etikett, das den Namen und das Bild des Sehers Maximin trug. Der Beruf als Likörfabrikant machte ihn selbst zum Trinker. Am 1. März 1874 starb er in seiner Heimat Corps288.

Das wunderbare Ereignis im Leben der beiden Hirtenkinder von La Salette spielte sich am Nachmittag des 19. September 1846 ab, an dem sie plötzlich eine von Lichtglanz umgebene Dame erblickten. Weinend beklagte sich diese über die unbußfertigen Menschen und verkündete anschließend jedem einzelnen Kind ein Geheimnis. Am Tag darauf, einem Sonntag, berichteten die Kinder ihr Erlebnis dem Pfarrer von La Salette. Dieser gab sofort während des Gottesdienstes ihren Bericht unter Tränen öffentlich bekannt, wobei er bemerkte, er sei überzeugt, daß die wunderbare Dame die Muttergottes sei. Bereits in den beiden folgenden Jahren besuchten nicht weniger als 300.000 Pilger den Ort der Erscheinung.

Obwohl die Kinder bloß die heimatliche Mundart verstanden, sprach die Erscheinung in der Hauptsache nur französisch. Trotzdem vermochten die Kinder den Inhalt der Worte im Gedächtnis zu behalten. Die Botschaft der Dame besteht aus zwei Teilen. Der erste, kleinere Teil hat zum Inhalt eine ernste Aufforderung zur Beobachtung der drei ersten Gebote Gottes. Darüber berichteten die Kinder bereits eingehender bei einem Ende Februar 1847 vorgenommenen Verhör durch einen aus Corps stammenden Priester. Beim Hauptteil der Botschaft handelt es sich um ein Geheimnis, das Maria den Kindern einzeln anvertraute, wobei jeweils nur das angesprochene Kind ihre Worte vernahm. Der zweite Teil wird als „Große Botschaft“ oder als „Geheimnis von La Salette“ bezeichnet.

Als Maria die „Große Botschaft“ verkündete, gebrauchte sie ausschließlich.die französische Sprache. Beim ersten Teil ihrer Rede, in der sie auf die Erfüllung der Gebote Gottes hinwies, redete sie zuerst in Französisch, dann aber wiederholte sie die Worte in der von der Bevölkerung von Corps gesprochenen Mundart. Sie tat dies nach den Worten: „Wenn die Ernte verdirbt, geschieht es um euretwegen. Ich habe es euch letztes Jahr mit den Kartoffeln zu verstehen gegeben; ihr habt euch nichts daraus gemacht. ... Sie werden weiter faulen und an Weihnachten werden keine mehr da sein.“289 Die Wiederholung der Worte geschah deshalb, weil die Kinder das Wort „pommes de terre“ (Kartoffeln} nicht verstanden hatten.

Besonders bemerkenswert erscheint der Wortlaut, mit dem sich die Dame über die Mißachtung des dritten göttlichen Gebotes beklagte. Hier setzt sie sich geradezu an die Stelle Gottes, wenn sie erklärt: „Ich habe euch sechs Tage zum Arbeiten gegeben, und ich habe mir den siebenten vorbehalten, und man will ihn mir nicht gewähren; das ist es, was den Arm meines Sohnes so schwer macht.“290

Angeblich hat die Muttergottes am 19. September 1846 von den Kindern verlangt, sie dürften das empfangene Geheimnis erst vom Jahr 1858 an bekannt machen. Daß dies jedoch bereits im Jahre 1851 geschah, daran war der heilige Pfarrer Johannes Maria Vianney von Ars schuld. Im Herbst 1850 wurde Maximin zum Pfarrer von Ars gebracht, damit der Heilige mit ihm rede. Zwei mal trafen der Pfarrer und Maximin zusammen. Die erste Unterredung fand in der Sakristei der Kirche statt, die zweite hinter dem Altar, wo Maximin offenbar beichtete. Der Seher hinterließ in Ars offensichtlich keinen besseren Eindruck, als ihn Msgr. Dupanloup geschildert hat. Seit der Unterredung mit Maximin lehnte Pfarrer Vianney es ab, Bilder von La Salette zu unterschreiben und Medaillen von dem Wallfahrtsort zu verteilen, womit er zu erkennen gab, daß er nicht mehr an die Echtheit der behaupteten Erscheinungen glaubte. Wenn er um Aufklärung gebeten wurde, antwortete er stets in gleichem Sinne: „Wenn das, was mir der Junge gesagt hat, wahr ist, kann man nicht mehr an die Erscheinung glauben.“291 Eines Tages fragten einige Priester den Pfarrer von Ars um sein Urteil. Der Pfarrer antwortete: „Wenn Maximin mich nicht betrogen hat, so hat er die Muttergottes nicht gesehen.“ Im weiteren Gespräch erklärte der Pfarrer: „Der Knabe hat mir gesagt, daß es nicht wahr sei; er habe nichts gesehen.“ Als Maximin während der Unterredung in Ars vom Pfarrer aufgefordert wurde, er müsse widerrufen, antwortete er: „Das ist nicht notwendig, das tut dem Volk gut. Viele bekehren sich.“ Dann fügte er hinzu: „Ich möchte eine Generalbeichte ablegen und in ein Kloster eintreten. Wenn ich dann im Kloster bin, sage ich einfach, daß ich alles gesagt habe und ich dem nichts mehr hinzuzufügen habe.“292

Als der Bischof von Grenoble hörte, was sich in Ars ereignet hatte, zitierte er Maximin und stellte ihn zur Rede. In die Enge getrieben, kehrte der Junge wieder zu seinen früheren Aussagen zurück. Seine Beteuerungen vor dem Bischof stehen offensichtlich im Widerspruch zu seinem Geständnis vor dem Pfarrer von Ars. Vergleicht man noch dazu, wie er sich zu anderen Zeiten vor verschiedenen Personen geäußert hat, dann versteht man das Urteil: „Dieser Junge hatte eine starke Leichtigkeit, Lügen zu erfinden.“293

Der Bischof von Grenoble hat bald nach den Ereignissen in Ars die beiden Seherkinder, die inzwischen Lesen und Schreiben gelernt hatten, immer wieder nachdrücklich aufgefordert, sie möchten ihr Geheimnis für den Papst aufschreiben. Sie taten dies am 2. bzw. 3. Juli 1851. Am 19. Juli 1851 las Papst Pius IX. die Aufzeichnungen. „Er ließ durchblicken, daß die angekündigten Unheile Frankreich betreffen; aber er fügte hinzu, daß das übrige Europa sehr wohl einen Teil an den vorhergesagten Züchtigungen verdiene.“294 Bereits zwei Monate später erließ der Bischof von Grenoble einen Hirtenbrief, in dem er die Ereignisse von La Salette als übernatürlich erklärte295. Dies tat der Bischof, obwohl sich der Seher Maximin wiederholt in Widersprüche verwickelt hatte, obwohl sein Leumund durchaus nicht als gut bezeichnet werden kann. Es läßt sich denken, in welch schwere Gewissensnöte der Pfarrer von Ars gekommen ist, als ein bischöfliches Dekret erschien, das dem Klerus verbot, Zweifel an der Echtheit der Erscheinungen von La Salette zu äußern. „Ja, schon vor dem Erscheinen dieses Dekrets hatte die kirchliche Behörde verschiedene Male dem Pfarrer von Ars befohlen, nicht wieder gegen die Erscheinung zu sprechen.“ Acht Jahre hindurch bereiteten die Geschehnisse dem Pfarrer von Ars schwere innere Qualen. Erst in seinem letzten Lebensjahr, „da er vom inneren Kampf schon ganz verwirrt war“, kam ihm des Nachts der Einfall, er würde wieder ruhig werden, wenn er einen Akt blinden Glaubens setzen würde, Und so Schrie er: „Ich. glaube!“ „Diese Autosuggestion hatte tatsachlich einen großartigen Erfolg, und ein paar Zufälligkeiten — der Besuch eines Pfarrers, der ihn zu sehen wünschte, das Finden einiger Geldstücke..., die er notwendig brauchte — wurden als eine Bestätigung des Himmels für jenen gegen alle Evidenz und Vernunft gemachten Glaubensakt angesehen.“296

Der von den Kindern im Jahre 1851 aufgezeichnete Text des „Geheimnisses von La Salette ist im Vatikan verlorengegangen“297. Im Jahr 1879 hat dann Melanie noch einmal Aufzeichnungen gemacht. Diese wurden erstmals im Jahr 1895 veröffentlicht und zwar durch Graf von Zola, den Bischof von Lecce. In dieser Veröffentlichung erscheinen noch weitere, erst nach 1879 hinzugefügte Angaben. So erklärt sich, daß nun auch Ereignisse erwähnt werden, die die „Seherin“ 1879 noch nicht wissen konnte.

Die „Große Botschaft“ oder das „Geheimnis von La Salette“ füllt ungefähr sieben Buchseiten. Was hat das Geheimnis zum Inhalt? In dem durch Maximin am 1. März 1851 niedergeschriebenen Text soll die Rede gewesen sein von „der kurzen Zeit der wiederhergestellten Ordnung und kirchlichen Blüte, welche auf die nahen Katastrophen folgen soll.“298 Die im Jahr 1879 durch Melanie bekanntgegebene „Offenbarung“ hat zwei Teile. Der erste Teil bezieht sich auf die Ereignisse von 1859 bis zum Auftreten des Großen Monarchen, der „als die rechte Hand eines großen Papstes die Feinde der Kirche zurückdrängt und 25 Jahre lang eine Zeit allgemeiner Ruhe schafft“. Der zweite Teil behandelt die folgende Periode bis zum Letzten Weltgericht299. Der Text spricht von Irrlehren, von kommenden Strafgerichten, Revolutionen und Kriegen, die ganze Völker vernichten würden. Dann ist die Rede von einem Vorläufer des Antichrist und schließlich vom Erscheinen des großen Widersachers Christi. Aber auch den Sturz des Antichrist, den Triumph der Kirche, das Ende der Zeiten und die endgültige Erneuerung der Menschheit schildert die Botschaft.

