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Periexomena

DAS KLEINE JERUSALEM AN DER ÄGÄIS
eine Erinnerung an das jüdische Saloniki

Von Barbara Spengler-Axiopoulou

"Das große Türkenreich, grenzenlos wie die es umspülenden Meere, tat sich weit vor uns auf. Offen stehen vor dir, du Sohn meines Volkes, die Tore der Freiheit: du darfst dich ohne Scham zu deinem Glauben bekennen, du kannst ein neues Leben beginnen, das Joch der dir von den christlichen Völkern aufgezwungenen verkehrten Lehren und Bräuchen abschütteln und zu der uralten Wahrheit deiner Vorfahren zurückfinden".

Der diese begeisterten Worte schrieb, war der einer portugiesischen Converso-Familie entstammende Dichter Samuel Usque. Er war Ende des 15. Jahrhunderts in einer Emigrantenwelle in das Osmanische Reich getragen worden: Den 1492 aus Spanien, bzw. 1497 aus Portugal vertriebenen Juden mußten die ihnen vom Osmanischen Herrscher gewährten Lebensbedingungen unfaßbar günstig erscheinen. Der materiellen Existenzgrundlage beraubt, von Verhören, Folter und Scheiterhaufen bedroht, wurden die vor der Inquisition Geflohenen jetzt zu beruflichen Initiativen ermuntert. Sie genossen die vollständige Religionsfreiheit und in der Verwaltung ihrer Gemeinden eine uneingeschränkte Autonomie. Die größten Zentren im Osmanischen Reich, in denen sich die Sepharden, die spanischen Juden, ansiedelten, waren Istanbul (das ehemalige Konstantinopel), Izmir (das alte Smyrna), Edirne (Adrianopel) und eben Saloniki, die Stadt, von der hier die Rede sein soll.

Die Sepharden nannten sie zärtlich "das kleine Jerusalem an der Ägäis" und "Madre di Israel" (Stadt und Mutter in Israel). Das war ein Ehrentitel, der seit biblischer Zeit den bedeutendsten und aufgrund ihrer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit hervorragenden Gemeinden der Diaspora zukam. Saloniki - das war in der Geschichte des Judentums vielleicht die bedeutsamste Sephardenkommunität überhaupt. Die Zahl ihrer Synagogen und Lehrhäuser, später auch der weltlichen Stätten jüdischer Kultur wie literarische Vereinigungen, Theater und Musikschulen war und blieb einzigartig. Diese religiöse und kulturelle Vielfalt spiegelte die Bedürfnisse einer jüdischen Gemeinschaft wider, die vom späten 15. bis ins frühe 20. Jahrhundert zwar nicht den Hauptanteil, aber doch die Hälfte der Bevölkerung Salonikis ausmachte. Saloniki war eine jüdische, eine "Stadt in Israel", deren Lebensweise und Rhythmus nicht allein von frommen Rabbinern, einer westlich orientierten Bourgeoisie, sondern nicht zuletzt auch von einem jüdischen, selbstbewußten Proletariat bestimmt wurde: den jüdischen Dockern und den Arbeiterinnen in den Tabakmanufakturen, den Lastträgern und Textilarbeitern, die sich in der "Federasyon" ihres Mentors Abraham Benaroya organisiert hatten und die dort neben den türkischen, griechischen und bulgarischen Arbeitern den harten Kern bildeten. Sinnbild ihres Selbstbewußtseins war die Tatsache, daß bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts von Freitag- bis Samstagabend in Saloniki jeder Verkehr zum Erliegen kam, Handel und Wandel ruhten und im Hafen keinerlei Arbeit verrichtet wurde.

Ein Blick auf die Bedingungen jüdischen Lebens in Saloniki ist auch deshalb so faszinierend, weil dieses so alt ist wie die Stadt selbst: nämlich 2.300 Jahre. Im Leben der Stadt waren sie ein wichtiger Faktor, von dem bedeutende wirtschaftliche und intellektuelle Impulse ausgingen. Und sie durchlebten so verschiedene politische Systeme wie die Antike, Byzanz, das Osmanische Reich und schließlich den Anschluß Salonikis an den griechischen Nationalstaat 1912.

Es scheint, daß die stete Anwesenheit und die wachsende Zahl der jüdischen Anwohner Salonikis darauf schließen lassen, daß diese dort keinen namhaften Verfolgungen ausgeliefert waren (Bis 1941).

Deshalb wird uns im folgenden auch die Frage nach dem Verhältnis der nichtjüdischen Bewohner Salonikis zu den Juden der Stadt beschäftigen, der Frage nämlich, ob es dort einen Antisemitismus gab und wie dieser aussah.

Um es vorwegzunehmen, auch wenn das Leben für die Juden Salonikis nicht immer konfliktfrei verlief, so war es der brutale Zugriff der Nationalsozialisten, der diese wichtige Gemeinde für immer auslöschte. Da diese mit ihrer effizienten Taktik die wertvollen Bibliotheken der Gemeinde plünderten und ihre Archive restlos vernichteten, müssen sich Forscher und Interessierte die wenigen Dokumente, die es überhaupt noch gibt, mühsam in aller Welt zusammensuchen. Das Beispiel Salonikis verdeutlicht zudem, daß die Vernichtung der europäischen Juden auch einen irreversiblen Kulturverlust zur Folge hatte: Die reiche Kultur der Sepharden ist für immer untergegangen. Das Judenspanisch der Vorväter spricht heute nur noch die Generation der Überlebenden. Die jungen Leute können die Romanceros, die Lieder, die ihre Vorfahren von der Iberischen Halbinsel mitbrachten, nicht mehr singen.

DIE SEPHARDEN

Wie jüdisches Leben während der Antike in Saloniki ausgesehen hat, wissen wir heute noch nicht. Es kann aber sein, daß die Forschung über das griechische Judentum, die seit den achtziger Jahren stark zugenommen hat, auch darauf bald eine Antwort wird geben können. Ein wichtiges Dokument aus der Antike ist der Thessalonicherbrief des Apostels Paul; Saul von Tarsos versuchte als Apostel Paul in verschiedenen Städten des Mittelmeerraumes, die dortige Bevölkerung zum Christentum zu bekehren. Im Jahr 54 predigte er an drei aufeinanderfolgenden Samstagen in Saloniki in der Etz a Daat und der Etz a Haim Synagoge. Die nächste Information taucht erst wieder im 12. Jahrhundert auf: Benjamin von Tudela, der im Jahr 1168 das Byzantinische Reich bereiste, verdanken wir die Information, daß damals 500 Juden in großer Unterdrückung in der Stadt lebten. Die Juden, die seit der Antike in Griechenland ansässig waren, nannte man Romanioten oder Yavanim. Sie sprachen griechisch. Ihnen schlossen sich später verfolgte Aschkenasen aus deutschen Landen, sowie Juden aus Italien an.