Der wichtigste Inhalt der „Großen Botschaft“ lautet:

„Melanie, was ich Dir jetzt sagen werde, wird nicht immer verborgen sein; Du kannst es veröffentlichen im Jahre 1858.

Gott steht auf dem Punkt, auf eine beispiellose Art zu schlagen.

Wehe den Bewohnern der Erde! Gott wird seinen ganzen Zorn ausschütten und niemand wird sich so vielen vereinten übeln entziehen können. ... Gott wird die Menschen sich selbst überlassen und Strafen schicken, welche nach mehr als fünfunddreißig Jahren folgen werden.

Die Gesellschaft steht am Vorabend der schrecklichsten Geißeln und der größten Ereignisse. ...

Der Statthalter meines Sohnes, Papst Pius IX., soll nach dem Jahre 1859 nicht mehr aus Rom gehen. ... Er mißtraue Napoleon, sein Herz ist doppelt, und wenn er zugleich wird Papst und Kaiser sein wollen, wird Gott sich bald von ihm zurückziehen: er ist der Adler, der immer aufwärts strebend in das Schwert stürzen wird, dessen er sich bedienen wollte, um die Völker zu nötigen, ihn emporsteigen zu lassen.

Italien wird gestraft werden für seinen Übermut, womit es das Joch des Herrn abschütteln will. Es wird dem Krieg überantwortet werden: das Blut wird fließen nach allen Seiten: die Kirchen werden geschlossen oder profaniert, die Priester, die Ordensleute werden vertrieben, man wird sie töten und grausam töten. ...

Möge sich der Papst hüten vor den Wundermachern; denn die Zeit ist gekommen, daß die überraschendsten Scheinwunder auf der Erde und in den Lüften geschehen werden.

Im Jahre 1864 wird Lucifer mit einer großen Zahl von Dämonen losgelassen werden; sie werden nach und nach den Glauben wegschaffen, und selbst in gottgeweihten Personen. ...

Die schlechten Bücher werden zahlreich sein auf der Erde und die Geister der Finsternis werden allenthalben eine allgemeine Erschlaffung verbreiten für alles, was den Dienst Gottes betrifft. ... Es wird Kirchen geben, um diesen Geistern zu dienen.

Personen werden durch die bösen Geister von einem Ort zum anderen getragen werden. ...

Man wird Tote und (zwar) Gerechte wieder auferwecken, das heißt, bewirken, daß Dämonen in der Gestalt von Gerechten, welche früher auf Erden lebten, erscheinen, um die Menschen besser zu verführen; diese sogenannten Auferstandenen, die nichts als Dämonen in Gestalt von jenen Menschen sind oder auch die Seelen Verdammter, werden ein anderes Evangelium predigen, welches demjenigen Jesu Christi entgegengesetzt ist... .

Der Heilige Vater wird viel leiden... .Die Bösen werden mehrmals sein Leben angreifen, ohne seinen Tagen schaden zu können; aber weder er noch sein Nachfolger, der nur kurze Zeit regiert, wird den Triumph der Kirche Gottes sehen.

Die weltlichen Regierungen werden alle eine gleiche Absicht haben, nämlich jedes religiöse Prinzip abzuschaffen und zu beseitigen, um Platz zu machen dem Materialismus, dem Atheismus, dem Spiritismus und allen Arten von Lastern.

Im Jahre 1865 wird man den Greuel an heiligen Orten sehen. ...Frankreich, Italien, Spanien und England werden im Kriege sein; das Blut wird in den Straßen fließen; der Franzose wird sich mit dem Franzosen schlagen, der Italiener mit dem Italiener; es wird darauf einen allgemeinen Krieg geben, der furchtbar sein wird. ...

Paris wird verbrannt und Marseille verschlungen werden: mehrere große Städte werden erschüttert und durch Erdbeben verschlungen man wird glauben, daß alles verloren ist: man wird nur Morde sehen, nur Waffenlärm und Gotteslästerungen hören. ... Dann wird Jesus Christus durch einen Akt seiner Gerechtigkeit und seiner großen Barmherzigkeit für die Gerechten seinen Engeln befehlen, daß alle seine Feinde getötet werden. Sofort, plötzlich werden die Verfolger Jesu Christi und alle (unbußfertig) der Sünde ergebenen Menschen untergehen und die Erde wird wie eine Wüste werden. Dann wird der Friede gemacht. ...

Dieser Friede unter den Menschen wird nicht lang sein: fünfundzwanzig Jahre reicher Ernten werden sie vergessen lassen, daß die Sünden der Menschen die Ursache aller Übel sind, welche über die Erde kommen.

Ein Vorläufer des Antichrist mit seinen Truppen aus mehreren Nationen wird gegen den wahren Christus, den einzigen Erlöser der Welt kämpfen; er wird viel Blut vergießen und die Verehrung Gottes abschaffen wollen, um sich als einen Gott ansehen zu lassen.

Die Erde wird mit allen Arten von Plagen geschlagen werden außer Pest und Hunger, die allgemein sein werden; es wird Kriege geben bis zu dem letzten Krieg, den die zehn Könige des Antichrist machen, welche alle eine gleiche Absicht haben und allein die Welt regieren werden... .

Zittert, Erde, und ihr, die ihr Jesu Christo zu dienen bekennet, aber im Innern euch selbst anbetet, zittert! Denn Gott wird euch seinem Feind übergeben, weil die heiligen Stätten in der Verderbnis sind... .

In dieser Zeit wird der Antichrist geboren werden von einer Klosterfrau hebräischer Herkunft, einer falschen Jungfrau, die Verkehr mit der alten Schlange haben wird, mit dem Meister der Unreinheit; sein Vater wird ein Bischof sein. Bei seiner Geburt speit er Gotteslästerungen aus und hat Zähne; mit einem Wort, er wird der eingefleischte Teufel sein... .Er wird Brüder haben, welche nicht zwar wie er, eingefleischte Teufel, aber Kinder des Bösen sind; mit zwölf Jahren werden sie sich durch mächtige Siege bemerklich machen, die sie erringen werden; bald werden sie an der Spitze von Armeen sein, unter- stützt von den Legionen der Hölle... .

Rom wird den Glauben verlieren und der Sitz des Antichrist werden.

Die Dämonen der Luft mit dem Antichrist werden große Scheinwunder wirken auf der Erde und in den Lüften, und die Menschen werden sich mehr und mehr verkehren. Gott wird sorgen für seine getreuen Diener und für die Menschen guten Willens; das Evangelium wird überall gepredigt; alle Völker und alle Nationen werden die Erkenntnis der Wahrheit haben... .

Die Kirche wird verfinstert, die Welt wird in Bestürzung sein. Aber siehe da Henoch und Elias, welche mit dem Geiste Gottes erfüllt sind; sie werden predigen mit der Kraft Gottes. ...

Wehe den Bewohnern der Erde! Es wird blutige Kriege und Hungersnöte, Pesten und ansteckende Krankheiten geben; es wird Regengüsse geben mit einem schrecklichen Krieg der Tiere; Donner und Erdbeben werden Städte erschüttern und Länder verschlingen; man wird Stimmen in den Lüften hören; die Menschen werden die Köpfe an Mauern schlagen, sie werden den Tod herbeirufen. ... Henoch und Elias werden getötet, das heidnisch gewordene Rom wird verschwinden, das Feuer wird vom Himmel fallen und drei Städte verzehren; die ganze Welt wird mit Schrecken geschlagen werden und viele werden sich verführen lassen, weil sie den unter ihnen lebenden Christus nicht anbeteten.

Es ist Zeit; der Abgrund öffnet sich. Sieh den König der Könige der Finsternis! Siehe das Tier mit seinen Untertanen, das sich den Erlöser der Welt nennt! Es wird sich stolz in die Lüfte erheben, um zum Himmel aufzusteigen; es wird erstickt werden durch den Hauch des heiligen Michael, des Erzengels. Es wird fallen auf die Erde, welche seit drei Tagen in stetigen Bewegungen sein wird, wird öffnen ihren Schoß von Feuer; es wird mit all den Seinigen auf ewig hinabestürzt in die ewigen Abgründe der Hölle. ...Dann wird man Gott dienen und ihn verherrlichen.“300

Was ist von diesen „Prophezeiungen“ zu halten? Zunächst muß daran erinnert werden, daß Melanie die uns überlieferte „Große Botschaft“ erst 1879 aufgezeichnet und später mit Zusätzen versehen hat. Wenn man bedenkt, daß sie im Jahr 1846 noch kaum ein Wort Französisch verstand und daß sie überdies ein schlechtes Gedächtnis hatte, dann kann man sich nur wundern, wieso sie Jahrzehnte später eine so lange, in einer ihr unbekannten Sprache mitgeteilte Botschaft wiederzugeben vermochte. Im Jahr 1846 verstanden die Kinder das französische Wort für „Kartoffeln“ nicht, so daß es ihnen Maria erklären mußte; aber merkwürdigerweise verstanden und behielten sie im Gedächtnis ihnen völlig unbekannte Begriffe wie „Materialismus, Atheismus, Spiritismus“!

Der 1879 aufgezeichnete Wortlaut stimmt mit dem im Jahr 1851 angefertigten offensichtlich nicht überein. So gibt Höcht in seinem Buch über La Salette zu, das, was Papst Pius IX. gelegentlich über das „Geheimnis von La Salette“ gesagt habe, weise „gewisse Divergenzen“ gegenüber dem 1879 abgefaßten Text auf301. Als Pius IX am 19. Juli 1851 die „Große Botschaft“ las, erklärte er, „daß die angekündigten Unheile Frankreich betreffen“302. Diese Worte bestätigen die Vermutung, daß es sich um einen wesentlich anderen Inhalt handelt; denn von dem neuen Text beziehen sich lediglich ein paar Zeilen auf Frankreich. Welch wahrer Wert dem „Geheimnis“ zukommt, zeigt auch die Tatsache, daß das „Heilige Offizium“ in Rom am 21. Dezember 1916 die Verbreitung verboten hat303.

Auf den Inhalt der „Großen Botschaft“ weiter einzugehen, erübrigt sich. Die geschichtlichen Ereignisse sind die beste Widerlegung der Prophezeiungen. Offenbar hat Melanie reichlich Anregung in Schriften gefunden, die von Prophezeiungen über das Schicksal Europas und der Kirche sprechen. Schriften, die sich mit Visionen berühmter Seher beschäftigen, sind ja bereits seit Jahrhunderten im Umlauf und Melanie hatte ohne Zweifel in den verschiedenen Klöstern und in den Häusern ihrer Gönner Gelegenheit genug, sich eingehend zu informieren.

Als die Erscheinung von La Salette ganz Frankreich und die halbe Welt bewegte, war Bernadette Soubirous von Lourdes noch nicht drei Jahre alt. Im Alter von vierzehn Jahren versicherte sie, die Jungfrau Maria in der Grotte nahe ihrem Heimatort gesehen zu haben. Wie sonst allgemein angenommen wird, war Bernadette Soubirous in jenen Tagen des Jahres 1858 die einzige Seherin in der Grotte von Lourdes. Dies ist jedoch durchaus nicht der Fall; im Gegenteil, „eine Masse von Knaben und Mädchen“ behauptete, ähnliche Erscheinungen gehabt zu haben wie Bernadette. Zu den Visionären von Lourdes gesellten sich dann noch viele andere aus der näheren und weiteren Umgebung der Stadt. Es kam zu einer förmlichen Visionsepidemie, die vom April 1858 bis zum Februar 1859 dauerte. Von den Nebensehern in der Gegend von Lourdes hat allerdings Msgr. Laurence, der Bischof von Tarbes, nur Bernadette anerkannt. Dies geschah freilich erst nach langem Schwanken; vorher traute er mehr den Aussagen anderer Seherinnen304.

Bernadette unterscheidet sich von den Sehern von La Salette grundlegend. Sie hat sich selbst weder als bevorzugtes Wesen betrachtet noch hat sie versucht, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu lenken. An den Legenden, die sich mit dem Namen Lourdes verbinden, trägt sie keine Schuld. Es wird behauptet, eine Quelle sei wunderbar aufgebrochen, als Bernadette den Boden der Grotte aufwühlte, ein sterbendes Kind sei nach Eintauchen in das Wasser gesund geworden und schließlich habe die Flamme einer Kerze die Hand der Bernadette berührt, ohne sie zu verbrennen. Tatsache ist aber, daß es weder ein Quellwunder noch eine wunderbare Heilung gab und schließlich auch nichts Aufsehenerregendes in Bezug auf die Flamme einer Kerze305.

Visionäre werden gerne, ohne Rücksicht auf ihr Leben und ihre Leistungen, in die Reihe der Heiligen versetzt. Bereits am 30. April 1952 begann in der bischöflichen Residenz in Leiria der Informativprozeß für die angestrebte Seligsprechung der beiden verstorbenen Seherkinder von Fatima, Jacinta und Francisco. Man kann sich mit Recht fragen, ob die Seligsprechung von Kindern, die im Alter von zehn Jahren gestorben sind, überhaupt sinnvoll ist. Was haben sie denn in ihrem kurzen Leben Besonderes geleistet? Inwiefern können sie ringenden Menschen ein Vorbild sein, Menschen, die im Verlauf von Jahrzehnten einen ungleich schwereren Lebenskampf zu bestehen haben? Es ist doch klar, daß der Versuch der Seligsprechung allein von der Überlegung getragen wird, daß die Erscheinungen von Fatima übernatürlich erklärt werden müßten. Außerdem wird offensichtlich das Leben der beiden verstorbenen Seherkinder von Fatima, wie es in anderen Fällen ja auch gerne geschieht, legendär verbrämt. Wie sehr Wundersucht blindmacht, beweisen die Bestrebungen, die Seligsprechung der stigmatisierten Therese Neumann von Konnersreuth zu erreichen. Fehler, die bei anderen Menschen unnachsichtlich getadelt würden, werden bei ihr überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Es ist beispielsweise eine offenkundige Tatsache, daß die Stigmatisierte von Konnersreuth sehr oft, ja über Wochen hin weder am Werktag noch am Sonntag die hl. Messe in der Pfarrkirche von Konnersreuth besucht hat, ohne krank zu sein306. Solch ein Verhalten entspricht ja nicht einmal dem eines echten Katholiken, erst recht nicht dem einer heiligen Person, deren Beispiel zur Nachahmung empfohlen wird.

Im Falle Fatima steigt noch ein anderes Bedenken auf: Bereits vor 25 Jahren wurde der Informativprozeß zur Seligsprechung ihrer beiden Gefährten begonnen. Als Hauptzeugin fungiert neben anderen Schwester Lucia! Das ist an sich schon bedenklich. Aber peinlicher erscheint etwas anderes: Lucia kann sich bereits ausrechnen, was einmal nach ihrem Tode geschehen wird. Es erscheint unfaßbar, daß man daran bei den zuständigen kirchlichen Stellen offensichtlich überhaupt nicht denkt. Dadurch wurde Schwester Lucia zusätzlich in eine Rolle gedrängt, die mehr als zweifelhaft zu nennen ist. Eine entsprechende Verehrung ihrer Person setzte ja bereits unmittelbar nach den Ereignissen des Jahres 1917 ein. Noch weilte sie im Elternhaus, da begann man sie als „Heilige“ zu verehren; ja, „es ging so weit, daß man ihr religiöse Verehrung entgegenbrachte, als ob sie ein himmlisches Wesen sei“307.

Wie bereits erwähnt, hat sich Algermissen an einer Reihe von „Befremdlichkeiten und Unklarheiten“ gestoßen, die im Zusammenhang mit den Ereignissen von Fatima aufgetaucht sind; er spricht einmal sogar von einem theologischen Unsinn. Aber trotzdem hat er an die Übernatürlichkeit der Geschehnisse geglaubt, und zwar begründet er seine Einstellung mit dem Hinweis, die Erscheinungen seien durch das Sonnenwunder und die nachfolgenden „überaus zahlreichen wunderbaren Krankenheilungen“, die in Fatima und in Verbindung mit ihnen erfolgt seien, bestätigt worden. Er meint: „Damit steht die Tatsächlichkeit der Erscheinungen und auch der wesentliche Inhalt der in den Visionen den Kindern zuteil gewordenen Offenbarungen als wahr und gesichert fest. Gott kann nicht Lüge und Irrung durch Wunder bezeugen.“ Absichtliche Täuschung durch die Kinder, so urteilt er, müsse „mit absoluter Gewißheit“ ausgeschlossen werden, weil sich Gott durch Wunder verbürgt habe. Er sagt: „Diese Wunder schließen aber auch die Möglichkeit aus, daß die Erscheinungen nichts anderes als Selbsttäuschungen gewesen seien; denn Gott kann auch unbewußte Selbsttäuschungen nicht durch Wunder vor der Welt als wahr beglaubigen“.308

Über das Sonnenwunder, auf das sich Algermissen beruft, wurde bereits eingehender gesprochen. Beschäftigen wir uns also mit der Frage der Krankenheilungen! Algermissen schreibt im Jahre 1949, über 800 Kranke seien „nach genauen Feststellungen“ wunderbar geheilt worden309. Fonseca sagt 1973, seit 1942 habe die "Stimme von Fatima" mehr als 800 Heilungen registriert310. Zunächst muß einmal gesagt werden, daß von Krankenheilungen überall die Rede ist, wo von wunderbaren Erscheinungen, insbesondere von Marienerscheinungen berichtet wird, zum Beispiel in Heroldsbach und Garabandal. Worin bestehen denn die Wunder? Fonseca nennt in seinem 1973 veröffentlichten Buch über Fatima eine Reihe von Krankheiten, die wunderbar verschwunden sein sollen, zum Beispiel Schwindsucht, Blindheit, Hirnhautentzündung, Rippenfellentzündung, Lähmungen, Geschwüre verschiedener Art und ähnliches.311 Ein Fachmann auf medizinischem Gebiet wird aufgrund derartiger Veröffentlichungen nicht auf Wunder erkennen. Nehmen wir bloß ein Beispiel aus Fonsecas Buch: Er berichtet von einem Wunder mit der Oberschrift: „Vom Tod zum Leben zurückgekehrt.“ Man vermutet natürlich, es handle sich in der Tat um eine Totenerweckung. Aber worum geht es in Wirklichkeit? Ein Knabe im Alter von 18 Monaten erkrankte im März 1928 an Darmkatarrh und Bronchitis; am 27. März kam eine schwere Lungenentzündung hinzu. Kurz vor 19 Uhr dieses Tages verabschiedete sich der Arzt, der den ganzen Tag am Krankenbett verbracht hatte, mit der Erklärung, er könne weiter nichts unternehmen. „Tatsächlich“, so schreibt Fonseca, „lag das Kind bereits in Agonie und das Körperchen war schon erkaltet.“ Um 19 Uhr, kurz nach dem Weggehen des Arztes, bestrich die Mutter die schon erkalteten Lippen des Knäbleins mit Wasser von Fatima. „Zum Er staunen aller öffnete es die Augen. In inbrünstigem Vertrauen benetzte nun die Mutter auch die Stirn und das ganze Gesicht des Kindes. Und sie spürte, wie unter ihren Händen langsam, langsam die Lebenswärme zurückkehrte. Wenige Minuten später hatte das sterbende Kind seine Kräfte wiedererlangt und begann zu sprechen, ... als ob nichts vorgefallen wäre.“ Am nächsten Tag stellte der Arzt fest, daß die Lungenentzündung vollständig verschwunden war312. Man sieht, die Oberschrift „Vom Tod zum Leben zurückgekehrt“ ist völlig abwegig. Es ist ein sprechendes Beispiel dafür, wie Wundersucht darzustellen pflegt.