Seine besondere Bedeutung als jüdische Metropole gewann Saloniki jedoch erst, als, wie schon erwähnt, über 20.000 Sepharden in die Stadt einwanderten. 1492 hatten die katholischen Majestäten Ferdinand und Isabella mit dem Edikt von Granada alle Anhänger des mosaischen Glaubens, die sich nicht zwangschristianisieren lassen wollten, von der Iberischen Halbinsel vertrieben. Moshe Capsali, der Oberrabbiner in Istanbul, erhielt noch im selben Jahr von Sultan Bayazid II die Garantie, spanische Juden im Reich anzusiedeln. Noch heute werden in sephardischen Kreisen gern die Worte kolportiert, die der Sultan dem Oberrabbiner gesagt haben soll: "Sie nennen Ferdinand einen weisen König, ihn, der seine Länder beraubt, um meine zu bereichern".

Für das Osmanische Reich mit seiner strengen Arbeitsteilung bedeuteten die Sepharden eine Bereicherung. Es entwickelte sich jedoch nicht wie in Cördoba, Granada, Sevilla oder in Toledo jene einzigartige Symbiose zwischen Juden, Mauren und Katholiken; nicht jenes dynamisch-spannungsvolle Verhältnis miteinander existierender und sich wechselseitig beeinflussender Kulturen und Religionen. Im Osmanischen Reich, das allen religiösen Gemeinschaften Toleranz und Gleichberechtigung gewährte, hielt jede Religion Distanz zu anderen Bekenntnissen. Man siedelte sich um die jeweilige Kultstätte, die Moschee, die Synagoge oder die Kirche an, streng nach Landsmannschaften getrennt. In Saloniki gab es über dreißig verschiedene Synagogen. Wegen ihrer kulturellen Überlegenheit wurden die Sepharden in Saloniki bald die dominierende jüdische Gruppe. Sie, die von einer offenen Weltsicht geprägt und auch weniger religiös waren als die Aschkenasen, begegneten diesen mit herablassender Arroganz. Offen machten sie sich über deren vermeintliche Frömmelei und ihre Korkenzieherlöckchen lustig. Noch im 20. Jahrhundert schrieb der spätere Nobelpreisträger Elias Canetti, der im bulgarischen Rustschuck als Sohn sephardischer Eltern geboren war, in seinen Jugenderinnerungen: "Mit naiver Überheblichkeit sah man auf andere Juden herab, ein Wort, das immer mit Verachtung geladen war, lautete 'Todesco', es bedeutete einen deutschen oder aschkenasischen Juden".

Das sephardische Selbstwertgefühl drückte sich bezeichnenderweise in einer Reihe von Sprichwörtern aus, wie: "Basta mi nombre que es Abravanel", was frei übersetzt soviel bedeutet wie: "Daß ich Abravanel heiße, muß schließlich genügen".

Die Blütezeit des sephardischen Judentums in Saloniki fällt zusammen mit der des Osmanischen Reiches. Sie brachten vor allem auf dem Gebiet der Medizin, des Buchdrucks (1512 gründete Don Judah Gedalia die erste Druckerei der Stadt) und der Waffentechnik ein bahnbrechendes Wissen mit. Sie arbeiteten auch als Handwerker, (noch heute ist in der griechischen Dimotiki das Wort für "Drechsler" ein judenspanisches Lehnwort: Tornadoros) und vor allem als Händler, die mit Rohopium, Getreide, Seidenraupen und Stoffen Handel trieben. Jüdische Kaufleute aus Saloniki unterhielten besondere Beziehungen zum Janitscharenkorps, den Elitetruppen des Sultans in Istanbul. Sie hatten sich nämlich das Privileg gesichert, deren Versorgung zu übernehmen. Eine Stellung, die wie viele andere im Osmanischen Reich erblich wurde. Ein Großteil der Janitscharenuniformen wurde zudem von jüdischen Textilfabrikanten aus Saloniki geliefert. Dank der Fähigkeiten und Kenntnisse der Sepharden gewann die Stadt Bedeutung als internationaler Handelsplatz im vorderen Orient. Christliche Reisende bemerkten in ihren Berichten mit Bitterkeit, daß die Sepharden den Muslimen vor allem auf dem Gebiet der Waffentechnik ihr Wissen weitergaben. 1521 äußerte sich Nicholas de Nicolay höchst besorgt: "Zum größten Schaden der Christenheit machen diese Leute die Türken mit den verschiedenen, die Kriegsrüstung betreffenden Entdeckungen bekannt, mit der Fabrikation von Artilleriegeschossen, Arkebusen, Munition und dergleichen mehr".

Saloniki wurde zum Zentrum der Buchdruckerkunst im Vorderen Orient. Ab dem 17. Jahrhundert verarmte allerdings das Judenspanisch als Schriftsprache, und damit ging auch der Anschluß an die intellektuelle Entwicklung des Westens verloren. Unter der Theokratie der Rabbiner des Ostens konnten sich neue geistige Strömungen - etwa wie des eines Baruch Spinoza in Amsterdam - nicht durchsetzen. Es ist auch bezeichnend, daß sich die beiden größten Dichter sephardischer Abstammung des 20. Jahrhunderts, Elias Canetti und der von der griechischen Insel Kefalonia stammende Albert Cohen, der großen europäischen Literatursprachen, des Deutschen und des Französischen bedient haben.

Die verschiedenen jüdischen Kongregationen in Saloniki verfügten über ein hochentwickeltes Verwaltungssystem und ein tragfähiges Sozialnetz. In Konfliktfällen schlichtete ein überregionaler Rabbinerrat, den sogar Reisende aus europäischen Ländern aufsuchten.

Wie nun die Beziehungen der drei wichtigsten Bevölkerungsgruppen des Osmanischen Reiches, der Muslime, der Juden und der Christen untereinander aussahen, darüber wissen wir heute noch wenig. Waren jüdische Händler in Saloniki die Könige, so herrschte auf der südägäischen Insel Rhodos im 16. und 17. Jahrhundert eine höchst judenfeindliche Stimmung: Nicht selten tarnten sich dort jüdische Silberhändler mit dem weißen Turban der Muslime, um Angriffen zu entgehen. Von Christen und Muslimen wurden die Juden als "Tsifout" bezeichnet, was auf türkisch "Geizhals" bedeutet und auf Vorurteilen den Juden gegenüber im Wirtschaftsleben hinweist. Jüdische Viertel waren (auch und vor allem im griechischen Wortschatz des 20. Jahrhunderts) "Tsifout Mahalades".

Der soziale Abstieg der Juden im Osmanischen Reich verlief parallel mit dem Aufstieg der Christen, (etwa in der Medizin) die zudem noch Protektion in Europa genossen. Das wichtigste Beispiel jüdischer Apathie und eines Versinken in den Mystizismus im 17. Jahrhundert, dem Jahrhundert religiöser Erweckungsbewegungen, ist die Laufbahn des Sabbatai Zwi (1626-1678) und deren Nachwirkungen. Sabbatai Zwi, der aus Izmir stammte, sich dort als Messias feiern ließ und auf der Flucht in allen wichtigen jüdischen Zentren auftauchte, hielt sich auch längere Zeit in Saloniki auf. Zwi stiftete unter den Juden des Osmanischen Reiches eine messianische Bewegung ohnegleichen, die die gesamte Diaspora erfaßte. Er versetzte seine Anhänger in Euphorie und Ekstase und scheiterte tragisch, da er, um sein Leben zu retten, zum Islam übertrat. Die Anhänger Zwis nannten sich Dönme, ein türkisches Wort für Konvertit. Saloniki wurde eines der aktivsten Dönme-Zentren. (Noch heute existiert dort das Jeni Tzami, eine als Moschee getarnte Dönme-Synagoge). Die "Affäre Zwi" war für das Judentum des Orients ein vernichtender Schlag: Die durch sie freigesetzten Energien konnten nicht genutzt werden, sondern brachten als Konsequenz eine beispiellose Stärkung der rabbinischen Macht mit sich. Die Juden hatten keine Kirche, besaßen aber im Rabbinat eine Art geistlicher Autorität ohne das ausgleichende Moment einer Hierarchie mit ihrem Patronat. Auch in Saloniki hatte damit die kommunale Unabhängigkeit ihr Ende gefunden. 1680 wurde die "Jüdische Gemeinde" gegründet, der ein Triumvirat von drei Rabbinern vorstand. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Triumvirat durch das Amt des Oberrabbiners, des Chacham Bashi, ersetzt.

DER WEG IN DIE MODERNE

Im Gegensatz zu "Paläa Ellada", dem Gebiet, das seit dem griechischen Unabhängigkeitskampf 1821 als das Kernland von Griechenland bezeichnet wird, gehören Mazedonien und sein Hinterland weiterhin zum Osmanischen Reich. Durch den Bau der Eisenbahnlinie von Wien nach Istanbul wurde Saloniki ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Europa verbunden. In dieser Zeit durchlebte die Stadt eine Periode rapiden Wandels: Im Zuge der Tanzimat-Reformgesetze leiteten die Türken eine Reihe von Urbanisierungsmaßnahmen ein. Der Hafen wurde modernisiert, ein Kanalisationssystem gelegt, Saloniki erhielt eine Trinkwasserversorgung, Straßenbahnen, Theater, Kinos sowie Gasbeleuchtung in den Straßen. Wenn Saloniki mit seinen Minaretten am Horizont auch weiterhin eine osmanische Stadt blieb, so gewann es doch deutlich modernere Züge.

An der Industrialisierung der Stadt hatten reiche jüdische Familien entscheidenden Anteil: So die Familie Allatini, die über eine Kette von Ziegeleien verfügte, den gesamten Balkan belieferte und außerdem Mehlmühlen und Brauereien besaß. So die Familien Fernandez und Modiano, die die Textilindustrie der Stadt in ihren Händen hielten. Aus einleuchtenden Gründen subventionierten diese Familien auch die Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung der Stadt.

1860 riefen in Paris Charles Netter und ein Kreis französischer Rabbiner die Alliance Israélite Universelle (AIU) ins Leben, mit dem Ziel, der Judenheit im Orient den Geist der Aufklärung und Emanzipation zu vermitteln. 1873 gründete die Alliance in Saloniki ihre erste Schule, in der französisch die Hauptunterrichtssprache war. Berichte der Lehrer an die Zentrale in Paris liefern - soweit sie heute noch erhalten sind - wertvolle Informationen. Der Einfluß der AIU auf die Juden im Osmanischen Reich wird in der Forschung kontrovers diskutiert. So spricht Beatrice Leroy vom "brutalen Einbruch des Westens in die sephardische Welt". Und Professor Chaim Vidal Sephiha, streitbarer Professor für judenspanisch, sieht hier eine Form des französischen Kulturimperialismus, nicht ganz zu Unrecht, denn die Alliance-Schulen trugen weiter zum Untergang der judenspanischen Schriftsprache bei. Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß gerade die verarmten und ungebildeten Juden, die unter ihrem niedrigen Bildungsniveau und ihrem ungeschützten Status litten, von der AIU profitierten. Im beginnenden Zeitalter der Telegrafie und des Pressewesens konnte die Alliance mit ihrem Netz, das den gesamten vorderen Orient und Nordafrika umspannte, jeden Fall von Antisemitismus sofort publik machen. Die Schulen der Alliance waren nach modernen Gesichtspunkten konzipiert und vermittelten auch eine berufliche Orientierung.

Die Revolution der Jungtürken, die 1908 von Saloniki ihren Ausgang nahm, deklarierte für alle ethnischen und religiösen Gruppen des Osmanischen Reiches eine Gleichheitsverfassung, die vom Geist der französischen Revolution inspiriert war. In dieser liberalen Atmosphäre konnten sich auch die Anfänge eines Zionismus in Saloniki entwickeln. Wenn dieser wegen der dortigen Arbeiterbewegung nicht wie in anderen jüdisch bewohnten Städten des Osmanischen Reiches an Boden gewinnen konnte, so gelang es jedenfalls dem aus Rußland stammenden Wladimir Jabotinski bei seinem Besuch in Saloniki 1908, dort Begeisterung für die zionistische Idee hervorzurufen.

Die wichtigste soziale Bewegung, die in Saloniki um diese Zeit entstanden war, aber war die "Sozialistische Arbeiter-Federa tion", die aus der starken jüdischen Arbeiterklasse Salonikis hervorgegangen war. Man muß wissen, daß um 1910 in Saloniki von einer Gesamtbevölkerung von 157.000 Einwohnern 80.000 Juden waren und nur je 35.000 Muslime und Griechen. Die meisten Juden Salonikis zählten ihrem Sozialstatus nach zu den Armen, sie waren Fischer, Hafenarbeiter, Lastträger oder arbeiteten in Tabakmanufakturen. So erklärt sich auch die wichtige und einflußreiche Rolle jüdischer Arbeiter bei der Entstehung der als "Federasyon" bekannt gewordenen Arbeiterbewegung. Zudem war sie die einzige, die in der sephardischen Welt je entstanden ist. Ihr geistiger Kopf und Mentor Abraham Benaroia gehörte später auch zu den Gründungsmitgliedern der KKE, der Kommunistischen Partei Griechenlands. Das Sprachrohr der Federasyon waren zwei Zeitungen, die "Solidaridad Ovradera" und das "Journal de Labrador", die auf spanisch, griechisch, türkisch und bulgarisch erschienen. Viele Besucher Salonikis zeigten sich beeindruckt von den kräftigen, lebensfrohen jüdischen Arbeitern Salonikis, die so gar nicht dem Klischee des niedergedrückten, osteuropäischen Juden entsprachen. So äußerte sich David Ben Gurion, später der erste Regierungschef Israels, voller Begeisterung, als er Saloniki (während seines Studienaufenthaltes in Istanbul) 1911 besuchte: "Ich sah etwas Außergewöhnliches, was ich noch nie sah. Ich sah eine jüdische Stadt, eine jüdische Arbeiterstadt".