Offenbar geschehen zur Zeit in Fatima weit mehr wunderbare Heilungen als etwa in Lourdes. Im Jahre 1975 brachte der „Anzeiger für die kath. Geistlichkeit“ einen Artikel mit dem Titel „Weniger Heilungen in Lourdes.“ Der Verfasser sagt, seit April 1972 sei von der in Lourdes tätigen ärztlichen Vereinigung lediglich eine einzige Heilung bestätigt worden. Unter anderem wird als Grund für den Rückgang der Heilungen angegeben, die Mediziner hätten sich zu sehr in die Rolle von medizinischen Aufpassern hineindrängen lassen; sie förderten kaum mehr das vertrauensvolle Beten und Hoffen; sie beschränkten sich bloß auf das Kontrollieren; wegen des Unglaubens der Leute wirke Jesus nur mehr wenige Zeichen seiner Macht313. Das klingt ja fast so, als ob Lourdes-Pilgern Unglaube vorgeworfen werden soll. Dem Wortlaut des Artikels entsprechend muß man folgern: In Fatima fehlen die medizinischen Aufpasser; deswegen geschehen dort mehr Wunder als in Lourdes.

Die entscheidende Frage, die zu stellen ist, lautet: Handelt es sich bei den berichteten Heilungen um medizinisch unerklärbare Fälle? Auf diese Frage hat bereits im Jahre 1949 Prof. Schleyer in seinem Buch „Die Heilungen von Lourdes, eine kritische Untersuchung“, eine deutliche und wissenschaftlich fundierte Antwort gegeben. Aus den Tausenden von angeblich wunderbaren Heilungen hat Schleyer in Zusammenarbeit mit anderen Fachmedizinern 232 Fälle einer kritischen Prüfung unterzogen. Als Quellenmaterial wurden grundsätzlich nur die Veröffentlichungen von Ärzten herangezogen. Bei den durchleuchteten Fällen handelt es sich um Berichte über Heilungen, von denen behauptet wird, sie seien medizinisch nicht zu erklären; andere werden überhaupt nicht einer Prüfung unterzogen. Zu welchem Ergebnis gelangt nun Schleyer? Von den 232 Fällen werden aufgrund der zur Verfügung gestandenen Beschreibungen lediglich 37, „wenn auch zum Teil nur mit erheblichen Bedenken“, als medizinisch nicht zu erklärende Heilungen bezeichnet. Weiter wird gesagt: „Von den 37 ohne Bedenken als medizinisch unerklärlich bezeichneten Heilungen des hier vorliegenden Materials scheinen 12 den Hauptforderungen, die man wohl an eine extramedikale Heilung stellen muß, am ehesten zu genügen.“ Auch bei diesen verbliebenen 12 Fällen kann man nicht sagen, daß sie nicht anders denn als Wunder erklärt werden müßten. Schleyer urteilt so: „Es muß gesagt werden, daß auch alle diese Heilungen zwei weiteren wichtigen Erfordernissen nicht zur Zufriedenheit genügen: daß der ganze Verlauf eines Leidens zu Tage lag..., daß es sich um Krankheiten handelte, bei denen spontane Heilungen und Remissionen unbekannt sind (eine Krankheit erschwert ja um so mehr die Anerkennung ihrer Heilung als extramedikal, je größer bei ihr im allgemeinen die Tendenz zu Spontanheilung und Remissionen ist).“314 Am Schluß seines Buches schreibt Schleyer „Das auf den vorstehenden Seiten zusammengefaßte Resultat der Analyse einer größeren Zahl von Heilungen erlaubt die Schlußfolgerung auszusprechen, daß weitgehende Skepsis hinsichtlich dieser Heilungen im allgemeinen angebracht und begründet ist.“315 Die wissenschaftliche Nachprüfung der Heilungsberichte durch Schleyer hätte in erster Linie den Theologen und vor allem den kirchlichen Behörden eine Lehre sein müssen. Aber leider bestand die Reaktion im Totschweigen; denn widerlegen konnte man die fundierten Argumente nicht.

Bezeichnend ist, daß sich seit ungefähr 80 Jahren die Heilungen in Lourdes ständig verringert haben. Im Jahr 1897 wurde mit 214 die höchste Zahl erreicht; 1913 waren es noch 75; 1937 wurden nur 8 Heilungen gemeldet316; von 1972 bis 1975 wurde lediglich eine einzige Heilung bestätigt317. Woher rührt dieser gewaltige Rückgang? Die Antwort ist einfach: Je genauer es bei der medizinisch exakten Kontrolle zugeht, um so weniger ereignen sich unerklärbare Fälle.

Man meint, es müßte einleuchten, daß mit angeblich „wunderbaren Heilungen“ in Fatima nicht die Echtheit der behaupteten Marienerscheinungen bewiesen werden kann. Wie bereits erwähnt, geschehen und geschahen auch in Garabandal „wunderbare Heilungen“. Die zuständige kirchliche Behörde hat wiederholt und eindringlich verlauten lassen, daß sich in Garabandal keine irgendwie wunderbar zu bezeichnenden Ereignisse abgespielt haben. Trotzdem finden alljährlich Tausende den Weg an den Ort der angeblichen Marienerscheinungen, und die Garabandal-Anhänger warten immer noch auf ein bestimmtes großartiges Ereignis, das die Muttergottes dem Seherkind Conchita enthüllt haben soll. Dieses versicherte, das zu erwartende Ereignis werde bedeutsamer sein als das Sonnenwunder von Fatima. Conchita gab auch an, bereits den Tag des Wunders genau zu kennen; sie dürfe ihn jedoch auf Anordnung der heiligen Jungfrau erst acht Tage zuvor bekanntgeben; die Kranken, die das Wunder erleben würden, sollten ihre Gesundheit zurückerlangen und die Ungläubigen würden sich bekehren. Freilich sei das Wunder nur in der Gegend von Garabandal zu sehen; „außerhalb dieses Bereiches werde es aber noch der Papst in Rom und Pater Pio sehen dürfen.“ Nun, P. Pio ist bereits am 23. September 1968 verstorben. Das Wunder ist also nicht geschehen. Aber solche Pannen machen wundersüchtigen Leuten nichts aus, sie warten, sie warten vergebens, aber sie warten weiter318.

Die Erscheinungen und Botschaften der Muttergottes in Garabandal und Heroldsbach wurden von den zuständigen kirchlichen Behörden im Unterschied von Fatima als unecht bezeichnet. Aber ein Vergleich der jeweiligen Berichte läßt nicht erkennen, daß die äußere Form der Erscheinungen und der Inhalt der Botschaften sich wesentlich voneinander unterscheiden. In Heroldsbach beispielsweise soll die Muttergottes viel öfter und mehr Kindern erschienen sein als in Fatima. In der Zeit vom 9. August 1949 an bis zum 31. Oktober 1952 schauten sieben Kinder fast tagtäglich die Muttergottes und andere himmlische Gestalten. Sie sahen auch den Teufel als schwarzen Mann mit kohlschwarzem Gesicht. Oft und oft hat Maria zu den Kindern gesprochen. Nicht nur die Kinder, sondern auch andere Personen erblickten gelegentlich überirdische Gestalten. Außerdem hatten die Seherkinder eine große Zahl von Visionen. Dazu spielte sich in Heroldsbach ein Sonnenwunder ab, das den Schilderungen gemäß nicht weniger großartig war als in Fatima. Ebenso ist die Rede von wunderbaren Krankenheilungen. Massen von Pilgern wanderten zum Ort der Erscheinungen. Welches sollen die Kennzeichen sein, die die Erscheinungen von Fatima im Unterschied zu jenen von Heroldsbach als übernatürlich ausweisen können? Daß im Falle Heroldsbach in den Botschaften der Muttergottes mehr Albernheiten zu verzeichnen sind als bei jenen in Fatima, erklärt sich schon daraus, daß Maria im fränkischen Erscheinungsort wesentlich öfter das Wort ergriffen hat.

Leichtgläubigkeit außergewöhnlichen Erscheinungen gegenüber, wie Visionen und Prophezeiungen, sind nicht Ausdruck eines echten, tiefen Glaubens, sondern eher eine Folge von Glaubensnot und Glaubensschwäche, also eine Art von Glaubensersatz. Hier liegt auch der tiefere Grund, warum Gesichte und Erscheinungen von „überirdischen“ Wesen und die Botschaften von Visionären allenthalben bei leichtgläubigen Menschen große Aufmerksamkeit finden. Zu bestimmten Zeiten kommt es geradezu zu einer Flut von solchen „mystischen Erscheinungen“; so sind allein in Westeuropa zwischen 1930 und 1950 von kirchlichen Behörden nicht weniger als 30 Reihen von Muttergotteserscheinungen mit insgesamt etwa 300 Einzelerscheinungen, die Kindern zuteilgeworden sein sollen, untersucht worden319. Die in unserem Jahrhundert sich häufenden Marienerscheinungen sind offensichtlich nichts anderes als Folge und Ausdruck eines marianischen Tropenklimas. Prälat Straubinger, der im Jahre 1930 die Katholische Bibelbewegung gegründet hat, aus der später das „Katholische Bibelwerk“ hervorgegangen ist, konnte sich im Jahre 1937 der Verhaftung durch die Nationalsozialisten durch die Flucht entziehen, die ihn auch nach Amerika führte. In Südamerika hatte er reichlich Gelegenheit, die Auswüchse der Marienverehrung kennenzulernen. Darüber schrieb er im Dezember 1955 an Otto Karrer: „Ganz verheerend sind die 'Erscheinungen'. Während im Mittelalter und bis zu Margarethe Alacoque Jesus erschien, erscheint jetzt fast nur noch die Muttergottes, und zwar in einer derart aufdringlichen Weise, daß sie für sich neue Kirchenbauten und neue Ehren verlangt und dem Papst durch Kinder Botschaften schickt. Das ist verdächtig. Eine heilige Person verlangt doch nicht Ehren für sich. Ich glaube daher, daß die Muttergotteserscheinungen, die jetzt so großes Furore machen, nicht von der Muttergottes und nicht von Gott sind, schon deshalb, weil sie typische Schauwunder sind. Ich kann mir nur denken, daß das Ziel dabei die Zurückdrängung des Glaubens an Christus ist. Maria soll im Volk so erhöht werden, daß Christus immer mehr in den Hintergrund tritt und aus der Christusreligion eine Marienreligion wird! Das ist weitgehend erreicht, wie ich in Südamerika gesehen habe. Dort macht Maria alles, aber auch alles. Sie ist dort allmächtig im vollsten Sinne des Wortes. Gott hat alle Macht an sie abgetreten, und Christus existiert für viele nur noch in der Hostie.“ Von Aussagen aus Kindermund hielt Prälat Straubinger überhaupt nicht besonders viel; im Januar 1958 schrieb er an Otto Karrer: „Nach 38jähriger Tätigkeit an Mädchenschulen schätze ich die Verläßlichkeit von Kinderaussagen nicht sehr hoch ein.“320