Zwischen 1865 und 1940 erschienen in Saloniki über fünfzig jüdische Tageszeitungen aller politischen Couleurs, die vor allem als Forum der neuen Ideen dienten. Wie schon angedeutet, konnten sich die jüdischen Arbeiter anderer osmanischer Städte wie Istanbul und Izmir eher mit dem Zionismus identifizieren als in Saloniki. Wegen der starken Arbeiterbewegung dort wurde der Zionismus in Saloniki die Bewegung der Mittelschicht und der Intellektuellen.

Nahezu beispielhaft war in Saloniki gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine jüdische Gemeinde mit allen sozialen Strömungen vertreten: Es gab eine schmale Aristokratie von Industriellen, Unternehmern und Geschäftsleuten, eine größere Gruppe von Mittelständlern wie Händler und Handwerker, eine wachsende Zahl von Büroangestellten, eine Industriearbeiterschaft in ihren Anfängen und eine gewaltige Anzahl von körperlichen "Schwerstarbeitern" wie Lastträger und Dockarbeiter. Das Vorherrschen der Berufe im Handels- und Dienstleistungssektor spricht allerdings eher für eine orientalische Lebenswelt als für eine vorindustrielle Gesellschaft westlicher Prägung.

Wie in anderen Gemeinden der Diaspora, so waren durch das Engagement der AIU in Saloniki eine Vielzahl von wohltätigen Einrichtungen entstanden: Krankenhäuser, Heime für Waisenkinder, eine psychiatrische Anstalt, sowie Fabriken für Heilmittel. Soziale Einrichtungen verteilten kostenlos Essen, Kleidung und Kohle an Bedürftige. Sponsoren (wie Moshe Allatini) gründeten eine Reihe privater Schulen. Einer der besten Kenner des jüdischen Saloniki des 19. Jahrhunderts, der Straßburger Orientalist Paul Dumont, spricht in diesem Zusammenhang von einem "charitativen Wahn".

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das jüdische Saloniki Anfang des 20. Jahrhunderts ein widersprüchliches Bild bot; innerhalb der Gruppe der orthodoxen Juden bestanden tiefe Konflikte: Vor allem mit den Donmedes (Dönme), die nach außen als Muslime lebten, sich zu Hause aber in das Studium der jüdischen Mystik, der Kabbala, versenkten. Die Clans der zukunftsorientierten Reformer und Industriellen (Allatini und Fernandez) und die der traditionellen Rabbi-nerfamilien (Kovo und Nachmias) intrigierten gegeneinander.

In dieser Epoche sozialen und politischen Wandels warben die beiden ideologischen Einflußgruppen der AIU und des Zionismus um das orientalische Judentum und wirkten dort identitätsbildend. Um die Jahrhundertwende fand in Saloniki die gleiche Entwicklung wie in anderen jüdischen Zentren statt: Nicht mehr allein die Gemeinde war Trägerin des sozialen Lebens, sondern diese wurde durch eine Vielzahl "informeller Netze" ersetzt, die ihrerseits als Propagandaträger genutzt wurden.

SALONIKI WIRD WIEDER GRIECHISCH

Im ersten Balkankrieg 1912 wurde Saloniki, oder wie der offizielle Name eigentlich lautet, "Thessaloniki" von den Griechen zurückerobert. Das Ereignis, das die Griechen verständlicherweise als ihre "Befreiung" feierten, erlebten die Juden Salonikis mit gemischten Gefühlen. Für sie war ein wichtiges Kapitel ihrer Geschichte zu Ende gegangen: Mit der Integration Salonikis in den griechischen Nationalstaat sahen sie sich nicht nur vor ein verändertes politisches System, sondern auch vor den Verlust ihrer alten Privilegien wie ihrer Befreiung vom Militärdienst und ihrer kommunalen Selbstverwaltung gestellt. Auch die jahrhundertealten Kapitulationen, die zwischen dem Osmanischen Reich und den europäischen Großmächten bestanden hatten, galten nun nicht mehr. Durch diese hatten die Juden, die im Laufe der Jahrhunderte eingewandert waren, der Hoheit ihrer Heimatländer unterstanden. Türkische Kaufleute hatten bei jüdischen Händlern Schulden in immenser Höhe hinterlassen, die nun nicht mehr beglichen werden konnten. Der Verlust des mazedonischen Hinterlandes bedeutete eine gewaltige Einschränkung für sie.

Für die Juden Salonikis, die bis zuletzt unbeirrbar am Status Quo festgehalten hatten, war eine Situation der Orientierungslosigkeit eingetreten. Ihre Einordnung in einen Nationalstaat zwang sie, nun verstärkt über ihre eigene nationale Identität nachzudenken. Aus diesem Grunde konnte der Zionismus in Saloniki ab 1912 wesentlich an Boden gewinnen. Einer der leidenschaftlichsten Anhänger der Assimilation und Gegner des Zionismus in Saloniki, der bekannte Historiker Joseph Nechama, schrieb 1913 in einem Brief: "Hebräisch ist zur Zeit modern, und die Zionisten versuchen es mit viel Druck hier an den Schulen der AIU einzuführen. Sie haben dabei viel Erfolg."

Die Vertreter der Jüdischen Gemeinden Griechenlands wurden von König Georg I. von Griechenland zu einer Audienz empfangen, in der er ihnen die gleichen politischen Rechte wie den Christen garantierte. Für die Juden begann damit die Zeit der Integration in den griechischen Staat. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Beziehung der Christen Salonikis zu ihren jüdischen Mitbürgern. Die jüdische Historikerin Rena Molho fragt, wie es denn komme, daß gerade in Saloniki die Zahl der getöteten Juden während der Shoah so hoch sei, wenn doch von griechischer offizieller Seite immer wieder betont werde, daß es bei der Rückgewinnung Salonikis 1912 und danach keinen Antisemitismus gegeben habe? In der Tat ist gerade die Beziehung der Christen zu den Juden Salonikis äußerst kompliziert und bis heute ungern erörtert worden. Genau genommen gibt es diese Diskussion erst seit den achtziger Jahren, und zwar wurde sie eröffnet von dem in Paris lebenden Schriftsteller Elias Petropoulos, der die Griechen mit der ihm eigenen schonungslosen Offenheit mit ihrem Antisemitismus konfrontierte.