Solche Skepsis gilt im Falle der Seherkinder von Fatima nicht weniger als für andere. Die sechs Mädchen von Heroldsbach, die wiederholt himmlische Gestalten sahen und sprechen hörten, waren von der Echtheit ihrer Wahrnehmungen genauso überzeugt wie die Kinder von Fatima. Bei den Kindern von Heroldsbach hat ein Psychologe nachgewiesen, daß sie eidetisch veranlagt waren. Eine eidetische Veranlagung findet sich nach Feststellungen des Marburger Psychologischen Institutes bei 30 bis 50 Prozent der Kinder im Vorpubertätsalter, überwiegend bei Kindern auf dem Land321. Die eidetische Veranlagung macht es möglich, daß ein zu einem früheren Zeitpunkt geschautes Bild im Kind wieder auftaucht, und zwar als Anschauungsbild in der Stärke der früheren Wahrnehmung. Sogar auf der Netzhaut des Auges kann das nicht von der Außenwelt her, sondern von der Seele her geschaute Bild vorhanden sein. In der illustrierten Monatsschrift „Der Sonntag im Bild“ ist im Juni 1950 ein lehrreicher Artikel erschienen unter dem Titel „Mein Kind hat eine Erscheinung“. Darin wird aufgeführt, daß man bei Eidetikern zwei Typen unterscheiden kann. „Beim einen sind die von innen projizierten Anschaungsbilder starr, werden lange gesehen und unterliegen der Willensbeeinflussung. Der andere Typ kann auch durch absichtliches Denken die Anschauungsbilder hervorrufen und sie verändern. Solche Kinder können mit ihrer Phantasie das Bild zu weiteren beweglichen Szenen sich entwickeln lassen sie sind von ihren Phantasieprodukten wie von wirklichen Erlebnissen überzeugt. Es tut not, solche Kinder zu objektiver Beobachtung und Haltung gegenüber der Wirklichkeit zu erziehen“.322 Was hier im Hinblick auf die Seherkinder von Heroldsbach gesagt wird, gilt in gleicher Weise für andere „Seherkinder“ .Es liegt nicht der geringste Grund vor, diese eidetische Vorgänge für übernatürlich zu halten.

Daß Aussagen von „Mystikern“, wo immer diese auftreten, äußerst kritisch geprüft werden müßten, sollte an sich eine Selbstverständlichkeit sein. Leider ist dem nicht so; auch noch so schwere Blamagen vermögen da nichts zu ändern. Der Bischof von Regensburg hat bei der Gedenkfeier zum zehnten Todestag der stigmatisierten Therese Neumann von Konnersreuth Ende September 1972 von den Voraussetzungen gesprochen, mit denen man an die „mystischen Phänomene“ herangehen müsse. Dann fährt er fort: „Es ist verantwortungslos, wenn man ohne Kenntnis der mystischen Theologie und der historischen Methodenlehre süffisante Artikel schreibt, nur um wieder einmal ein geistig anspruchsloses Publikum mit einer sentimental zurechtgemachten Story zu unterhalten.“323 Daß solches geschieht, mag man beklagen; aber man sollte auch endlich einmal einsehen, daß der Kirche ungleich mehr durch kritiklose Wundersucht geschadet wird.

Nehmen wir als Beispiel einen der „Mystiker“ unserer jüngsten Vergangenheit, über den ein Buch Aufschluß gibt, das in engem Zusammenhang mit den „Offenbarungen von Fatima“ steht! Es stammt aus der Feder des „vierten Sehers von Fatima“, der noch weit mehr Wunderbares erlebt haben will als die drei portugiesischen Seherkinder von Fatima. Das Buch ist im Jahre 1973 im Miriam-Verlag, Jestetten, mit dem Titel erschienen: „Der Handwerksgeselle — Der vierte Seher von Fatima“. Vor der Drucklegung haben zwei Kenner der Mystik, nämlich Dr. Lieball, Direktor des Marianischen Institutes in Regensburg, und Bischof Dr. Rudolf Graber, das Manuskript geprüft und sich um Gewinnung eines Verlags bemüht. Was ist der Inhalt des Buches? Es ist Pseudomystik schlimmster Sorte. Das haben freilich die Kenner der Mystik nicht gemerkt. Sie haben sich nicht einmal an der angeblichen Offenbarung, die der vierte Seher von Fatima erhalten haben will, gestoßen, die da lautet: „Du wirst ein Papst werden.“ Erst von dem Augenblick an wollten sie mit dem Seher und seinem Buch nichts mehr zu tun haben, als er wegen unsittlicher Vergehen an Jugendlichen zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt worden war324.

Was hat die Kenntnis der mystischen Theologie und der historischen Methodenlehre genutzt? Man kann sich vorstellen, mit welcher Begeisterung „Kenner der mystischen Theologie“ die „Botschaften“ des vierten Sehers von Fatima weiterverkünden würden, wenn nicht das bittere Ende gekommen wäre.

Nehmen wir ein anderes Beispiel, wie manche Kenner der mystischen Theologie und der historischen Methodenlehre auf alles hereinfallen, was mystisch angehaucht erscheint! Es sind erst ungefähr 25 Jahre her, da wurden in „Erbauungsschriften“ die „Heilandsbotschaften“ der „Offenbarungsträgerin“ Schwester Stella veröffentlicht. Die „Botschaften“ der Nonne wurden mit Billigung der kirchlichen Oberen verbreitet; ein kirchliches Gutachten vom Jahre 1950 bezeichnet Stella als „außerordentlichen Charakter und mystisches Phänomen“. Später hat Schwester Stella ihre „Heilandsbotschaften“ selber als „Schmarren“ bezeichnet; Walter Nigg hat sie „Pseudo-Offenbarungen schlimmster Sorte“ genannt und er sagte, sie beruhten auf „einer Art von Teddybär-Theologie“325. Man kann wiederum fragen: Hätte sich etwas in der Einschätzung der „Heilandsbotschaften“ geändert, wenn nicht auch in diesem Fall das bittere Ende gekommen wäre, und zwar im Zusammenhang mit dem berüchtigten Züricher „Teufelsaustreibungsprozeß“, bei dem Schwester Stella die Rolle der „Hauptattraktion“ spielte?

Am 25. Juli 1976 hat der Regensburger Bischof Dr. Rudolf Graber in Marienfried bei Pfaffenhofen a.d. Roth eine Predigt gehalten; das Thema lautete: „Die Zeit Mariens ist im Kommen.“ Den Anlaß zur Feier mit dem Bischof boten angebliche Marienerscheinungen, die am 25. April, am 25. Mai und am 25. Juni 1946 Bärbl Rueß, ein Mädchen von Pfaffenhofen, gehabt haben will. Bei der Festpredigt, die über Radio „Vox Fidei“ übertragen und später in einem Buch sowie im Sonderdruck verbreitet wurde, sagte der Regensburger Bischof einleitend, er wolle dem kirchlichen Urteil nicht vorgreifen. Aber warum hält er dann am dreißigsten Jahrestag der angeblichen Erscheinungen in Marienfried eine Predigt mit eindeutiger Stellungnahme? Der Bischof fährt in seiner Ansprache fort: „Trotzdem können wir eines tun. Wir werden das, was Maria damals sagte, untersuchen und einer Prüfung unterziehen, einmal, ob das von Maria Gesagte nicht der allgemeinen Offenbarung widerspricht, und wenn das der Fall wäre, dann müßten die Akten über Marienfried geschlossen werden. Man kann noch etwas anderes tun. Man kann das, was vor dreißig Jahren gesagt wurde, mit unserer Gegenwart vergleichen. Sollte sich herausstellen, daß vieles auf unsere Zeit zutrifft, so ist damit zwar auch noch nicht der übernatürliche Charakter der sogenannten Offenbarung bestätigt, aber es ist doch ein Hinweis gegeben für das Verständnis unserer Zeit und darüber hinaus eine Mahnung oder Warnung, die wir ernst nehmen wollen.“326 Mit genau denselben Worten könnte man die „Himmelsbotschaften“ jener Schwester Stella und die Mitteilungen des „vierten Sehers von Fatima“ verteidigen.

Der Regensburger Bischof erklärt, er wolle dem kirchlichen Lehramt nicht vorgreifen; aber er sagt am Ende seiner Predigt: „Alles, was wir bisher hörten, hat in uns den Gedanken bestärkt, daß Marienfried nicht nur nichts enthält, was gegen die Offenbarung Gottes ist, sondern daß es sich in die marianische Tradition der Kirche einfügt und wertvolle Einblicke in unsere Situation gibt. ... Marienfried vertritt ... geradezu die klassische Theologie.“ Des Bischofs Urteil steht also fest, auch wenn er sagt, er wolle dem kirchlichen Urteil nicht vorgreifen. Man muß dann allerdings die Frage stellen: Auf welches Urteil soll denn da noch gewartet werden? Zur Frage der Echtheit der behaupteten Marienerscheinungen hat sich ja bereits das zuständige Bischöfliche Ordinariat Augsburg erklärt. In dem am 27. Juli 1972 an Pfarrer Martin Humpf von Pfaffenhofen gerichteten Schreiben heißt es: „Die Voraussetzung für die Genehmigung zur Errichtung der kürzlich benedizierten Kirche wie zur Zulassung von Marienfried als Gebetsstätte — keinesfalls als Wallfahrtsort — war und ist, daß dort ausschließlich eine gesunde Marienverehrung gemäß Artikel VIII 'Lumen Christi' geübt und gepflegt wird. Von einer 'Botschaft' oder von 'Erscheinungen' darf ebensowenig die Rede sein wie von einem diesbezüglichen Jubiläum.“327 Zwei Jahre später, am 12. Juli 1974, schreibt der Augsburger Bischof im Amtsblatt für die Diözese Augsburg: „Am 28. Mai 1947 war von hier aus eine Untersuchung der 'Erscheinungen von Marienfried' eingeleitet worden. Das seit 1950 vorliegende Ergebnis und die späterhin gesammelten Beobachtungen erlauben es nicht, den 'Erscheinungen' oder der 'Botschaft' einen übernatürlichen Charakter zuzuerkennen. Noch weniger gestatten sie, für die darauf hinzielenden Andachtsformen eine kirchenamtliche Gutheißung auszusprechen. Ein 'Wunder', so wie es zum Echtheitsbeweis solcher Erscheinungen' verlangt werden müßte, ist niemals geschehen. ... Im Sinne der bei der römischen Kongregation für die Glaubenslehre am 25. Mai 1974 ergangenen Verlautbarung darf in der kirchlichen Verkündigung weder formell noch materiell von 'Erscheinungen' bzw. von einer 'Botschaft' der Gottesmutter in Marienfried gesprochen oder geschrieben werden.“

Der Wortlaut ist so klar, daß es unverständlich bleibt, wieso der Regensburger Bischof ein Jahr darauf in Marienfried eine Predigt zum dreißigsten Jahrestag der angeblichen Marienerscheinungen halten konnte. Daß er sich absichtlich über das durch den Augsburger Bischof und die römische Kongregation für die Glaubenslehre ausgesprochene Verbot hinweggesetzt hat, ergibt sich aus dem Wortlaut am Anfang seiner Ansprache. Dort ! verweist er auf Aussagen bekannter Persönlichkeiten, von denen er sagt, er nehme sie sehr ernst; dann fährt er fort: „Niemand kann mir verbieten, das auch bei Marienfried zu tun.“ Den Theologiestudenten wird regelmäßig eingeschärft: Privatoffenbarungen gehören nicht auf die Kanzel. Diesen Grundsatz hat auch 1966 der Augsburger Weihbischof Dr. Zimmermann in einem Schreiben an Pfarrer Martin Rumpf von Pfaffenhofen betont; er sagt, es sei jedermann ausdrücklich verboten, in Marienfried über die angeblichen Privatoffenbarungen zu predigen; solche Privatoffenbarungen seien „niemals Gegenstand öffentlicher Verkündigung“328. Erst recht gehören nicht Privatflunkereien auf die Kanzel, zumal dann nicht, wenn man auch ohne jede Kenntnis der mystischen Theologie und der historischen Methodenlehre sieht, daß es sich bloß um pseudomystisches Geschwätz handelt.

Die erwähnte Verlautbarung des Bischöflichen Ordinariates Augsburg verbietet, „Erscheinungen“ bzw. „Botschaften“ der Gottesmutter in Marienfried zum Anlaß einer Predigt zu nehmen; aber sie vermeidet andererseits auch eine eindeutige Sprache. Es wird nur erklärt, es bestehe kein Grund, den „Erscheinungen“ oder der „Botschaft“ einen übernatürlichen Charakter zuzuerkennen; es wird nicht gesagt, daß bloß rein natürliche Dinge vorliegen. Bereits am 11. März 1974 hatte sich der Augsburger Bischof in einem Schreiben an den Pfarrer von Pfaffenhofen ähnlich zweideutig ausgedrückt, wenn er sagte: „Ich stelle nur fest, daß der übernatürliche Charakter der Marienerscheinungen nicht erwiesen ist, was nicht bedeutet, daß die Vorgänge in Marienfried natürlich erklärt werden müssen."329 Im Gespräch zwischen dem Bischof von Augsburg und dem Pfarrer von Pfaffenhofen am 29. April 1974 meinte der Bischof: „Die Übernatürlichkeit der Geschehnisse in Marienfried ist nicht beweisbar; damit soll aber keineswegs gesagt werden, daß die Natürlichkeit beweisbar ist.“330 Damit wird eine klare Stellungnahme umgangen. Gerade diese wäre dringend erforderlich und auch ohne weiteres möglich gewesen; denn die Veröffentlichungen über die angeblichen wunderbaren Ereignisse zeigen auch ohne genaue Kenntnis der angesammelten Akten, daß man es mit gar nichts anderem zu tun hat als mit rein natürlichen Vorgängen. Schon ein oberflächliches Studium der „übernatürlichen Botschaften“ von Marienfried beweist es zur Genüge. Es lohnt sich in keiner Weise, auf dieses pseudomystische Geschwätz weiter einzugehen, zumal ärztliche Gutachten vorliegen, die den tieferen Hintergrund der „Erschei- nungen“ offenbar machen. Bärbl Rueß erkrankte im Frühjahr 1944 an Hirnhautentzündung, weswegen sie in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Ein Jahr darauf hatte sie ihre „Erscheinungen“ und erhielt sie ihre „Botschaften“. Ein Psychiater gab aufgrund des ihm zur Verfügung gestellten Aktenmaterials ein Gutachten ab. In diesem heißt es unter Hinweis auf „psychische Folgeerscheinungen“ der Krankheit: „Bei ihren Visionen handelt es sich um eine intensive Vorstellung optischer und akustischer Art, dir für sie Merkmale der Realität besitzen... . Die Grundlage ihrer Erlebnisse ist in ihrer Veranlagung und in ihrer ganzen Geisteshaltung zu suchen, wobei ihrer Erkrankung des Zentralnervensystems ebenfalls eine ursächliche Bedeutung zukommt. Auf jeden Fall kann die Möglichkeit nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß es sich bei den geschilderten Erscheinungen und Erlebnissen um Vorgänge auf autosuggestiver und patho- logischer Grundlage handelt.“331 Mit solchen Feststellungen ist in keiner Weise ein negatives Urteil über eine Person ausgesprochen; aber vor allem einen Theologen müßte es davor bewahren, rein natürliche Dinge mit der Gloriole des Wunderbaren zu umgeben.

Zu der Veranlagung des Mädchens kamen noch andere, „außerordentliche Erscheinungen“ fördernde Anregungen hinzu. Was über die wunderbaren Vorgänge in Marienfried und über Bärbls außergewöhnliche Fähigkeiten berichtet wird, läßt klar erkennen, daß das Mädchen Anleihen bei bekannten Vorbildern genommen hat. Wie die „Seherin von Fatima“, Schwester Lucia, so erzählt auch Bräbl Rueß späterhin, ihr sei schon lange vor den Marienerscheinungen im Jahre 1946, nämlich seit 1939, regelmäßig ein Engel erschienen, der sie belehrt habe. Außerordentlich viel hat Bärbl offensichtlich von Therese Neumann von Konnersreuth übernommen. Genau wie diese behauptete auch sie, der Engel, der ihr erschienen sei, habe „so komische“ Ausdrücke gebraucht332. Ja, auch von Maria sagt sie: „Die redet immer so Sachen, die ich nicht verstehe. Die soll doch reden, daß man sie versteht. Ich rede auch, daß man mich versteht . Mit ähnlichen Worten klagte Therese Neumann über ihren Schutzengel, daß er so sonderbar daherrede; er könne doch auch so sprechen, daß man ihn verstehe334. Als einen der „komischen“ Ausdrücke bezeichnet Bärbl die Aufforderung, die sie Anfang März 1939 durch ihren Schutzengel erhalten haben will: „In den nächsten Tagen sollst du für den 'Engelgleichen Hirten' beten“335, womit nach der bekannten „Papstweissagung des hl. Malachias“ Pius XII. gemeint sein soll. Bärbl versichert, sie habe nicht gewußt, was das Wort bedeute. Aber offenbar hatte sie 1939 oder später den Ausdruck in einem Buch, in dem über die „Weissagung des Malachias“ berichtet wird, gelesen. Was von der immer wieder zitierten angeblichen Papstweissagung des hl. Malachias zu halten ist, verrät das Urteil des Kirchengeschichtlers Karl Bihlmeyer: „Daß es sich bei dem Machwerk um eine tendenziöse Fälschung handelt, wird heute von keinem ernsthaften Historiker mehr bestritten.“336

Ohne Zweifel angeregt durch Schriften über Therese Neumann von Konnersreuth, legte sich auch Bärbl Rueß eine ganze Reihe von außerordentlichen Fähigkeiten zu, Fähigkeiten, für die sie keinen Beweis anzutreten vermochte. Sie betätigte sich beispielsweise als „Sühneseele“, die, von ihrem Engel aufgefordert, vor allem des Nachts für die Sterbenden und für die Sünder betete337. Arme Seelen kamen regelmäßig zu ihr und er- baten ihre Fürbitte; „oft blieben diese vor ihr stehen und wollten nicht weggehen“338. Nicht selten spürte sie, wenn in der Nähe ein „Licht“ aufblitzte, daß jemand im Sterben lag. Ihrem Pfarrer versicherte sie, „bei fast allen“, die in Pfaffenhofen gestorben seien, habe sie die Sterbestunde vorausgewußt. Traf sie mit einem Menschen zusammen, der ein Gewohnheitssünder war, so spürte sie dies und wurde jedesmal von einer furchtbaren Angst befallen. „Begegnete ihr jemand im Stande der Todsünde, der mit Gott — wie ein Priester beispielsweise — näher verbunden ist, und bei dem eigentlich eine schwere Sünde nicht vorkommen sollte, so sah sie diesen deutlich gekennzeichnet.“ Bärbl hatte damals auch die „Gabe“, Priester und Laien zu unterscheiden; „sie konnte auch Katholiken und Protestanten unterscheiden“. „Nach der Kommunion spürte sie regelrecht die Todsünder, die in der Kirche anwesend waren; vor solchen Menschen hatte sie "ungeheuere Angst und furchtbaren Ekel“. Wenn Pfarrer Rumpf die hl. Messe feierte, sah sie die Finger des Pfarrers von der Wandlung bis zur Kommunion „in Feuer gehüllt“339. Ähnlich wie Anna Katharina Emmerick tischte Bärbl Rueß das Märchen auf, sie sei oftmals des Nachts trotz der verschlossenen Türen in die Pfarrkirche gegangen, um dort zu beten340. Das sind nur einige Hinweise, die erkennen lassen, welche Literatur die Phantasie Bärbls angeregt hat.