Und wirklich, den Juden war selbstverständlich am Vorabend der Rückgewinnung Salonikis durch die griechischen Truppen das lange Register kommerzieller Rivalität und antijüdischer Agitation ihrer Nachbarn wohlbekannt. Diese waren sowohl religiös als auch politisch verwurzelt. Die religiöse Variante entstammt letztlich dem Antijudaismus der griechisch-orthodoxen Kirche. So mußte die heilige Synode Griechenlands mehr als einmal die sogenannte "Judasverbrennung" an Ostern verbieten, ein Ritual das auch heute in Griechenland noch üblich ist und das eine jüdische Verantwortung für den Tod Christi zu suggerieren versucht. Politisch motivierte Vorwürfe griffen auf die "Verschwörungstheorie" zurück, bei denen angeblich Juden die Drahtzieher der Jungtürkenrevolution gewesen sein sollen.

Die Beziehung war also alles andere als einfach, und dazu kam noch, daß eine Reihe von Ereignissen dazu beitrug, daß sich die Lage der Juden ab 1912 dramatisch veränderte. 1917 brach in Saloniki ein verheerender Brand aus, der ganze Gebiete der Stadt und vor allem viele jüdische Viertel in ein flammendes Inferno verwandelte. Ein Gesetz der liberalen Regierung Wenizelos enteignete die Besitzer der betroffenen Grundstücke, von denen 90% Juden waren, um nach diesem Desaster einige längst fällige städtebauliche Maßnahmen durchzuführen. (Parks und breitere Straßen, nach dem Plan von Hébrard.) Diejenigen, die vom Brand betroffen waren, wurden mit einer geringen Entschädigung bedacht und wanderten zu Tausenden in die Vorstädte ab, wo sie unter elenden Bedingungen hausten.

Nach der Niederlage der Griechen im Krieg gegen die Türken 1923, der sogenannten "kleinasiatischen Katastrophe", kam es im selben Jahr zum griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch: 100.000 griechische Flüchtlinge aus Kleinasien wanderten nach Saloniki ein, und im Gegenzug verließen ebenso viele Muslime Nordgriechenland und gingen in die Türkei.

Die "Mikrasiates", die Leute aus Kleinasien, verstanden sich als leidenschaftliche Griechen und waren zudem gewandte Händler. Sie begannen bald, den Juden ihre angestammte Rolle als Könige des Marktes, auf dem man fast nur judenspanisch sprach, streitig zu machen. Hatte sich der Lebensrhythmus in Saloniki jahrhundertelang nach jüdischer Tradition bewegt, da das Wirtschaftsleben dort am Sabbat ruhte, wurde 1924 ein Gesetz erlassen, das den Samstag als Ruhetag abschaffte. Auf dieses Gesetz hatten einflußreiche griechische Händler lange hingearbeitet.

Wegen des ultrakonservativen Wahlverhaltens vieler jüdischer Wähler, die 1915 und 1920 mit Ausnahme der sozialistischen Arbeiter für die königstreue Partei votiert hatten, sah sich Ministerpräsident Eleftherios Wenizelos gezwungen, für die Juden eine eigene Wahlbehörde einzurichten. Damit waren jüdische Wähler in ein politisches Ghetto verbannt worden, um so besser kontrolliert werden zu können.

Rechtsextreme Organisationen riefen 1926 zum Boykott gegen jüdische Geschäftsleute auf. Die bekannteste unter ihnen war die Ethniki Enosi Ellados, bekannt als EEE, die 1931 bereits 7.000 Mitglieder zählte. Ihre Mitglieder waren meist sozial deklassierte Flüchtlinge aus Kleinasien, die ihre antisemitische Gesinnung einte. Wenig später überfiel eine Gruppe der EEE das Cambellviertel, eine Barackensiedlung, die für die Entwurzelten des Brandes von 1917 errichtet war, zündete es an und plünderte es. Dies war und blieb allerdings das einzige Pogrom, das griechische Christen in Saloniki je gegen ihre jüdischen Mitbürger anzettelten. Viele Juden aber zogen die Konsequenzen: Nach dem Cambell-Pogrom wanderten etwa 10.000 von ihnen nach Palästina aus.

Der Cambell-Prozess fand in der nahegelegenen Provinzstadt Veria statt, um neuen Ausschreitungen vorzubeugen. Jüdische Intellektuelle machten die antisemitisch orientierte Zeitung "Makedonia" und ihren Chefredakteur Nikos Fardis, der auch später der nationalsozialistischen Propaganda zu Diensten sein sollte, moralisch für diese Ausschreitungen verantwortlich. Ihre Loyalität zum griechischen Staat sahen sie allerdings dadurch nicht in Zweifel gezogen. "Was auch geschieht, wir bleiben griechische Bürger", erklärte der Rechtsanwalt Asher Mallach emphatisch.

In den Zwischenkriegsjahren waren die gegensätzlichen Interessen der liberalen Partei des Eleftherios Wenizelos und die der Juden Salonikis der Grund für ständige Konflikte. Die meisten Juden mit Ausnahme der Arbeiter und weniger Gemäßigter wollten auf ihren früheren Status nicht verzichten und wählten die monarchistische Partei. Von ihr erhofften sie sich die Garantie ihrer Privilegien.

Ironischerweise erinnerte sich 1936 die faschistische Diktatur des Ioannis Metaxas an die ultrakonservative politische Einstellung der Juden und belohnte diese mit einem Verbot der EEE. Gleichzeitig aber setzte das generelle Versammlungs- und Vereinsverbot unter Metaxas den zahlreichen jüdischen Clubs und Vereinen ein Ende.

So setzte parallel mit der Hellenisierung Salonikis ein Wandel in der Stellung des Judentums ein. Die dramatischen politischen und soziologischen Veränderungen brachten es mit sich, daß ab 1912 mehr und mehr Juden auswanderten. Machte die jüdische Einwohnerzahl Salonikis vor 1912 noch die Hälfte ihrer Einwohner aus, so lebten am Vorabend der nationalsozialistischen Besatzung dort noch um die 50.000 Juden. Das war ein Viertel ihrer Gesamteinwohnerzahl.

Die Erfordernisse des modernen Nationalstaates zwangen die Juden zur Integration (Militärdienst), diese fand ihren Niederschlag z.B. in der patriotischen Gesinnung der Juden während des griechisch-italienischen Krieges 1940-1941, dem sogenannten "Albanischen Epos". Knapp 13.000 jüdische Mitbürger dienten damals in der griechischen Armee.

DER HOLOCAUST

Der italienische Angriff vom 28. Oktober 1940 verwickelte das neutrale Griechenland in den Krieg, und es konnte, wie oben angedeutet, die Invasoren weit hinter die albanische Grenze zurückwerfen: Ein Kampf, der damals die Weltöffentlichkeit begeisterte und den jüdischen Soldaten, die mitgekämft hatten, die ungeteilte Anerkennung ihrer Landsleute einbrachte.