Die Hauptverantwortung für die Geschehnisse in Marienfried trägt ohne Zweifel der damals zuständige Pfarrer von Pfaffenhofen, Martin Rumpf. Der Plan zum Kapellenbau in Marienfried geht auf seine Anregung zurück. Er machte bei einer Maipredigt 1944 den Vorschlag, „der Mutter Gottes den Bau einer Kapelle zu versprechen, wenn sie die Pfarrgemeinde in den drohenden Gefahren des Krieges beschützen wolle“.341Ein Jahr nach dem Krieg, am 25. April 1946, ging der Pfarrer in Begleitung seiner Schwester Anna und des Mädchens Bärbl Rueß in den Wald, um von zwei zur Verfügung stehenden Waldparzellen den geeignetsten Ort auszuwählen. Auf dem Weg von einem zum anderen Waldstück kam der Pfarrer auf die Entstehungsgeschichte von Wallfahrtsorten zu sprechen, deren Platz die Muttergottes durch ein Zeichen kenntlich gemacht habe. Er sprach den Gedanken aus, es wäre schön, wenn auch jetzt irgendein „Zeichen“ gegeben werde. Die Anregung hatte prompt zur Folge, daß Bärbl eine wunderbare Frau erblickte, die somit den richtigen Platz für den Kapellenbau bestimmte. Pfarrer Rumpf war es auch, der als erster den Gedanken aussprach, es könne sich bei der Frau um „niemand anders handeln als die Mutter Gottes“342. Bezeichnend ist, daß Bärbl die Wundmale erhielt, als sie tagsüber im Pfarrhof weilte und nur zum Schlafen heimging. Es war im Februar 1947; sie war nur wenige Wochen im Pfarrhof tätig, als sie die Schmerzen „unsichtbarer Wundmale“ verspürte, die dann am 21. Februar zum erstenmal bluteten; auch Passionsekstasen stellten sich ein; die Wundmale verschwanden 1950 wieder.

Daß die „wunderbaren“ Ereignisse mehr und mehr bekannt wurden, war zum mindesten in der Hauptsache die Schuld des Pfarrers. Immer und immer wieder wandte er sich an das zuständige Bischöfliche Ordinariat in Augsburg, um eine für die neue Wallfahrtsstätte Marienfried ungünstige Entscheidung zu verhindern. Er mahnte, man solle abwarten, man solle die Sache wachsen lassen. Worum es ihm in erster Linie ging, zeigt sein Brief vom 27. Dezember 1973 an den Augsburger Bischof: „Für mich als Pfarrer von Pfaffenhofen ist bei der geplanten Verlautbarung der wichtigste Gesichtspunkt, wie diese sich auf meine Seel- sorgearbeit auswirken wird. Es darf nämlich nicht übersehen wer- den, daß zwischen meiner Stellung als Pfarrer und meinem Einsatz in und für Marienfried eine weitgehende Solidarität besteht.“ Eine „negative Beurteilung Marienfrieds“ werde sich für sein seelsorgerliches Ansehen und Wirken nachteilig erweisen. Als im Jahre 1974 endlich eine bischöfliche Verlautbarung zu erwarten war, gab der Pfarrer, der vorher immer wieder gefordert hatte, man solle in den Ablauf der Dinge nicht störend eingreifen, zu bedenken, warum man denn die Verurteilung 23 Jahre zurückgehalten und Marienfried habe wachsen lassen; man habe ja auch gestattet, Schriften über Marienfried mit kirchlicher Druckerlaubnis zu verbreiten343. Mit diesem Argument hatte Pfarrer Rumpf gar nicht unrecht. Die Sachlage war von Anfang an derart klar, daß das Zögern des Bischöflichen Ordinariates als ein schwerer Fehler bezeichnet werden muß. Auch die endgültige Stellungnahme vom Jahre 1974 ist lediglich eine halbe Sache, die im Grunde, wie wir gesehen haben, wenig nützt.

Wie die „wunderbaren Ereignisse“ von Marienfried zu beurteilen sind, soll nur noch an einem Fall näher erläutert werden, nämlich an Hand der sogenannten Entführungsszene, jene Erzählung Bärbls, sie sei zwischen dem 25. und 28. März 1948 auf geheimnisvolle Weise entführt worden. Einen deutlicheren Beweis, daß Bärbl bloß geflunkert hat, gibt es nicht. Bärbl erzählte eines Tages, sie sei in einem Auto von einem Mann, „dessen Gesicht sie erschrecken ließ“, entführt worden. zweimal sei vorher ein Entführungsversuch fehlgeschlagen, aber am Gründonnerstag 1948 sei er schließlich doch gelungen. Am Abend dieses Tages sei ihr beim Gottesdienst „mehrfach schwindelig“ geworden. Vor dem Pfarrhaus sei sie von einer unbekannten Frau angesprochen worden; sie sei zu dieser Frau ins Auto gestiegen, um zur Kapelle Marienfried zu fahren. Die unbekannte Frau habe jedoch einen anderen Weg eingeschlagen, habe den bereits erwähnten unheimlichen Mann zusteigen lassen und sei „ins Ungewisse in rasendem Tempo bei seitlich und hinten zugezogenen Vorhängen“ gefahren; „einige Stunden lang“ habe die Fahrt gedauert. Man habe sie schließlich in ein Haus gebracht, wo man sie auf einen harten Boden legte. Im Raum befanden sich einige Männer, die sich „teils in fremder, teils in deutscher Sprache“ miteinander unterhielten; einige sahen „wie Juden“ aus; „andere standen hinten und zählten Geld“. Die Männer trieben vor den Augen der Entführten schändlichen Frevel mit Hostien; Bärbl spürte, daß die Hostien konsekriert waren. Nach einiger Zeit entkleideten die Männer das Mädchen und behandelten es mit einer „elektrischen Leitung“, mit „zwischen von innen beleuch- teten Platten“. Bärbl fiel in einen „ekstatischen Zustand“ und erlebte die „Passion des Herrn“. Als sie wieder zu sich gekommen war, hörte sie, wie ein Mann, der in der Hand eine Hostie hielt, „furchtbar über sie lästerte“; der Mann „schien Jude zu sein“. Wiederum versank Bärbl in Bewußtlosigkeit. Sie schilderte die folgende Szene so: „Als ich zu mir kam, hörte ich vor der Tür Geschrei. Decken wurden hereingebracht, Männer und Frauen — in schamloser Kleidung — kamen herein und trieben schreckliche Sachen, wobei sie johlten und schrien. Lange trieben sie es so. Hierbei wurden viele — lauter konsekrierte, helleuchtende — Hostien in unvorstellbarer Weise geschändet. Sie standen alle um mich herum. Das war furchtbar. Der zwischen den Leuten umherlaufende Hund fraß die hinuntergefallenen Hostien auf. Ich war so schwach, daß ich mich gar nicht wehren konnte. Als ein Teil einer Hostie neben mich fiel, kommunizierte ich ihn. Das gab mir Kraft, und ich hoffte damit dem Heiland Abbitte zu leisten. Dem Hund, der die Hostien gefressen hatte, gab man dann ein Brechmittel, so daß er alles, was er zu sich genommen hatte, wieder ausbrach. Es war fürchterlich. Nach Beendigung dieser Frivolitäten legten sich alle auf die Decken und schliefen — schwer betrunken — ein.“ Auch Bärbl begann zu schlafen. Als sie wieder wach wurde, kamen „fürchterliche Weiber“ in den Raum, „die mit Hostien in den Händen schimpften und fluchten; eines von ihnen war besessen; es warf die Hostien auf den Boden und trat darauf“. Andere Personen hörte Bärbl „miteinander handeln und Geldgeschäfte machen“. Erst jetzt, am Karsamstag, wurde die bisher Nackte „von neu hinzukommenden Männern und Frauen“ wieder bekleidet. Auch diese Leute fütterten einen „Hund mit Hostien“. Dann tauchten sie eine Hostie in Gift und befahlen Bärbl, sie zu sich zu nehmen. Sie tat es, ohne daß sie Schaden erlitt. Daß es sich um Gift handelte, bewiesen die üblen Gestalten, indem sie ein wenig von dem Mittel einer Katze einflößten, „worauf sich diese zusammenkrampfte und tot umfiel“. Als die Leute bei dem Mädchen keine Wirkung des Giftes bemerkten, entfernten sie sich bis auf einen Mann, der zu ihr sprach: „Ich spüle dir sofort den Magen aus. Atme einmal tief und achte darauf, ob du wirklich nichts spürst!“ Dieser Mann bot sich schließlich an, die Entführte wieder nach Hause zurückzubringen; er forderte sie auf, Gott zu bitten, daß dies gelinge. Zugleich legte er ihr aber strengstes Stillschweigen auf, andernfalls würde sie 24 Stunden später nicht mehr leben. Der Unbekannte brachte schließlich Bärbl in die Kapelle von Marienfried. Dort schlief sie, bis die Osterglocken von Pfaffenhofen zu läuten begannen.

Wider das ausdrückliche Verbot plauderte Bärbl über das Geschehene, lebte aber trotzdem ungefährdet weiter. Bei den polizeilichen Ermittlungen weigerte sie sich, nähere Angaben zu machen. Schließlich schaltete sich die Staatsanwaltschaft in Memmingen ein, die den „Tatbestand eines gemeinschaftlich begangenen Vergehens, der Vortäuschung einer strafbaren Handlung“, erfüllt sah, so daß eine entsprechende Anklage gegen Pfarrer Martin Humpf und Fräulein Bärbl erhoben wurde. Aber dann wurde die Anklage wieder zurückgezogen und das Verfahren eingestellt344. Daß auf eine weitere Strafverfolgung verzichtet wurde, geschah offenbar im Hinblick auf den psychischen Zustand, in dem sich Bärbl damals befand. Der Schlußsatz des Polizeiberichtes vom 23. August 1948 lautet: „Es hat den Anschein, daß die Entführung nur inszeniert wurde, weil sich bei Fräulein B. in diesem Jahr am Karfreitag keine Stigmatisierungserscheinungen zeigten.“345

Was das Mädchen erzählt hat, war offensichtlich ein reines Phantasieprodukt. Diese „Entführungs“geschichte allein schon erklärt Ursprung und Wert aller „Erscheinungen“ und „Botschaften“ von Marienfried zur Genüge. Was versteht jemand unter „klassischer Theologie“, wenn er glaubt, er finde sie in Märchen?

In den Veröffentlichungen über Marienerscheinungen und Botschaften der Muttergottes wird gerne betont, es sei darin nichts enthalten, was der Glaubens- und Sittenlehre oder der „allgemeinen Offenbarung“ widerspreche. Folgt daraus, daß die Erscheinungen und Botschaften echt seien, daß es sich um wahre und übernatürliche Begebenheiten handelt? Das ist doch ein Trugschluß. Es ist ja kein Kunststück, solche „Botschaften“ zu ersinnen und zu verbreiten, die nicht der allgemeinen Offenbarung widersprechen. Dies hat doch beispielsweise auch der „vierte Seher von Fatima“ fertiggebracht; das hat auch jene Schwester Stella gekonnt, deren Pseudo-Offenbarungen übelster Sorte viele Jahre mit kirchlicher Gutheißung verbreitet wurden. Sogar ein Schwindler Leo Taxil war fähig, seine Teufelsgeschichten und anderen Unsinn mit Zustimmung vieler hoher kirchlicher Persönlichkeiten unter das Volk zu bringen. Unter all den „Gläubigen“ hat keiner etwas entdeckt, was der allgemeinen Offenbarung widersprach.

Am 25. Juli 1976 hat der Regensburger Bischof Dr. Rudolf Graber den Ausspruch der „Muttergottes von Marienfried“ zitiert: „Die Welt wurde Meinem Unbefleckten Herzen geweiht, aber die Weihe ist vielen zur furchtbaren Verantwortung geworden. Ich verlange, daß die Welt die Weihe lebt.“ Dann fährt der Bischof fort: „Wegen dieses einzigen Wortes möchte ich Marienfried für echt halten, weil es endlich einmal den Finger auf das Entscheidende legt.“346 Solche „entscheidende“ Sätze, wie sie Bärbl aus Schriften über Fatima entlehnt hat, lassen sich bei der erwähnten Schwester Stella oder beim „vierten Seher von Fatima“ in großer Zahl finden. Die Schlußfolgerung des Bischofs ist auch aus einem anderen Grunde ein Trugschluß. Gerade für die Weihe der Welt an das Unbefleckte Herz Mariens wurde doch angeblich die Bekehrung Rußlands und die Erlangung des Weltfriedens versprochen. Siebenunddreißig Jahre sind seit der Weltweihe verflossen; die Verheißung hat sich nicht erfüllt. Hier kann man sagen: Es hat sich Entscheidendes nicht erfüllt; wenn wir warten müssen, bis die ganze Welt die Weihe lebt, dann wird niemand das Versprochene erleben. Man könnte in diesem Zusammenhang auch noch auf einen anderen Ausspruch der „Muttergottes von Marienfried“ hinweisen, der da lautet: „Dort, wo das meiste Vertrauen ist und wo (man) die Menschen lehrt, daß ich (bei Gott) alles (erreichen) kann, werde ich den Frieden verbreiten. Dann, wenn alle Menschen an meine (mir von Gott ( übertragene) Macht glauben, wird Friede sein.“347 Wenn dies Worte der Muttergottes sind, dann hat sie nichts anderes ausgesagt, als daß auf Erden der Friede niemals das Geschenk für alle Menschen sein wird. Diese Erkenntnis besitzt aber sowieso jeder denkende Mensch, auch ohne eine himmlische Botschaft.

Von Anfang an wurden, wie in Parallelfällen, offensichtlich die Behauptungen der Seherkinder von Fatima mit allzu großer Leichtgläubigkeit hingenommen. In jedem Fall, in dem von wunderbaren Erscheinungen und Botschaften die Rede ist, ist Skepsis am Platze. Sie ist erst recht notwendig hinsichtlich dessen, was Schwester Lucia in ihren Niederschriften ausgesagt hat. Die in dem Text befindlichen Widersprüche und Irrtümer sind doch nicht zu übersehen; vor allem haben sich die verkündeten Prophezeiungen ganz von selbst als unwahr erwiesen. Daraus müßten doch Schlußfolgerungen gezogen werden, auch im Hinblick auf die Ereignisse der früheren Jahre, namentlich des Jahres 1917. Es ist ein hartes Wort, wenn jenen, die „ohne Kenntnis der mystischen Theologie und der historischen Methodenlehre süffisante Artikel schreiben“, Verantwortungslosigkeit vorgeworfen wird. Aber wenn schon, trifft nicht dann um so mehr der Vorwurf jene, die eine hemmungslose Wundersucht fördern, obwohl es ihre Berufsaufgabe wäre, sie zu bekämpfen? Man braucht sich ja nur die einfache Frage ernstlich zu Überlegen: Wodurch entsteht für die Religion mehr Schaden?

Im Jahre 1974 nahm Bischof Venancio Pereira von Fatima an einer Sternwallfahrt im bereits bekannten Marienfried teil. Schon im darauffolgenden Jahr beteiligte sich der Bischof von Fatima wiederum an einer Sternwallfahrt in Marienfried. Im Jahre 1976 folgte die Wallfahrt unter Teilnahme des Regensburger Bischofs348. Allein schon die Teilnahme der Bischöfe ist ein öffentliches Bekenntnis zu den angeblichen Erscheinungen und Botschaften von Marienfried. Erst recht gilt dies von den Worten, die sie an die versammelte Menge richteten. Mit dem Besuch von Bischöfen hat Marienfried offensichtlich eine be- deutende Aufwertung erfahren. Ähnlich war es ja auch im Fall Konnersreuth. Bereits zu Lebzeiten der Therese Neumann haben viele Dutzende von Bischöfen Konnersreuth besucht349. Nach dem Tod der Stigmatisierten erschien eines Tages in Konnersreuth „ein Bus mit 28 Missionsbischöfen, Oberhirten aus Südamerika, Afrika und Asien“; der Zweck der Fahrt war ein Besuch am Grab der Therese Neumann. Einige Jahre später waren dreizehn katholische Würdenträger, unter ihnen sieben Bischöfe, Gäste in Konnersreuth; auch der Päpstliche Nuntius in Deutschland hat das Grab der Stigmatisierten aufgesucht. Als das Konnersreuther Anbetungskloster „Theresianum“ eingeweiht wurde; waren sieben Bischöfe anwesend350. Was damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, ist klar: Es sollte demonstriert werden, daß es sich bei den „Konnersreuther Phänomenen“ um echte Wunder handelt und daß Therese Neumann als Vorbild eines heiligmäßigen Lebens zu gelten habe. Dabei kann in diesem Fall von Wundern nur der sprechen, den Wundersucht geistig blind gemacht hat; und was als Vorbild der Heiligkeit ausgegeben wird, ist nichts anderes als religiöser Kitsch und Zerrbild der Heiligkeit.

Dem vom Verfasser dieser Schrift im Jahre 1972 veröffentlichten Buch über die stigmatisierte Therese Neumann von Konnersreuth wurde der Titel „Konnersreuth als Testfall“ gegeben. Genausogut kann man Leben und Wirken anderer stigmatisierter „Mystiker“, wie Anna Katharina Emmerick oder Pater Pio, als Testfall bezeichnen, und zwar als Testfall für die Beurteilung der ihnen zugeschriebenen mystischen Phänomene, ihres geistigen Habitus und ihrer religiösen Aussagen. Das Testergebnis fällt äußerst negativ aus. Was über die genannten Stigmatisierten gesagt wurde, gilt in gleichem Maße auch für Personen, denen angeblich die Muttergottes oder andere himmlische Gestalten erschienen sein sollen. So kann man auch im Hinblick auf das in der vorliegenden Schrift behandelte Thema mit vollem Recht sagen: Fatima als Testfall. Es wurde wiederholt betont, daß in den besprochenen Fällen nicht bloß der Theologe, sondern auch der Naturwissenschaftler ein gewichtiges Wort zu sprecht hat. Kardinal Ratzinger hat einmal gesagt: „Die Geschichte der Beziehungen zwischen Naturwissenschaften und Theologie ist seit Beginn der Neuzeit fast ständig eine historia calamitatum gewesen, hauptsächlich, weil die Theologie die Grenze ihrer Ausagemöglichkeiten nicht einzusehen vermochte und von dem Versuch nicht lassen konnte, vom Glauben her zu fordern oder zu verbieten.“351 Was Ratzinger festgestellt hat, ist leider nicht bloß Vergangenheit.

In dem erwähnten Buch über Therese Neumann von Konnersreuth lautet der Schlußsatz: „Merkt man denn immer noch nicht, wie leichtfertig durch einen derart verrannten und verblendeten Glauben an eine Pseudomystikerin dem, was Glaube wirklich, das heißt im eigentlichen theoloischen Sinn bedeutet, schwerster Schaden zugefügt wird?“352 Dem ist nichts hinzuzufügen.


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Letzte Änderung: 29. September 2005