Die griechische Armee kämpfte auch dann tapfer weiter, als die deutsche Wehrmacht dem bedrängten Achsenpartner Italien zu Hilfe eilte: Die Deutschen erreichen Saloniki am 9. April 1941, und Ende April ist das gesamte griechische Festland besetzt. Griechenland war, um es hier kurz anzudeuten, in drei Besatzungszonen eingeteilt: Die strategisch wichtigsten Punkte wie die Hauptstadt Athen, sowie Zentralmazedonien mit Saloniki waren deutsches Gebiet, Epirus, die Ionischen Inseln, Zentral- und Südgriechenland gehörten Italien, Ostmazedonien und Thrazien standen unter bulgarischer Besatzung.

Daß gerade Saloniki, die Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil, den Deutschen zufiel, gehört zur grausamen Ironie der Geschichte. Im Reichssicherheitshauptamt zu Berlin war man bestens über die alte, berühmte Gemeinde zu Saloniki informiert. So konstatierte ein deutscher "Rassenexperte" um 1940 noch befremdet: "Die Juden genießen hier vollkommene Freiheit und führen ein friedliches Leben".

Damit das nicht so blieb, versuchten die Deutschen gezielt, eine antisemitische Stimmung in der Bevölkerung aufzubauen. Sämtliche Publikationen wurden verboten, und die von den Nazis kontrollierten Zeitungen "Nea Evropi" und "Apojewmatini" gegründet. Als Mitarbeiter gewannen sie Journalisten, die sich vorher schon durch ihre antisemitische Gesinnung ausgezeichnet hatten wie Nikos Fardis und die Brüder Orologas. Diese veröffentlichten ganze Hetzserien zur angeblich "staats feindlichen" Gesinnung der Juden. Innerhalb dieses Klimas, unter dem auch die griechischen Bürger ungeheuer litten, da Nazideutschland Griechenland wirtschaftlich völlig ausplünderte, (Zahlung der Besatzungskosten), wurde es nicht schwer, nach und nach antijüdische Maßnahmen durchzusetzen: Salonikis Juden durften keine Restaurants und Cafés mehr betreten, der Besuch öffentlicher Veranstaltungen wurde ihnen verboten. Sie mußten ihre Rundfunkgeräte und Telefone abgeben, und somit war ihnen eine Teilnahme am öffentlichen Leben verwehrt. Die prächtigsten jüdischen Villen wurden beschlagnahmt, eine Villa in der Odos Welissarion wurde das Gestapo- Hauptquartier. Leiter der Geschicke der Juden in Saloniki war der "Oberbefehls haber Saloniki-Ägäis", der Kriegsverwaltungsrat Dr. Max Merten, der in Zusammenarbeit mit den Nazis die Judenverfolgung äußerst wirksam abwickelte; der Einsatzstab Rosenberg plünderte und zerstörte systematisch die uralten Bibliotheken, Archive und Synagogen der Salonikier Gemeinde. Mit anderen Worten, heutigen Forschern steht kaum noch historisches Material zur Verfügung. Daß in den nächsten 15 Monaten eine trügerische "Ruhe" entstand, in der die Juden Salonikis (und Griechenlands) sich in relativer Sicherheit fühlten, lag daran, daß den Nazis an einem gemeinsamen Vorgehen der drei Besatzungspartner gelegen war. Die Italiener hielten sie jedoch mit einer einzigartigen Zermürbungstaktik hin und kämpften um die Rettung jedes einzelnen Juden "italienischer Herkunft". Das italienische Konsulat in Saloniki versorgte hunderte von Juden mit dem italienischen Paß und konnte sie so retten. Dazu taten die Spanier und, in geringerem Maße, auch die Türken das Ihre. Besonders unrühmlich verhielten sich die deutschen Diplomaten: Der deutsche Generalkonsul in Saloniki, Schönberg, war ein wahrer Jäger, der den Nazis viele Juden ans Messer lieferte. Im Vergleich zu ihm war Botschafter Dr. Günther Altenburg in Athen in der Lage, durch seine monatelange Argumentation und Hinhaltetaktik den Nazis zumindest nicht zuzuarbeiten, er war durchaus eine der wenigen erfreulichen deutschen Persönlichkeiten der Besatzungsgeschichte.

Im Juli 1942 wurden 9000 Juden zwischen 18 und 45 Jahren an der Platia Eleftherias (der Platz, von dem die Jungtürken einst die Freiheit proklamiert hatten) unter demütigenden Ritualen zur Zwangsarbeit eingezogen: Die Organisation Todt brauchte Arbeiter für den Straßenbau. Da sie, wie auch die griechischen Zwangsarbeiter, der unerträglichen Arbeit in den malariaverseuchten Sümpfen vor den Toren der Stadt nicht standhalten konnten, kaufte die Gemeinde sie in langwierigen Verhandlungen mit Kriegsverwaltungsrat Max Merten für eine Loslösungssumme von 2,5 Millionen Drachmen frei. Die größte Summe dieses Betrages wurde dabei durch die Abtretung des riesigen jüdischen Friedhofs, der im Zentrum der Stadt lag, an die Deutschen gewährleistet.

Anfang 1943 verlor man in Berlin die Geduld. Am 6. Februar trafen Eichmanns Vertreter Dieter Wisliceny und Alois Brunner vom Sicherheitsdienst in Saloniki ein, um die sogenannte "Endlösung" in die Wege zu leiten. Ende Februar wurden sämtliche Juden in das "Baron-Hirsch- Ghetto" am alten Bahnhof gebracht. Am 15. März 1943 verließ der erste Zug nach Auschwitz die Stadt. Bis Ende Mai 1943 waren alle in 20 Transporten in das oberschlesische Vernichtungslager gebracht worden. Oberrabbiner Zwi Koretz und der Judenrat wurde als letzte in dem sogenannten "Prominententransport" nach Bergen-Belsen deportiert.

Von den 50.000 Juden Salonikis, die nach Auschwitz deportiert worden waren, kehrten nur knapp 2.000 Menschen zurück. Sie hatten es in der verwüsteten Stadt schwer, sich zurechtzufinden, und niemand glaubte ihnen zunächst die Tragödie, die sie in Polen erlitten hatten.

Nach dem Krieg dokumentierten zwei Männer den Leidensweg der Thessalonicher Juden in einem gewichtigen Band, der in weinrotes Leder eingebunden ist, und auf dem in Goldbuchstaben der Titel steht: IN MEMORIAM. Herausgegeben wurde er von der jüdischen Gemeinde Saloniki und als Verfasser zeichnen verantwortlich der Oberrabbiner Michael Molho und der Historiker Joseph Nechama. Dieses mit viel Sorgfalt erarbeitete Buch ist bis heute das wichtigste Werk zur Erforschung des Holocaust in Saloniki geblieben.

Die Hauptschuld am Untergang der Thessalonicher Juden trägt ihrer Meinung nach - und in diesem Urteil sind sie sich mit fast allen Überlebenden der Shoah einig - der damalige Oberrabbiner Zwi Koretz und mit ihm der Judenrat. Judenräte waren von den Nazis in allen besetzten Ländern Europas gebildet worden. Durch die perfide Taktik der Nazis, sich die Judenräte zu willfährigen Helfern zu machen, hatten sie diese zu Agenten ihrer eigenen Vernichtung degradiert. Diese Problematik ist in der innerjüdischen Nachkriegsdiskussion intensiv thematisiert worden, z.B. von Hannah Arendt.

Das harte Urteil über Zwi Koretz, der posthum (er war in Bergen-Belsen gestorben), mit anderen Kollaborateuren von der jüdischen Gemeinde Salonikis dort vor ein internes Gericht gestellt wurde, ist in diesem Kontext zu sehen.

Es ist nämlich nicht zu übersehen, vor welche Schwierigkeiten der erst seit Mitte der dreißiger Jahre zum Oberrabbiner bestellte Aschkenase Zwi Koretz gestellt war; die über vierhundert Jahre alte sephardische Gemeinde Salonikis war in der griechischen Gesellschaft fast zu einem Anachronismus geworden. Waren die Rettungserfolge in anderen Gemeinden weitaus höher (Athen!) so lag dies daran, daß diese weitaus kleiner waren, und vor allem besser griechisch sprachen. Die Gemeinde von Saloniki war jedoch - und es handelte sich ja auch um einen Zeitraum von nur dreißig Jahren - ein Fremdkörper in der modernen griechischen Gesellschaft, ein "kratos en krati" geblieben. Viele Juden hingen noch politischen Idealen der Türkenzeit nach und verschlossen sich der Entwicklung des griechischen Nationalstaates. Die jüdische Führung war gespalten in die Anhänger verschiedener Lager: Assimilierte, Traditionalisten, Zionisten, sowie Anhänger der Jungtürkenrevolution. Koretz, der vom fortschrittlichen Flügel zum Rabbiner berufen worden war, sah seine Position an überaus hohe Erwartungen geknüpft. Seine Vorgänger z.B. hatten nicht griechisch gesprochen und auch bei Verhandlungen mit griechischen Vertretern den Damen nicht die Hand gegeben.

Koretz lernte innerhalb kurzer Zeit judenspanisch und griechisch und wurde ein angesehener Verhandlungspartner der Griechen. Koretz handelte wohl nur, und das muß man ihm und dem Judenrat zugute halten, guten Glaubens, wenn er den Nazis ihre Beteuerungen glaubte und ihnen alle Unterlagen über Namen und Wohnsitz der Thessalonicher Juden aushändigte.

Aus verschiedenen Gründen konnten die Juden Salonikis den Nazis keinen Widerstand leisten: Die Mehrzahl war zu arm um Fluchthelfer bezahlen zu können. Die meisten von ihnen, vor allem die Älteren, sprachen nur gebrochen griechisch, und bei ihrer Flucht hätten sie sich leicht verraten. Die meisten Familien zogen es wegen der engen jüdischen Familienzusammengehörigkeit vor, gemeinsam in den Tod zu gehen, statt getrennt zu flüchten. Auch die räumliche Entfernung zu den Partisanen der EAM/ELAS in Epirus machte eine gemeinsam geplante Abwehr unmöglich.

Jüdische Autoren haben die mangelnde Hilfe der christlichen Bevölkerung häufig kritisiert. (Rachel Dalven, Cecil Roth). Es gab Kreise griechischer Spekulanten, die an der Enteignung des jüdischen Friedhofs beteiligt waren, da sie nur darauf warteten, daß dieser endlich zur Bebauung freigegeben würde.

Letztes Jahr hat die jüdische Gemeinde Salonikis ein schmales Bändchen veröffentlicht, das die Namen der Christen nennt, die Juden versteckt oder geholfen haben. Man schätzt heute, daß in Gesamtgriechenland etwa 10.000 Juden gerettet werden konnten. Die wenigsten von ihnen allerdings waren aus Saloniki. Die größten Rettungserfolge gehen unbestreitbar auf das Konto des griechischen Widerstands, die hunderte von Juden in die unwirtliche griechische Bergwelt lotsen konnten. (Rabbi Elia Barzilai aus Athen). Nicht vergessen werden darf auch das Memorandum des Athener Erzbischofs Damaskinos an Ministerpräsident Logothetopoulos, der sich in diesem Schreiben für die Rettung der Juden von Saloniki eingesetzt hatte. Dieses Schreiben war von 60 namhaften Athener Persönlichkeiten unterzeichnet worden, leider ohne Wirkung. Dennoch sucht diese Initiative von Damaskinos, so meine ich, im besetzten Europa innerhalb der Kirchen ihresgleichen.

In Athen aber gelang es Damaskinos, viele der dortigen Juden im Eiltempo umzutaufen, und der Athener Polizeipräsident Ewangelos Ewert versorgte sie mit gefälschten Personalausweisen.

Wenn der Historiker Philip Friedman noch 1953 schrieb, daß die Zahl der Veröffentlichungen über die griechischen Juden während des Zweiten Weltkrieges vergleichsweise wenige seien, so trifft diese Feststellung heute nicht mehr zu.

Seit den achtziger Jahren sind auch das Schicksal der Juden Griechenlands und ihre Geschichte verstärkt zum Forschungsgegenstand geworden.

DIE JÜDISCHE GEMEINDE HEUTE

Heute, fünfzig Jahre nach Kriegsende, kann man in Saloniki kaum noch Spuren des einst so berühmten "Kleinen Jerusalem an der Ägäis" entdecken. Die Jüdische Gemeinde zählt noch knapp über tausend Mitglieder. Die Hälfte derer, die aus Auschwitz zurückgekehrt waren, wanderten damals nach Israel aus. Diejenigen, die sich dazu entschlossen hatten, in Griechenland zu bleiben, erwartete ein hartes Schicksal: Nach dem Krieg gegen Italien und nach Auschwitz mußten sie jahrelang im griechischen Bürgerkrieg kämpfen. Wer bei den Partisanen der EAM/ELAS in den Bergen gekämpft hatte, wurde nach dem Ende des Bürgerkrieges von der rechten Regierung als "linker Verräter" ins Gefängnis gesperrt. Léon Ben Major, heute Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Salonikis, kommentiert dazu: "So verbrachte ich die 'besten' Jahre meines Lebens"!

Die Wiedergutmachungsverfahren an den griechischen Juden sind bis heute nicht abgeschlossen. Bis heute prozessieren die Betroffenen mit der Bundesregierung um ihren verlorenen Besitz. Viele haben - zermürbt von den langen Verhandlungen mit der Bonner Bürokratie einem Vergleich nach dem Bundesrückerstattungsgesetz zugestimmt.

"Die Deutschen verlangten von uns Nachweise. Die Entschädigung war wirklich ein Witz. Als die Nazis unser Geschäft beschlagnahmt haben, haben sie uns doch keine Quittung darüber gegeben", empört sich der Buchhändler Salomon Molho, heute wieder der Besitzer einer der renommiertesten Verlagsbuchhandlungen Griechenlands.

Die Gemeinde unterhält heute zwei Synagogen, ein Altersheim, ein Gemeindezentrum mit einem regen kulturellen Leben und im Sommer organisiert sie Zeltlager für Kinder und Jugendliche.

Die Gemeinde befindet sich heute in einem unauffälligen Bürohaus in der Tsimiski- Straße. An der Platia Eleftherias, von dem aus die Juden an jenem heißen Julitag unter dem Hohngelächter der Nazis zur Zwangsarbeit eingezogen wurden, erinnert keine Gedenktafel an die Greuel vor fünfzig Jahren. Auch auf dem Gelände der Aristoteles-Universität, wo sich früher der jüdische Friedhof ausdehnte, erinnert nirgendwo ein Mahnmal an den infernalischen Zerstörungsakt der Deutschen.

Einzig im Stadtteil Charilaou gibt es einen Platz für die "Opfer des Holocaust", allerdings ist der Name des Platzes mit Graffiti übersprüht - von jungen Randalierern oder Antisemiten - wer will das so genau wissen?

Ansonsten deutet im Stadtbild Salonikis nichts darauf hin, daß hier Juden leben. Es scheint so, als sei man froh, in Ruhe gelassen zu werden. Die Ethnologin Beate Lewkowicz untersuchte 1990 das Selbstverständnis einer Gruppe junger Thessalonicher Juden, sowie deren Verhältnis zu Griechenland. Die jungen Leute definierten ihr Jüdischsein nicht religiös, sondern sozial: Als Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe und deren Aktivitäten. Die auch von Lewkowicz beobachtete Haltung, nicht öffentlich bekannt zu machen, daß man Jude ist, nennt diese "das Konzept des privaten Judentums". Diese Haltung ist ihrer Meinung nach eine Folge des spezifischen Verhältnisses zwischen "Griechischsein" und "Jüdischsein". Durch das Konzept des privaten Judentums sei es möglich, so Lewkowicz, das starke griechische Nationalgefühl und die jüdische Gruppenzusammengehörigkeit miteinander zu verbinden. In einer so stark nationalistischen Gesellschaft christlich- orthodoxer Prägung wie der griechischen scheint für eine religiöse Minderheit wie in unserem Falle das Festhalten am Judentum nur um den Preis der Aufgabe der religiösen und nationalen jüdischen Identität möglich zu sein. Israel, das Land, in dem sie studiert hatten, ist für die jungen Juden aus Saloniki ein hoch entwickelter Industriestaat und eine auf Effizienz gedrillte Leistungsgesellschaft. In Griechenland aber, so ihr Urteil, könne man halt besser leben und verbringe seine Freizeit "angenehm". Der Schriftsteller und Dichter Alberto Nar bemerkt, daß das Festhalten an den Sitten der Vorväter, die Heilighaltung des Sabbat und die strenge Einhaltung der Speisegesetze über Jahrhunderte hinweg die Voraussetzung und das Fundament für die Identität der Juden Salonikis gewesen seien.

Angesichts des dramatischen Verfalls der religiösen Identität der Jugend und der Tatsache, daß sie sich als Griechen fühlen, fragt man sich, ob die Gemeinde ihre kulturelle und religiöse Identität wird bewahren können. Überlebende der Holocaust-Generation äußern sich hierzu skeptisch, da die Mischehen innerhalb der Gemeinde zugenommen haben. In Israel leben heute ungefähr 25.000 Nachfahren der Juden von Saloniki. In Tel Aviv gibt es einen aktiven Verein, der das kulturelle Erbe pflegt und an der Universität von Tel Aviv wurde vor einigen Jahren ein Lehrstuhl zur 'Erforschung der Juden von Saloniki' eingerichtet.

Bis heute hat die Stadt Saloniki allerdings kein Denkmal für ihre ermordeten jüdischen Mitbürger gestiftet. Am 26. und 27. Januar 1995 nahmen die Regierungen vieler Nationen an den Gedenkfeiern in Auschwitz teil. Die griechische Regierung war abwesend. Sie begründete ihre Absage damit, daß Polen der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (FYROM) erlaubt habe, seine umstrittene Fahne mit der Sonne von Vergina, dem Emblem der mazedonischen Könige, zu hissen.

Dennoch gibt es einfühlsame griechische Mitbürger, die sich kürzlich in einem Zeitungsaufruf dafür einsetzten, daß in Saloniki ein jüdisches Museum gegründet wird, um dem "kleinen Jerusalem an der Ägäis" ein ehrendes Andenken zu bewahren. Viele von ihnen erinnern sich noch an jene Märztage 1943, so wie der Dichter Dinos Christianopoulos "als wir am Bürgersteig der Egnatia standen und mit zusammengeschnürtem Herzen beobachteten, wie die Juden gingen. Es war ein entkräfteter Zug aus Männern, Frauen, Kindern und Greisen, die sich dahinschleppten und in der Hand ein Bündel trugen. Ab und zu sahen wir ein bekanntes Gesicht und winkten heimlich. Der Zug aber wollte und wollte kein Ende nehmen".

Periexomena - Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Periexomena

DAS KLEINE JERUSALEM AN DER ÄGÄIS
eine Erinnerung an das jüdische Saloniki

Von Barbara Spengler-Axiopoulou

H mikrn Ierousalnm sto Aigaio
Qumnsn tns ebraikns Qessalovikns

tns Barbara Spengler-Axiopoulou, peril. apodosn sta ellnvika

DER BRIEFTRAEGER IST GESTORBEN
Manos Hatzidakis (1925-1994)

Tou Kwvstavtivou Mariolakou

H BOYBH KRAYGH GIA TO NEKRO EXQRO
Qavasn Giapitzakn, Sto Germaviko Nekrotafeio tou Maleme

Tns Olgas Dasiou

AUF DEM DEUTSCHEN FRIEDHOF BEI MALEME
Von Thanassis Japitjakis

ELLHNIKH E3WTERIKH POLITIKH
ENA SHMANTIKO BHMA GIA TO MELLON

tou Gevikou Pro3evou tns Ellados sto Avvobero k. Hlia Fwtopoulou

Griechenland: Flüchtlinge bevorzugen den "Status" der Illegalität
von Claudia Tunsch

EMEIS KAI TA NARKWTIKA
mia suvtomn avafora stov OKANA (Orgavismos kata twv varkwtikwv)

Tou Q. Mpirmpiln

Odngies kai prostateutika metra gia tov kauswva
tou Q. Mpirmpiln

Sav bgeis stov pngaimo gia tnv I8akn
mia peringnsn sto ellnvofwvo Diadiktuo

tou Markou Giavvarn

GNWMES
Poso "avikavn" eivai n ellnvikn Diplwmatia;

Tou Kwvstavtivou Mariolakou

AQLHTISMOS
Mia suvtomn istorikn avaskopnsn

Tou Iakwbou Karakidn

 

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